Kirchen: Mitgliederschwund hat Folgen (Symbolbild)
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Kirchen: Mitgliederschwund hat Folgen (Symbolbild)

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Kirchen: Mitgliederschwund hat Folgen

Kirchenmitglieder in Deutschland sind inzwischen in der Minderheit. Die Auswirkungen der Kirchenaustritte könnten viele Menschen betreffen, egal ob Mitglied oder nicht.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Detlef Pollacks Urteil fällt eindeutig aus: "Kirchen sind ganz gewiss nicht notwendig, aber sie sind nützlich." Pollack gilt als Deutschlands bekanntester Religionsforscher. Im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) analysiert Pollack, wie Kirche, Glaube und Moderne zusammenhängen.

Noch nie haben die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland so hohe Austrittszahlen hinnehmen müssen wie derzeit. Aus der katholischen Kirche sind binnen des vergangenen Jahres gut eine halbe Million Menschen ausgetreten, aus der evangelischen Kirche rund 380 000.

Kirchenaustritte nicht mehr nur noch bei Ungläubigen

An und für sich ist das zwar keine neue Entwicklung, denn schon seit den 1970er-Jahren steigt die Zahl der Kirchenaustritte. Doch in den vergangenen Jahren gab es eine Verschiebung: Traten früher aus der evangelischen Kirche mehr Menschen aus als aus der katholischen, lässt sich seit einigen Jahren beobachten, dass die Austrittszahlen bei der katholischen Kirche höher liegen.

Für den Leipziger Kirchen- und Religionssoziologen Gert Pickel lässt sich das auf die bislang stärkere Haltekraft der katholischen Kirche zurückführen. Doch eine weitere Veränderung ist messbar geworden:

"Meistens treten Leute aus, weil sie nicht religiös sind. Was wir jetzt aber sehen, ist, dass in der katholischen Kirche auch Personen austreten, die religiös sind. Das ist das Neue." Gert Pickel, Kirchen- und Religionssoziologe

Bisher seien viele Menschen als Kirchenmitglied dabeigeblieben, weil ihr Umfeld christlich oder religiös geprägt gewesen sei, selbst wenn sie eigentlich nicht mehr jeden Sonntag in den Gottesdienst gegangen seien, beobachtet auch der katholische Theologe und Priester Christoph Ohly die Entwicklung.

Kirchensteuer oft genannter Grund für Austritt

Die Gründe für Kirchenaustritte nachzuvollziehen, gestaltet sich häufig als schwierig, berichtet Pickel: Viele Gemeinden erfassten den Grund gar nicht erst, wenn sie einen Kirchenaustrittsantrag erhalten. Das Meinungsforschungsunternehmen Civey hat 2022 ehemalige katholische Kirchenmitglieder kontaktiert und die Gründe erfragt.

Für knapp die Hälfte der Befragten waren die seit Jahren auftretenden Missbrauchsskandale innerhalb der katholischen Kirche und der Umgang damit ein wichtiger Grund für den Austritt. Einzig die Kirchensteuer gaben knapp zwei Drittel der Befragten und damit noch mehr als Grund an für den Kirchenaustritt.

Bildrechte: Deutschland; Civey; 28.01.2022 bis 02.02.2022; 751 Befragte; Ehemalige Katholik:innen; Statista 2023
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Umfrage: Welche dieser Gründe haben Sie bewogen, aus der katholischen Kirche auszutreten?

Kirchensteuern sparen zu wollen ist in den Augen des Kirchensoziologen Detlef Pollack eine logische Konsequenz. Mehr als 70 Prozent der Kirchenmitglieder nehmen am kirchlichen Leben nicht teil, so Pollack: "Das ist eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung: 'Ich trete aus, weil ich die Leistungen der Kirche nicht in Anspruch nehme'." In der Regel beträgt die Kirchensteuer neun Prozent der Lohn- und Einkommenssteuer. In Bayern sind es acht Prozent.

13 Milliarden Euro Kirchensteuern im Jahr 2022

Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben im Jahr 2022 knapp 13 Milliarden Euro an Kirchensteuern eingenommen, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt. Auf die katholische Kirche entfielen knapp 6,8 Milliarden Euro, auf die evangelische Kirche etwa 6,1 Milliarden Euro. Abhängig von der Region unterscheidet sich die Verwendung der Kirchensteuern.

Der größte Anteil fließt in die Gemeinden vor Ort, sowohl für die Angebote als auch für das Gehalt der Angestellten, Pfarrer, Gemeindereferenten und so weiter und – falls nötig - werden zum Beispiel auch Renovierungsarbeiten an Kirchen vor Ort damit bezahlt. Darauf folgt die Bezuschussung von kirchlichen Kindergärten oder Schulen. Der Rest geht in die Verwaltung, in die Bezahlung des Staates, dass er die Kirchensteuer einzieht, in soziale Verbände und Dienste, karitative Einrichtungen wie zum Beispiel Obdachlosenhilfen und überdiözesane Aufgaben.

