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"Münchner Geschichten" Neues aus dem "Land des Lehels"

Vor vier Jahrzehnten drehte Helmut Dietl im Lehel seine legendären "Münchner Geschichten" - Szenen aus dem Leben eines Münchner Viertels. Wir haben die Schauplätze nochmal besucht - und kaum wiedererkannt.

Von: Michael Kubitza

Stand: 06.08.2014 | Archiv

Der Hausbesitzer Fischhuber (Gustl Bayrhammer, links) hat unfeine Methoden, seine frei werdenden Wohnungen zu vermieten: so viele Türken, wie gesetzlich erlaubt, soll sein Mittelsmann Beisal (Aslanhan Ibrahim) in die Wohnung pferchen. | Bild: BR/Intertel Television GmbH

Abreißen will er. Das Haus von Oma Häusler. Nämlich ihr Vermieter, der Herr Fischhuber (im Bild links). "Die Garmischer Bauernsau, die g'scherte", schimpft ihr Enkel Tscharlie. Den Bauplatz will Fischhuber an eine englische Finanzierungsgesellschaft verkaufen, die einem arabischen Ölscheich gehört.

Immerhin: Eine Art Abwrackprämie soll es geben, aber wenn die Mieter nicht rauswollen, "dann kann ich anders auch, und zwar ganz anders!" (Fischhuber) Und wohin mit den Bewohnern? Die Oma soll ins Altersheim. Und der Tscharlie kennt selbst einen Immobilienmenschen: Der Pickl Peter könnte ihm in Schwabing ein Appartment vermieten - die ausländischen Mieter, die ohne Aufenthaltsgenehmigung dort wohnen, müssten dann natürlich auch raus.

Fein beobachtet: Dietls Regie lässt Gustl Bayrhammer zwischen Gemüts- und Machtmensch oszillieren. Szene mit Therese Giehse und Günther Maria Halmer

"Da brechen wir durch! Da räumen wir auf!"

Abriss, Entmietung, Verdrängung, Gentrifizierung: Die "Münchner Geschichten", die Helmut Dietl schrieb, schreibt weniger charmant auch das Leben. Vieles aus der 40 Jahre alten Serie ist bis heute aktuell. Und war schon damals nicht neu. Abgerissen wurde auch vor 150 Jahren schon - wie dieser vom naturalistischen Autor Michael Georg Conrad erdachte Monolog Ludwigs II. vorführt:

"In der allernächsten Nähe der Residenz steht das vorsintflutliche Gerümpel und Winkelwerk der Sankt Annavorstadt vom Lehel. Da brechen wir durch! Da räumen wir auf! Da machen wir uns Luft bis an die Isar und darüber hinaus!"

Michael Georg Conrad, 'Majestät' (Roman, 1902)

Vorsintflutliche Anfänge im Auwald

Fischer, Waschweiber und Holzfäller waren die ersten Bewohner des Lehels - einem von Bächen durchzogenen Auwaldgebiet. Ihnen folgten Tagelöhner ohne Bürgerrecht, die in der Stadt arbeiten, aber nicht wohnen durften. 1724 wurde das Lehel als erste der Münchner Vorstädte eingemeindet - und entwickelte sich rund um die 13 Jahre später erbaute Vorläuferin der heutigen St. Anna-Kirche zu einem Stadtviertel mit eigenem Charakter.

Fortschritt und Frust im Land des Lehels

Es folgten knapp drei Jahrhunderte des steten Widerspiels von Aufwertung und Beharrung. Das Aufblühen des Umlands, in dem sich vier Wittelsbacher architektonisch verewigten, nahmen die Vorstadt-Parias staunend zur Kenntnis, die Zähmung der Isar und hygienische Verbesserungen dankend an. Die damit verbundene Teuerung konnten sie nur hinnehmen. Den Versuch, ihr verrufenes Viertel als "St. Anna Vorstadt" neu erstehen zu lassen, ließen die Lehelianer kalt lächelnd abtropfen. Egal, ob der alte Name nun von Lehen oder Lohe (Auwald) kommt: Das kehlig ausgesprochene "Lächl" passte besser zur Gegend.

Elend und Idyll: Herbergshäusl in der Sternstraße vor 1900.

Der Gesamteindruck blieb uneinheitlich. Während der schon zitierte Autor Conrad das Lehel noch Ende des 19. Jahrhunderts die "verwahrlosteste Vorstadt von München" nennt, urteilt Josef Ruederer in einem historischen Roman über das München vor 1848 vorteilhafter:

"Das bescheidene Lehel konnte zwar nicht als Paradies gelten, doch lag es [im Vergleich zur Au] viel luftiger, freier, mit seinen Sägmühlen und besser gepflegten Häusern. Alte Bäume überschatteten so manches ansehnliche Gebäude, auch kündete sich die Nähe des königlichen Quartiers durch den weit gedehnten Hofküchengarten an (...)"

Josef Ruederer, Das Erwachen (Romanfragment, 1916).

Galerie: Metamorphosen eines Viertels

Ois anders. Und ein anthrazitfarbener Kubus

Um 1900 hat sich das Lehel rausgeputzt. Nach 1970 nochmal. "Ois is anders" (Tscharlie Häusler). Schön ist es geworden, besonders rund um den Annaplatz, wo Oma Häusler wohnte. 17 Museen gibt es im 20.000-Einwohner-Bezirk, mehr als im "Museumsquartier" Maxvorstadt. Die Straßen heißen Paradiesstraße, Rosenbuschstraße oder Tivoli, und die Frage der sommerlichen Abendgestaltung entscheidet sich danach, ob Bier im Kühlschrank liegt oder nicht: Dann geht man runter zur Isar oder rauf zum Chinaturm. Und am nächsten Tag?

"... spaziert man nach einem Besuch im Haus der Kunst durch die St.-Anna-Straße zum Gourmet-Restaurant Gandl. Oder man kehrt auf einen Latte Macchiato in eins der zahlreichen Cafés ein, nachdem man die Kinder in die Schule gebracht hat."

Aus der Lagebeschreibung für ein Neubauprojekt

Wer in solch "historischer Traumlage" wohnt, ist alteingesessen, hat Glück gehabt und/oder Geld. Wenn noch wer wohnt. Längst residieren in vielen der herrschaftlichen Jugendstildomizile Anwälte, Finanzberater, Agenturen.

"Alles fließt. Aber es gibt auch noch bleibende Werte", erläutert die oben zitierte Broschüre. "Nichts geht mehr" schreibt der Immobilien-Kompass von Capital über das Viertel. Ein Makler leitet Web-Suchanfragen zum Lehel direkt zu Angeboten in Haselbach und Niederwinkling um. Wo doch noch was geht, sind für knappe 150 Quadratmeter Erdgeschoss 2,2 Millionen Euro fällig; ein "anthrazitfarbener Funktionskubus mit Gäste-WC, Garderobe, Hauswirtschaftsraum, Stauräumen und integriertem flächenbündigen Soundsystem" ist inklusive. Zumindest das Talent der Makler zur poetischen Nachverdichtung hat sich seit 1974 nicht verändert.

Betongoldpoesie: Makler Peter Pickl (Kurt Raab) bei der nietzsche-artigen Ausdeutung der Münchner Wohnwelt


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