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Griechenland Neue Heimat für Türken

Türken verlassen ihr Land: Kritiker der Regierung, politisch Verfolgte, Intellektuelle und all diejenigen, die ihre Freiheit in der Heimat bedroht sehen. Ein Fluchtziel ist Griechenland geworden.

Von: Michael Schramm

Stand: 25.02.2018 | Archiv

Erdogan | Bild: BR

Immer wieder aufs Neue sieht sich Tuba Güven im Internet den gleichen Nachrichtenbeitrag an: Präsident Erdogan persönlich bedroht darin unter anderen ihren Ehemann, den Journalisten Cevheri Güven, aus Verärgerung über dessen Berichterstattung. Er sagt: "Sie werden dafür bezahlen!"

Thessaloniki

Bis Sommer 2016 lebte Familie Güven in Istanbul. Noch in der Nacht des Putschversuchs erfuhren sie: Ihre Namen befinden sich auf Festnahmelisten. Tubas Mann, Cevheri, war Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Nocta". Während unserer Dreharbeiten befindet er sich auf Besuch in Deutschland. Das Ehepaar bekennt sich zur Bewegung des islamischen Predigers Fetullah Gülen. Auch Tuba arbeitete als Journalistin. Die Familie versteckte sich zunächst und organisierte dann mit Hilfe syrischer Schlepper ihre Flucht nach Griechenland – auf dem Landweg über den Grenzfluss Evros. Seit eineinhalb Jahren nun leben sie in Thessaloniki:

"Weil ich Journalistin bin, kenne ich viele, die jetzt in türkischen Gefängnissen sitzen, persönlich. Auch Kollegen und enge Freunde von mir sind darunter!"

Tuba Güven

Tuba Güven

Derzeit genießt Familie Güven politisches Asyl in Griechenland. 400 Euro Unterstützung monatlich erhalten sie von Menschenrechtsorganisationen. Die gehen für die Miete drauf. Sie leben von geliehenem Geld und Ersparnissen – so wie die meisten der rund 500 türkischen Flüchtlingsfamilien in Athen und Thessaloniki. Viele von ihnen haben Angst: Sie fürchten, der lange Arm des türkischen Geheimdienstes könnte auch ins benachbarte Ausland reichen.

"Vor zwei Wochen hat der Oppositionspolitiker Garo Peilan erklärt, es soll ein Hinrichtungsteam des Geheimdienstes geben. Dieses soll Jagd auf Akademiker, Journalisten, Armenier und Alewiten im Ausland machen. Deshalb haben wir oft große Angst."

Tuba Güven

Die wenigen Möbel in der Mietwohnung der Güvens sind Geschenke oder Leihgaben. Zehntausende Mitglieder der Gülen-Bewegung sind in türkischen Gefängnissen, weitere Zehntausende verloren ihren Job. Für die türkische Regierung und Präsident Erdogan sind sie alle ausnahmslos Terroristen – somit auch Tuba Güven und ihr Mann, obwohl sie in der Putschnacht im Urlaub waren:

"Wir haben natürlich auch Fehler gemacht! Einige unserer Mitglieder waren möglicherweise in den Putschversuch verwickelt. Aber das kann doch nicht heißen, dass wir alle schuldig sind oder Terroristen!"

Tuba Güven

Fluchtpunkt Griechenland: 2000 bis 3000 türkische Staatsbürger sollen in der Zeit seit dem Putschversuch hierhergekommen sein. In einem Athener Vorort ist ein unscheinbares Restaurant ihr Treffpunkt. Entlassene türkische Lehrer, Journalisten, Professoren und Computerfachleute kommen hier zusammen. Sie alle haben in Griechenland ein neues Zuhause – nur ohne Erdogan – gefunden.

"Es gibt keine Menschenrechte mehr in der Türkei! Die Demokratie ist verloren! Deshalb kam ich hierher."

Murat Gokkonda, Computerfachmann

"Griechenland und die Türkei - in gewisser Weise sind sie gleich: Die Landschaften, das Essen, die Leute. Der einzige wirkliche Unterschied: Hier ist es zivilisierter!"

Onder Duman, Manager

Onder Duman

Auch das gibt es: Türken als Investoren. Am Athener Immobilienmarkt sollen sie eine immer wichtigere Rolle spielen. Wer mehr als 250.000 Euro anlegt, erhält nach griechischem Recht das sogenannte "goldene Visum" auf Zeit. Manche Türken kaufen sich hier deshalb offenbar ein. Sie ziehen zunächst gar nicht selbst hierher, haben aber für den Fall des Falles eine Rückzugsmöglichkeit.

"Ich glaube, der Kauf einer Immobilie in Griechenland bietet diesen Leuten einen Ausweg und eine Bleibe in Europa!"

Vasilis Aksarlis, Immobilienmakler

Zurück zur Journalistin Tuba Güven, die nicht müde wird zu betonen, dass sie mit den Ereignissen der Putschnacht vom 15. Juli nichts zu tun hat. Gerne geht sie zu Zeitungskiosken. Es freut sie einfach, sagt sie, gelebte Pressefreiheit zu sehen, die sie in der Türkei vermisst hat. Für die Aufnahme durch ihre griechischen Nachbarn empfindet sie Dankbarkeit:

"Ich habe Freunde hier gewonnen! Ich habe gute Beziehungen aufbauen können! Ich durchlebe hier die schwersten Tage meines Lebens und bekomme so viel Hilfe – nicht nur ich allein, auch meine türkischen Landsleute hier."

Tuba Güven

Tuba Güven und ihr Mann lernen mühsam Griechisch. Ihre Kinder, die neunjährige Nihal und der sechsjährige Ali sprechen es inzwischen fließend. Die Aussichten für die Eltern in ihrem Gastland, jemals wieder als Journalisten arbeiten zu können, sind deshalb eher gering. Wie stellen sie sich ihre Zukunft vor?

"Als normaler Mensch glücklich sein – mehr Pläne habe ich nicht! Schlicht ein normales Leben führen, so wie es andere auch tun."

Tuba Güven

Griechenland als neue Heimat für Türken: Sie kommen in ein Land, das selbst in einer Krise steckt. Und doch: Für viele von ihnen erscheint es wie ein Paradies…


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