Experten sagen: Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Messerkriminalität und Staatsangehörigkeit. Sie warnen vor einer Vorverurteilung.
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Experten sagen: Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Messerkriminalität und Staatsangehörigkeit. Sie warnen vor einer Vorverurteilung.

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Messergewalt und Migration: Was Statistik und Forschung aussagen

Messerangriffe werden oft mit Migranten in Verbindung gebracht. Doch weder Kriminalstatistiken der Polizei noch Studien können dies untermauern – sind aber auch nur bedingt aussagekräftig. Experten warnen vor einer Vorverurteilung. Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Darum geht's:

  • Experten sagen: Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Messerkriminalität und Staatsangehörigkeit. Sie warnen vor einer Vorverurteilung.
  • In der öffentlichen Debatte bringen rechte politische Gruppen und Parteien Messerkriminalität dennoch häufig mit Migration, Staatsangehörigkeit der Täter oder Ausländern in Verbindung.
  • Es gibt verschiedene Statistiken der Polizeibehörden. In diesen werden Messerangreifer aber nicht nach Staatsangehörigkeit oder nach Migrationshintergrund kategorisiert. Mit einer Ausnahme: der Statistik der Bundespolizei – doch deren Zahlen sind nur bedingt aussagekräftig.

Forscherinnen und Forscher, die zu diesem Thema arbeiten, sind sich einig: Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Messerangriffen und der Staatsangehörigkeit eines Täters. Eine Studie belegt das anhand der Zahlen von rechtskräftig verurteilten Gewalttätern, die ein Messer eingesetzt haben. (Die Studie wird im hinteren Teil dieses Artikels vorgestellt.) Auf Twitter und auf Blogs wird jedoch nach Messerangriffen regelmäßig genau das Gegenteil behauptet.

Andere wiederum glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen Messerkriminalität und einem Migrationshintergrund der Täter gibt, falls diese die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Diese Behauptungen wiederum können statistisch nicht be- oder widerlegt werden, da es dazu keine Daten gibt.

Der #Faktenfuchs ist den verschiedenen Behauptungen nachgegangen.

Oft aufgestellte Behauptungen

"Deutschland, Messerland: Wieder müssen Unschuldige wegen einer verantwortungslosen Migrationspolitik sterben", hieß es Anfang Februar dieses Jahres im Newsletter "Der andere Blick" der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ). Die Schweizer Tageszeitung bewirbt den Rundbrief extra für ihre Leserinnen und Leser in Deutschland. Aufhänger war der Messerangriff eines Palästinensers mit zwei Toten in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein. Solche Taten sorgen verständlicherweise für Angst und Empörung.

Auch Politikerinnen und Politiker stellten in der Vergangenheit immer wieder einen Zusammenhang zwischen Migration und Messerattacken her. Beispielsweise im Jahr 2018. Da nannte der AfD-Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio Flüchtlinge "Fachkräfte für Messerattacken" und Alice Weidel, AfD-Fraktionsvorsitzende, sprach im Bundestag von "alimentierten Messermännern".

Und in einer bayerischen Chatgruppe der "Querdenken"-Szene schrieb ein Nutzer: "Mit den ausländischen Staatsangehörigkeiten kommen die Messerstecher zu uns."

Einige politische Gruppen, Aktivisten und Politiker behaupten immer wieder, dass es bei Messerattacken einen Zusammenhang gibt zwischen der Herkunft, dem Migrationshintergrund oder der Staatsangehörigkeit der Täter. Gibt es für diese Behauptungen valide Daten?

Was sind Ausländer, was Migranten?

Dazu muss zuerst geklärt werden, was unter den verschiedenen Begriffen zu verstehen ist, die in der Diskussion umherschwirren:

Als Migranten werden Menschen bezeichnet, die im Ausland geboren und erst später nach Deutschland gezogen sind. Migranten können unter bestimmten Voraussetzungen eingebürgert und somit deutsche Staatsangehörige werden.

Ausländer sind laut Statistischem Bundesamt Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Zu ihnen gehören auch Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Deutsche, die zugleich eine andere Staatsangehörigkeit besitzen, gehören nicht zu den Ausländerinnen und Ausländern. Der Begriff ist kein Synonym für Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund, da viele keine Ausländer sind, sondern deutsche Staatsangehörige.

Menschen haben laut Statistischem Bundesamt dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden.

BKA wertet Straftaten bundesweit aus

Straftaten werden in Deutschland statistisch erfasst. Beispielsweise in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts (BKA). Diese wird auf Grundlage der von den 16 Landeskriminalämtern (LKA) gelieferten Daten erstellt. Sie enthält Zahlen zu Straftaten, die von Polizisten aufgenommen wurden – allerdings keine Zahlen zu verurteilten Straftätern. Die Polizeiliche Kriminalstatistik des BKA beinhaltet auch Zahlen zu Messerangriffen, jedoch erst seit wenigen Jahren.

