Menschen halten vor dem Münchner Marienplatz Plakate mit Anti-Kriegs-Parolen hoch.
Bildrechte: BR/Anton Rauch

Ostern 2023 in München: Um die 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einer Friedensdemonstration.

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Warum es die Forderung nach Frieden aktuell so schwer hat

Panzertypen, Flugabwehrraketen, Drohnen – längst sind Begriffe aus der Kriegsführung Teil der öffentlichen Debatte geworden. Es scheint, als ob die Gesellschaft den Krieg verinnerlicht hat. Wer Frieden fordert, muss mit starkem Gegenwind rechnen.

Über dieses Thema berichtet: Dossier Politik am .

Politikwissenschaftler Johannes Ludwig stellt fest: Deutschland redet ganz anders über Waffen als noch vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. "In der Anfangszeit wurde heftig und kontrovers diskutiert, ob überhaupt Waffen geliefert werden sollen." Zuletzt ginge es jedoch nicht mehr darum, ob Waffen geliefert werden, sondern welche.

Die Entwicklung ist tatsächlich bemerkenswert: Anfangs diskutierte Deutschland noch über Helme und Schlafsäcke, die an die Ukraine abgegeben werden könnten. Später lieferte man Flugabwehrsysteme. Dann sogar Leopard-2-Kampfpanzer.

Scholz: Debatte ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten

Der aktuelle Fall: Die Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. Die Waffe soll unbemannt Sprengsätze in ein Gebiet steuern können. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bleibt bei seinem Nein, Taurus zu liefern. "Die Debatte in Deutschland ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten", sagte der Kanzler. "Das ist peinlich für uns als Land." Jüngstes Beispiel: die Diskussionen um die Äußerungen von SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich, der darauf drängte, nicht nur über militärische Lösungen zu sprechen, sondern auch darüber, ob der Konflikt nicht eingefroren werden könne.

Anton Hofreiter findet, der Kanzler gehe in der Taurus-Frage zu zögerlich vor. Der bayerische Grünen-Abgeordnete macht im Gespräch mit dem BR deutlich: Frieden schaffen könne man in diesem Krieg nur, wenn die Ukraine mit Waffen unterstützt werde. Friedensaktivismus bedeute für ihn, alles für ein Ende des Krieges und einen echten Frieden zu tun. "Das bedeutet, so paradox es im Moment erscheinen mag, die Ukraine so stark zu unterstützen, wie man kann."

Hofreiter: Ich habe es nicht gesehen

Anton Hofreiter gilt als einer der lautesten Befürworter von deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Doch diese deutliche Position hat der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag nicht immer vertreten. Lange Zeit setzte er im Umgang mit Russland auf Diplomatie. "Ich habe damals gesagt, (…) man solle doch einfach mit Putin verhandeln." In seiner Forderung nach mehr Diplomatie habe er nicht erkannt, dass damit das Gegenteil erreicht worden sei: Putin habe man so zum Krieg motiviert.

Heute findet Hofreiter für seine damalige Einstellung klare Worte. Er nennt sie "naiv und unbedacht", auch "problematisch". Der Prozess der Selbstreflexion habe Jahre gedauert. "Das ist natürlich eine intensive Befragung, wie man eigentlich so blind sein konnte. Also man hätte es sehen können. Ich habe es nicht gesehen. Und das sollte man sich schon mit einer gewissen Härte fragen." Für ihn ist Pazifismus heute "in dieser gefährlich gewordenen Welt eine private Haltung".

Es gibt nicht die eine Friedensbewegung

Befürworter der militärischen Unterstützung wie Hofreiter oder die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), ecken mit ihrer deutlichen Position an. Auf der anderen Seite steht ein Pazifismus, der in der öffentlichen Debatte verpönt zu sein scheint. Papst Franziskus erntete kürzlich deutliche Kritik, als er der Ukraine "Mut zur weißen Fahne" empfahl. Kapitulation sei nicht gleich Friede, entgegneten die Kritiker des Papstes. Eine Kritik, die sich viele anhören müssen, die sich als Teil der Friedensbewegung sehen, etwa die Publizistin Alice Schwarzer oder die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann.

Verhandlungen, Abrüstung fordern oder doch für Waffenlieferungen sein? Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine muss sich die Friedensbewegung neu finden. Susanne Weipert ist Koordinatorin der Kampagne "Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel". Weipert selbst befürwortet Waffenlieferungen an die Ukraine. Aber nicht alle 100 Organisationen, die Teil der Kampagne sind, stimmen ihr zu. Von einer Friedensbewegung kann kaum die Rede sein.

Streit um Waffenlieferungen scheint verhärtet

Doch Waffenlieferungen seien nicht der einzige Weg, den Krieg zu beenden, sagt die Friedensaktivistin. Wer für Frieden einstehe, fordere nicht die Kapitulation der Ukraine, sondern "überhaupt erst wieder in die Gespräche zu gehen." Sie schlägt vor, weitere Sanktionen zu erlassen. "Da gibt es auch viele Stellschrauben, die abseits dieser Kriegslogik sind", sagt Weipert.

Susanne Weipert beklagt, dass in der aktuellen Debatte "Friedensproteste, Friedensforderungen oder Verhandlungsforderungen niedergeschrien" würden. Es gebe keine ergebnisoffene Auseinandersetzung mehr. "Stattdessen wird so getan, als würde die Friedensbewegung in Deutschland dafür sorgen, dass Russland den Krieg gewinnt. Das ist absurd."

Der Streit zwischen Befürwortern und Gegnern von immer mehr Waffenlieferungen an die Ukraine scheint verhärtet, wie Politikwissenschaftler und Autor Johannes Ludwig beschreibt: "Auf der einen Seite wirft man sich vor, Kriegstreiber zu sein. Auf der anderen Seite steht der Begriff des Lumpenpazifismus." Der Referent für globale Vernetzung und Solidarität beim Bistum Limburg spricht von einer Polarisierung. "Eine vernünftige und tatsachenbasierte Auseinandersetzung ist oft gar nicht mehr möglich."

Frieden schaffen über den Kopf der Ukraine hinweg?

Viele, die sich früher aus der Mitte der Gesellschaft für Gewaltfreiheit und Abrüstung eingesetzt hätten, fühlten sich heute politisch heimatlos. Denn auch die Friedensbewegung könne das nicht auffangen, sagt Ludwig. Insbesondere junge Menschen fühlten sich durch die Wortbeiträge und Debattenbeiträge von Aktivistinnen wie Alice Schwarzer oder Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht nicht repräsentiert, weil sie in einer Rhetorik der 80er-Jahre und dem Kalten Krieg steckengeblieben seien. Dazu gehörten auch jahrzehntealte Mantras, wie "Frieden schaffen ohne Waffen": Mit dem Krieg in der Ukraine wirke der Slogan "weltfremd oder fast schon wie eine Realitätsverweigerung", sagt Ludwig. "Das klingt so, als wolle man über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg einen Frieden schaffen, der aus meiner Perspektive diesen Namen gar nicht verdient."

Pazifismus scheint inzwischen fast ein Schimpfwort zu sein, sagt Politikwissenschaftler Ludwig. Trotzdem dürften Friedensaktivisten sich nicht selbst als Opfer sehen. Nur so könne die Friedensbewegung wieder eine relevante Stimme werden. Denn die Debatte hat sich längst weiterentwickelt.

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