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Russland Gefängnismusik erobert die Alltagswelt

Das Butirka in Moskau. Diese Bar ist nach einem berüchtigten russischen Untersuchungsgefängnis benannt. Gespielt wir hier nur sogenannter Blatnoi-Chanson, Knastmusik. Lieder über den Haftalltag, Sehnsüchte und Fluchtgedanken.

Von: Christoph Wanner

Stand: 19.04.2015 | Archiv

Der mit Stacheldraht geschützte Zaun eines Gefängnisses | Bild: BR

Die meisten Gäste des Butirka waren selbst einmal hinter Gittern. Die Knastmusik verbindet Ex-Gefangene, ist ein Teil ihres Lebens. In Russland haben hunderttausende Männer gesessen, sagt der populäre Chansonsänger Genadij Scharow:

"Bei uns bist Du vor zwei Sachen nie sicher: Vor Armut und dem Bau. Dabei spielt es oft keine Rolle, ob Du was verbrochen hast oder nicht. In meiner Familie waren viele im Gefängnis. Ich persönlich war zum Glück nie hinter Gittern, habe nur in vielen Vollzugsanstalten Konzerte gegeben."

Genadij Scharow, Bliatniak-Sänger

Michail Orskij

Selbst nie gesessen, aber viel zu tun mit Leuten, die inhaftiert waren. Einer von Scharows engsten Freunden ist Michail Orskij. Chef eines Moskauer Mafiaclans. Orskij war wegen mehrfachen Raubes zehn Jahre interniert. Der Pate ist immer für einen Scherz zu haben. Orskij ist im Schutzgeldgeschäft, kennt keine Kamerascheu, weil er, wie er sagt, gerne kreativ arbeite. Der Pate erzählt über den russischen Strafvollzug:

"Wenn Du Pech hast, kommst Du in ein Lager, in dem die Gefängnisleitung alles unter Kontrolle hat. Da wirst Du drangsaliert, bis Du spurst. Ich weiß sogar von einem Mord an einem Verbrecherboss. Ich war in einem Straflager, in dem es weniger streng zuging. Wir haben gemacht, was wir wollten."

Mischa Orskij, Mafiapate

Die meisten Häftlinge verbüßen ihre Strafe in solchen Lagern: Die Männer leben in Baracken, können sich darin relativ frei bewegen. Die Gefangenen gliedern sich in drei Kasten: Zur Obersten gehören die Bosse, wie Michail Orskij. Die mittlere Kaste besteht aus sogenannten Mushiki, gewöhnlichen Häftlingen. Zur untersten gehören Homosexuelle und Spitzel der Gefängnisverwaltung.

Die weitverbreitete Willkür in vielen russischen Vollzugsanstalten treibt die Gefangenen immer wieder zu Verzweiflungstaten: Dieses Handyvideo zeigt, wie sich Häftlinge die Pulsadern öffnen – Protest gegen die gewalttätigen Übergriffe der Wachmannschaften.

Auch Michail Orskij hat sich als Gefangener an solchen Aktionen beteiligt. Zurück in Freiheit gliedern sich viele Männer wieder relativ problemlos in die Gesellschaft ein, denn Knast ist in Russland nicht zwingend ein Stigma.

"Bei uns waren so viele Männer im Knast, dass es keinen umhaut, wenn Du auch drin warst. Es hängt vor allem von Dir ab, was Du draußen aus Dir machst. Der Bürgermeister von Jekaterinburg Roisman war früher im Bau. Und einer von Jelzins Sportministern ebenfalls. Habe seinen Namen vergessen."

Michail Orskij, ehemaliger Gefangener

Genadij Scharow

Der Pate hat sich nach seiner Gefängniszeit zwei Standbeine gesucht; ein illegales, das Schutzgeldgeschäft, und ein legales, Journalismus. Orskij moderiert für einen Internetkanal eine Musiksendung. Natürlich geht es darin nur um den Blatnoi-Chanson, die Knastmusik. Künstler, wie Genadij Scharow sind für viele Russen, drinnen und draußen, so etwas wie Psychotherapeuten: Sie sprechen die seelischen Traumata hunderttausender Menschen an – ein wichtiger Grund für die Popularität der für uns ungewohnten Musikrichtung: Haft, Flucht, Hoffnung, Freiheit und neue Rückschläge.

Ein Mafiaboss als Moderator einer Sendung über Knastmusik, bei uns nur schwer vorstellbar. In Russland: kein Problem, offensichtlich auch für die Polizei nicht.

"Die Polizei ist froh, dass es mich gibt. Ich bin Moskauer, habe kein Blut an den Fingern und achte darauf, dass in meinem Stadtteil keine Killerbanden aktiv werden. Wenn ich weg wäre, würden das Vakuum sofort Männer aus dem Kaukasus oder Zentralasien füllen, Raubtiere, die Menschen als reine Beute sehen."

Michail Orskij, Fernsehmoderator

Pate und TV-Moderator Orskij lädt oft Musiker zu sich nach Hause ein: Neue Songs werden diskutiert, Konzertpläne geschmiedet. Scharow glaubt, dass der Blatnoi-Chanson noch lange als Seelenmassage gebraucht wird, denn das autoritäre System sperre nach wie vor viel zu viele Menschen weg.

"Das geht noch hundert Jahre so weiter. Unser Strafgesetzbuch ist voller Gummiparagraphen. Wenn Dich einer einbuchten will, dann geht das im Handumdrehen. Und normalsterbliche Leute haben gegen den Justizapparat keine Chance."

Genadij Scharow, Sänger

Zum Kreativtreffen beim Paten gehört auch der gemütliche Teil: Bania, Schaschlik, Wodka, dazu ein paar Songs über das Leben im Straflager. Die Knastmusik, der Blatnoi-Chanson, wird in Russland nicht von jedem, aber in jeder Gesellschaftsschicht gehört. Das Gefängnis hängt wie ein Damoklesschwert über nahezu allen Russen, egal ob sie Gesetze brechen oder nicht.


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