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Filmtipp: "HAYMATLOZ" Als Deutsche heimatlos wurden

Kurz nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland wurden politisch unliebsame Akademikerinnen und Akademiker per Gesetz von ihren Universitätsposten enthoben und aus ihrer deutschen Heimat vertrieben. Viele flüchteten in die ihnen völlig unbekannte Türkei, wo sie der Einladung Kemal Atatürks folgten und das Hochschulwesen der Türkei mit aufbauten und das Land prägten. Die Kölner Regisseurin Eren Önsöz ist auf Spurensuche gegangen und hat nun einen spannenden Kino-Dokumentarfilm über diese unsere deutsch-türkische Geschichte gemacht: "Haymatloz".

Stand: 07.10.2016

"Haymatloz" | Bild: HUPE Film

Die 30er-Jahre. Kemal Atatürk will für seine Türkei die Moderne. Säkularisierung. Demokratie. Der Blick - gen Westen.  Zur gleichen Zeit brechen sich in Deutschland die Nazis Bahn und zwingen unerwünschte Wissenschaftler, Gelehrte und Künstler in die Flucht. Die Türkei empfängt sie mit offenen Armen. Regisseurin Eren Önsöz hat fünf Familiengeschichten gefunden und lässt sich und uns von ihren Protagonisten Susan Ferenz-Schwartz, Kurt Heilbronn, Engin Bagda, Enver Hirsch und Elisabeth Weber-Belling auf eine Reise in deren Vergangenheit und Gegenwart mitnehmen.

"Wir wären auch in Auschwitz. Das war unsere Alternative. Es gehört schon zu unserem Schicksal, dass wir 'Nomans-People', dass wir nirgends zu Hause sind. Das ist Schicksal. Das ist Kismet!"

Susan Ferenz-Schwartz

Was machte die Flucht mit diesen Familien? Wie verliefen ihre Leben zwischen Orient und Okzident? Das wollte die Filmemacherin Eren Önsöz wissen.

"Ich habe sie erst auch in Deutschland kennengelernt und bin aber mit ihnen in die Türkei gereist und war auch total fasziniert, wie türkisch sie dann da waren, wie sie gestikuliert haben und sich so wohlgefühlt haben ... Frau Weber-Belling, die Tochter des Bildhauers, hat mich exzellent türkisch bekocht beim ersten Besuch, dann hat sie mir einen türkischen Mokka gekocht und aus dem Kaffeesatz gelesen. Das sind natürlich wunderschöne Erlebnisse!"

Eren Önsöz, Regisseurin

Wurzeln - sowohl hier als auch dort

"Haymatloz";  Elisabeth Weber-Belling | Bild: BR

"Dass ich eine Emigrantin bin, habe ich, glaube ich, erst ab meinem 60. Lebensjahr gelernt. Ich heiße Elisabeth Weber-Belling, ich lebe in Krailling bei München, geboren wurde ich im Orient. Die ersten 20 Jahre meines Lebens habe ich in Istanbul verbracht. Ich verwalte heute den künstlerischen Nachlass meines Vaters (Anm: Bildhauer Rudolf Belling, 1886-1972). Er war 'entarteter Künstler' und bekam keine öffentlichen Aufträge mehr ab 1933. Die ganze Jugend, die ganze Kindheit da zu verbringen, das ist ja eine lange Wurzel, die ich da hinter mir herziehe."

Elisabeth Weber-Belling

Die Regisseurin Eren Önsöz ist in Köln verwurzelt. Sie kam im Kindesalter als Tochter türkischer Akademiker nach Deutschland. In ihrem Film "Haymatloz" nähert sie sich auch mit einem persönlichen Blick an ihre Protagonisten.

"Ich fand zum Beispiel die Parallelen zwischen meinen Protagonisten und mir sehr spannend. Wir reden alle fließend deutsch aber wir reden auch alle fließend türkisch. Also meine Protagonisten bis auf einen sprechen exzellentes wunderbares Türkisch und solche Deutsche hatte ich noch nie kennengelernt."

Eren Önsöz

Am Anfang: der Verlust

Die Eltern dieser Deutschen haben viele Spuren hinterlassen - in Architektur oder Wissenschaften. Noch heute wirken etwa im türkischen Urheberrecht Gesetzesentwürfe des Juraprofessors Ernst Eduard Hirsch. Trotz dieser Chancen, die Atatürk den Exilanten gab - am Anfang stand ein Verlust. Der Film "Haymatloz" dokumentiert ein fast vergessenes Kapitel Zeitgeschichte. Und er porträtiert Familien, für die der Verlust und der Gewinn von Heimatgefühl kein Widerspruch sind. Auch die Gegenwart findet Platz in Eren Önsöz' Film. Damit sind die politischen Veränderungen in der Türkei gemeint. Und: die globale Krise.

"Schon allein mit dem Titel möchte ich darauf hinweisen, wie aktuell diese Thematik ist. Wir haben weltweit gerade über 60 Millionen heimatlose Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben werden. Ich möchte eigentlich in diesen Zeiten daran erinnern, dass es eben Zeiten gab, in denen Deutsche zu Flüchtlingen gemacht wurden. Wofür ist denn Geschichte da, wenn man nicht aus ihr lernt?"

Eren Önsöz

Kinofilm

"Haymatloz" - Exil in der Türkei - Kinostart: 27.10.2016

Autorin des Filmbeitrags: Michaela Wilhelm-Fischer


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