Finanzdefizit bei hoher Austrittsquote absehbar

Treten nun viele Menschen aus der Kirche aus, zahlen sie keine Kirchensteuern mehr. Ein Teil dieser Gelder fließt in karitative und soziale Aufgaben, die konfessionsunabhängig für alle zugänglich sind, wie etwa die Obdachlosenhilfe, kirchlich getragene Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten. Diese Aufgaben bestreiten die Kirchen nicht ausschließlich aus eigenen Mitteln, Zuschüsse erhalten sie auch vom Staat. Rutschen die Kirchen jedoch in ein Finanzdefizit, würde es auch in Einrichtungen des Gemeinwohls zu Einsparungen kommen müssen.

Thomas Schüller zeichnet im aktuellen "Possoch klärt"-Video folgendes Bild: Systematisch würden beide Kirchen an vielen Orten Kindertagesstätten an die Kommunen zurückgeben müssen, ebenso Schulen und Pflegeeinrichtungen – mit starken Auswirkungen auf Kommunen und Länder. Schüller weiter: "Dann muss der Staat nämlich, weil es ja Staatsaufgaben sind, die selbst betreiben, und das kostet deutlich mehr. Und ich prognostiziere ziemlich sicher, dass wir dann Steuererhöhungen haben werden, vor allen Dingen aber auch Gebührenerhöhungen. Der Glaube, man könne sich darüber freuen, dass die Kirchen zu Minderheitenkirchen werden, der hat den bitteren Nachgeschmack, dass das für die gesamte Bevölkerung teurer wird."

Im Audio: Thomas Schüller, Kirchenrechtsexperte an der Universität Münster

Kirchenrechtsexperte Thomas Schüller, Universität Münster
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Kirchenrechtsexperte Thomas Schüller, Universität Münster

Kirche bei Personalgewinnung für karitative Berufe erfolgreich

Die Finanzierung dieser Aufgaben ist das eine - wesentlich seien aber auch Infrastruktur wie Immobilien und Personal, analysiert Religionssoziologe Gert Pickel. Gerade in der Personalgewinnung kann die Kirche laut Pickel viele Erfolge vorweisen, da die sozialen und karitativen Berufsfelder sich mit vielen Zielen christlichen Glaubens vereinen lassen. Würden die Kirchen also Einsparungen auch in diesen Bereichen vornehmen müssen, vermutet Pickel: "Es wird die Problemlagen, die wir sowieso schon haben, in den Kindergärten etwa, noch einmal verschärfen - natürlich auch jetzt vor dem Hintergrund der Debatten über die Kindergrundsicherung."

Allein am 1. März 2022 waren in Deutschland etwa zwei Drittel aller Kindertageseinrichtungen in der Hand privater, vor allem christlicher Träger durch die Caritas der katholischen Kirche und die Diakonie der evangelischen Kirche. Käme es in diesem Bereich zu den Einsparungen und Kürzungen, die Thomas Schüller annimmt, dürfte die Lage deutlich angespannter werden als bereits jetzt. Der Staat müsste diese Aufgaben dann versuchen zu übernehmen, führt Gert Pickel aus, "und wie das funktioniert, da bin ich doch sehr gespannt darauf." Schon jetzt fehlen in Deutschland knapp 380.000 Kindergartenplätze. Eine Entspannung der Lage ist auch mit Blick auf den bestehenden Fachkräfte- und Personalmangel jedoch in nächster Zeit nicht absehbar.

Warum reformiert Kirche sich dann nicht?

Könnten Reformen innerhalb der Kirche, wie sie etwa "Der Synodale Weg" anstrebt, wieder zu mehr Verbundenheit und Teilnahme führen? Der katholische Kirchenrechtsexperte Thomas Schüller ist davon überzeugt, dass es Veränderungen braucht, und sieht besonders in der von ihm attestierten "strukturellen Diskriminierung von Frauen" Nachholbedarf für die katholische Kirche: "Es treten im Moment sehr viele Frauen aus, die in den1950er-, 1960er-Jahren meistens nicht berufstätig waren, zahlreiche Kinder bekamen, das katholische Ehrenamt getragen haben bis heute und die einfach sagen: 'Diese dauerhafte Diskriminierung halten wir nicht aus.'" Aber auch der Umgang mit den Missbrauchsskandalen innerhalb der Kirchen ist für Schüller ein wichtiger Punkt, denn das habe sogar kirchennahe, praktizierende Katholikinnen und Katholiken schockiert.

