Ein kaputter Panzer, dahinter Rauchschwaden in Ukraine-Farben.
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"Langsamer als gewünscht" - das sagt der ukrainische Präsident Selenskyj über die aktuelle Gegenoffensive. Könnte sie gar scheitern?

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Was passiert, wenn die Gegenoffensive der Ukraine scheitert?

Die ukrainische Gegenoffensive läuft langsamer, als sich das wohl viele gedacht haben. Es gibt hohe Verluste auf beiden Seiten. Das vom Westen gelieferte Arsenal wird auf die Probe gestellt. Was, wenn die Gegenoffensive scheitert? Possoch klärt!

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Der ukrainische Präsident Selenskyj selbst hat in seiner Neujahrsansprache gesagt: "2023 wird das Jahr des Sieges." Sechs Monate später, rücken seine Truppen bisher nur langsam vor und er gab jüngst zu: Die Gegenoffensive läuft "langsamer als gewünscht".

Die intensivsten Kämpfe in der Ukraine finden im Oblast Saporischschja, im Westen des Oblasts Donezk und rund um Bachmut statt. Die russische Seite erleidet hohe Verluste. Die ukrainische Seite aber auch. Denn: Die russischen Kräfte sind vorbereitet, im Süden der Ukraine gelingen ihnen oft relativ erfolgreiche "Defensiveinsätze". Das ist die Einschätzung britischer Geheimdienste, die das Verteidigungsministerium in London täglich auf Twitter teilt.

Der Oryx Blog zählt mithilfe von Fotos und Videos die Verluste der Ukraine bei der Gegenoffensive auf: Bereits 15 Prozent der von den USA gelieferten Panzer seien demnach in den letzten Tagen zerstört, beschädigt oder zurückgelassen worden. Wie viel kann die ukrainische Gegenoffensive wirklich erreichen? Sarah Pagung, Russland- und Sicherheitsexpertin bei der Körber-Stiftung antwortet im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten): "Solche Offensiven sind nichts, was sich innerhalb weniger Tage abspielt, sondern das kann mehrere Monate dauern. Und das, was wir aktuell sehen, ist eher ein Vortasten der ukrainischen Kräfte, ein Schauen, wo die russische Verteidigung schwach und wo sie stark ist."

Ukrainische Gegenoffensive: Geringe Geländegewinne, kein Durchbruch

Insgesamt zieht sich die Front auf einer Strecke von etwa 1.000 Kilometern durch die Ukraine. Russland hält unterm Strich etwa 18 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt. Die Ukraine sagt, sie haben bislang im Süden acht Ortschaften zurückerobert, circa 113 Quadratkilometer wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Geringe Geländegewinne, aber kein Durchbruch. Nach Angaben Russlands lassen die ukrainischen Streitkräfte in ihrer Gegenoffensive nach und organisieren sich an der Frontlinie neu.

Karte: Die militärische Lage in der Ukraine

Eine Schwachstelle der Ukraine: die Luftverteidigung. In Kiew ist sie zum Beispiel gut ausgebaut, an der Front jedoch weniger. Das liegt an der russischen Kriegsführung:

Russland greift ukrainische Städte mit Raketen und Drohnen an, diese Strategie zwingt das ukrainische Militär dazu, Ressourcen für die Luftverteidigung von der Front abzuziehen, um Zivilisten in den Städten zu schützen. Das macht die Truppen aber eben selbst verletzlicher für russische Drohnen- und Kampfflugzeugsangriffe.

"Zum jetzigen Zeitpunkt ist das ganz eindeutig für die Ukraine ein großes Problem." Sagt Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, im BR24-Interview. Die Lösung dafür könnten westliche F16-Kampfjets sein. Diese könnten jedoch frühestens im Oktober einsatzbereit sein.

Im Video: Was passiert, wenn die Gegenoffensive der Ukraine scheitert?

Zu hohe Erwartungshaltung an Gegenoffensive?

Die ukrainische Gegenoffensive fegt also nicht einfach über die russischen Truppen hinweg. Im Westen sei die Erwartungshaltung auch sehr hoch gewesen, meint Lange: "So nach dem Motto: das macht jetzt einmal 'Bumm' und dann fahren die mit den westlichen Schützen- und Kampfpanzern da durch die russischen Linien und dann ist der Krieg vorbei."

Der im Donbass eingesetzte ukrainische Oberstleutnant Serhij Osatschuk hat ebenfalls vor zu hohen Erwartungen gewarnt. Bis zum Kriegsende sei es noch ein langer Weg. Sarah Pagung teilt diese Einschätzung: "Wir wissen aus der bisherigen Forschung von internationalen Konflikten, dass Konflikte, die nicht sehr schnell beendet werden, dazu tendieren, sehr lange zu dauern."

Was, wenn die Ukraine scheitert?

Das Worst-Case-Szenario für die Ukraine wäre sicherlich, dass sie keine größeren Geländegewinne erreichen. Das würde keine unbedingte Verschlechterung ihrer aktuellen Situation bedeuten, aber eben auch keine deutliche Verbesserung. "Wenn das passierte, dann wird man nicht nur in Kiew Illusionen verlieren." Schätzt Gerhard Mangott, Politikprofessor mit Schwerpunkt Russland von der Universität Innsbruck, im Gespräch mit BR24 ein.

Auch in westlichen Hauptstädten - "ich nehme mal an aus Berlin, aus Washington und aus Paris" - würde nach Ansicht Mangotts dann der Druck zunehmen, doch eine Verhandlungslösung zu suchen, zumindest eine Verhandlung über eine Waffenruhe, um den Konflikt einzufrieren.

Sarah Pagung sieht ebenfalls ein Risiko, wenn die Ukraine nicht so erfolgreich sein sollte wie erhofft: "Das könnte Auswirkungen auf die weitere militärische und finanzielle Unterstützung haben, von der die Ukraine am Ende natürlich abhängt."

Nico Lange sieht zwar keine große Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine komplett scheitert. Die wichtige Frage sei für ihn jedoch, wie viele Reserven die Ukraine noch habe, um einen Durchbruch ausnutzen und ausbauen zu können, um tatsächlich russisch besetztes Gebiet nachhaltig zu befreien? "Das ist eine offene Frage zum jetzigen Zeitpunkt."

Russlands erneute Drohung mit dem "Atomkrieg"

Vor dem Hintergrund der ukrainischen Gegenoffensive sorgt eine neuerliche Androhung eines Atomschlags Russlands für Aufsehen. Sergej Karaganow, ein Berater Putins, hat jüngst in einem Aufsatz geschrieben: "Wir müssen die Abschreckungsleiter so schnell wie möglich hochklettern. Wir haben lange genug abgewartet und verhandelt. Der Preis für ein Zögern wird ungleich höher sein, wenn wir jetzt nicht handeln." Deshalb sei es notwendig, einen Atomkrieg ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Politikprofessor Mangott hält die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation zwar für gering, sieht aber ein Restrisiko: "Angesichts der katastrophalen Konsequenzen eines Einsatzes von Nuklearwaffen sollte man es nicht darauf ankommen lassen, ob es sich bei der russischen Seite um einen Bluff handelt oder nicht."

Sicherheitsexperte Lange hingegen hält solche Drohungen für harmlos: "Wir haben doch jetzt schon seit 15 Monaten den Umgang mit diesen russischen Nukleardrohungen geübt, da sollte man sich jetzt nicht aus dem Konzept bringen lassen."

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