Christoph Ohly, ebenfalls katholischer Kirchenrechtler, sieht Veränderungsbedarf insbesondere in der Art und Weise, wie Kirche mit Kirchenmitgliedern kommuniziert. Radikale Veränderungen indes sind in seiner Auffassung für die Kirche nicht umzusetzen, da der Ursprung und damit die religiöse Daseinsberechtigung der Kirche in Jesus Christus, im Evangelium liegt. Man könne nicht einfach sagen, man mache die Kirche moderner und dann laufe es wieder für die Kirche, so Ohly: "Ich glaube, die Treue zu Christus, die Treue auch zu seinen Überzeugungen, die er uns durch das Evangelium gibt, die muss auch die Christen und die muss auch die Kirche auszeichnen."

Soziologe: Reformen würden wenig ändern

Würde die katholische Kirche sich auf Reformen einlassen, wie zum Beispiel eine Abschaffung des Zölibats und die Einführung der Ordination von Frauen, würde es die Situation um die zahlreichen Mitgliedsaustritte und die Rolle der Kirche in der Gesellschaft in Konsequenz nicht unbedingt verbessern, sagt auch der Religions- und Kultursoziologe Pollack. Für den Experten ist das eine "weit verbreitete Illusion", das zeige der Vergleich mit der evangelischen Kirche. Diese Probleme, an denen man sich in der katholischen Kirche stoße, habe die evangelische Kirche zu einem großen Teil nicht. "Trotzdem war die Austrittszahl aus der evangelischen Kirche über Jahrzehnte hinweg höher als die Austrittszahlen aus der katholischen Kirche," führt Pollack aus.

Im Audio: Detlef Pollack, Religions- und Kultursoziologe an der Universität Münster

Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack, Universität Münster
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Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack, Universität Münster

Generationaler Entfremdungsprozess

Ist der Entschluss, sich von Kirche distanzieren zu wollen oder gar aus der Kirche auszutreten, erst einmal von einem Kirchenmitglied getroffen worden, ist die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr sehr gering, analysieren die Religionssoziologen Pollack und Pickel. Langfristig gebe es einen dominanten Trend in der Gesellschaft, der in enormen Abbrüchen von Generation zu Generation bestehe, beobachtet Detlef Pollack: Eltern, die noch in der Kirche seien, erzögen ihre Kinder zu großen Teilen nicht mehr religiös. In der Folge treten diese Kinder dann zum großen Teil aus der Kirche aus, "und die Enkelkinder haben dann überhaupt keine Berührung mehr mit der Kirche und auch nicht mit dem Glauben," erläutert der Religions- und Kultursoziologe Pollack.

Das decke sich auch mit der Entwicklung des Glaubens an Gott, so Pollack, denn auch dort ist eine rückläufige Entwicklung zu beobachten. Glaubten 1949 in Deutschland noch knapp 90 Prozent an Gott, sind es heute etwa 50 Prozent. Als "erdrutschartig" bezeichnet der Statistiker diese Entwicklung. Zwar könne man immer noch davon ausgehen, dass es weiterhin Kirchenmitglieder geben wird, sagt auch Gert Pickel im neuen "Possoch klärt"-Video, aber die flächendeckende Volkskirche sei etwas, wovon wir uns in etwa fünf bis zehn Jahren möglicherweise "verabschieden müssen".

Bleiben christliche Feiertage trotz hoher Kirchenaustritte legitim?

Angesichts der kaum noch christlichen Gesamtbevölkerung blickt Schüller auch mit Spannung auf die Diskussion um die Entwicklung von Feiertagen. Denkbar wäre für den katholischen Kirchenrechtsexperten, die Feiertage zu "einfachen" Feiertagen zu machen, "die aber nicht mehr mit christlicher Praxis gefüllt werden". Schon jetzt unterscheiden sich christliche Feiertage in den Bundesländern. Im Sinne der Parität müsste die Diskussion für Schüller gegebenenfalls auch mit Blick auf eine potentielle Ausweitung auf andere mitgliedsstarke Glaubensgemeinschaften in Deutschland geweitet werden. Zwar sei das eine Diskussion, die oft Polarisierungen hervorbringe, aber dennoch müsse sie geführt werden.

Religions- und Kultursoziologe Pollack hingegen plädiert für eine Differenzierung zwischen Kultur und Religion. Viele ursprünglich christlich begangenen Feiertage haben sich in der Analyse Pollacks längst in unserer Kultur und unseren Traditionen etabliert. Das Christentum ist zwar eine Religion, aber eben doch mehr als Kirche. "Christentum ist eben auch ein Bestandteil unserer Kultur und durchdringt sie bis in die tiefsten Poren hinein," führt Pollack im BR24-Interview aus.

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