"Seit 1. Januar 2020 werden 'Messerangriffe' bundesweit in der PKS als 'Phänomen', d. h. als Information zum Fall, erfasst", teilt ein BKA-Sprecher dem #Faktenfuchs auf Anfrage mit. Danach versteht das BKA unter Messerangriffen "Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird. Das bloße Mitführen eines Messers reicht hingegen für eine Erfassung als Messerangriff nicht aus."

BKA: Keine genauen Daten zu Tatverdächtigen erfasst

Im Jahr 2021 konnte das BKA zum ersten Mal die bundesweiten Zahlen auswerten. Damals gab es 10.917 Messerangriffe, die in der Kategorie "Gewaltkriminalität" geführt wurden. 2022 zählte das BKA 4.195 Messerangriffe, diesmal allerdings in der Kategorie "Raubdelikte". Als "gefährliche und schwere Körperverletzung" ordnete die Behörde im Jahr 2021 7.071 Messerangriffe ein, 2022 waren es 8.160.

Allerdings bilden diese Angaben nicht die Gesamtzahl aller Messerangriffe ab. Es handelt sich nur um Angaben zu validen Daten, also Angaben zu Messerangriffen, bei denen die Behörden sicher sind, dass es sich tatsächlich um Messerangriffe nach der Definition handelt. Tatsächlich wirken die Zahlen zu Messerangriffen in Deutschland zunächst verwirrend und sind in den Statistiken nicht selbsterklärend.

Auf die Frage, wie oft Migranten oder Ausländer als Tatverdächtige bei Messerangriffen registriert wurden, schreibt das BKA, dass "Aussagen zu Tatverdächtigen aufgrund der Datenlage nicht weiter möglich" seien. Das heißt, dass in der BKA-Statistik nicht aufgelistet wird, ob die Tatverdächtigen einen Migrationshintergrund haben.

Keine Rechtsgrundlage für Abfrage des Migrationshintergrundes

Das BKA kann den Migrationshintergrund von Tatverdächtigen zudem nicht erfassen, weil es für eine Abfrage keine Rechtsgrundlage gebe. Laut dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten können Behörden von Bürgerinnen und Bürgern unter anderem deren Namen, Geburtstag und -ort, Wohnort und Staatsangehörigkeit abfragen, nicht aber den Migrationshintergrund.

Denn Angaben von Tatverdächtigen zur Staatsangehörigkeit der Eltern oder Großeltern wären "nur auf freiwilliger Basis zu erheben", heißt es vom BKA. Und aufgrund dieses Freiwilligenprinzips wäre eine "durchgängige Erfassung nicht gewährleistet" und mit einem "sehr hohen Aufwand verbunden", führt das BKA weiter aus.

Allerdings werden die Tatverdächtigen nach "deutsch" und "nicht-deutsch" differenziert und deren jeweilige Staatsangehörigkeit erfasst, heißt es vom BKA. Das sei bei den Zahlen zu Messerangriffen aber nicht möglich, weil das Phänomen "Messerangriff" als "Attribut zum Fall", also als Eigenschaft zum Fall, erfasst werde, teilt der BKA-Sprecher mit. Daher sei technisch keine Informationsverknüpfung zwischen der Staatsangehörigkeit des Tatverdächtigen und dem Phänomen Messerangriff durchführbar.

Bayerische Kriminalstatistik zum Thema Messerkriminalität

Wie auf Bundesebene werden in Bayern Messerangriffe vom Bayerischen Landeskriminalamt (BLKA) in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst. Im Jahr 2021 gab es laut dem Bayerischen Innenministerium 672 Messerangriffe in Bayern und im vergangenen Jahr 812, die in unterschiedlichen Deliktsbereichen gezählt wurden.

Das LKA Bayern weist in seiner Antwort an den #Faktenfuchs darauf hin, dass keine Aussagen zu "individuellen Merkmalen der Täter bzw. Opfer im Phänomen-Bereich 'Messerangriff' (z.B. den Staatsangehörigkeiten)" möglich seien. Auch in Bayern werden die Messerangriffe nicht nach Migrationshintergrund oder Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen ausgewertet.

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Registrierte Messerangriffe in den vergangenen Jahren in Bayern.

Hinweis zur Grafik: Es ergibt sich eine Differenz zwischen den Gesamtzahlen zu Messerangriffen und der Summe der Fälle in den Kategorien "Gewaltkriminalität" und "Bedrohung". Diese Differenz besteht laut bayerischem Innenministerium aus Fällen der Kategorie "Körperverletzung" (nicht identisch mit der Kategorie "gefährliche und schwere Körperverletzung"), in denen das Messer nicht zur Verletzung einer Person geführt hat.

Bundespolizei zählt Messerkriminalität und Staatsangehörigkeit

Anders als BKA und LKA Bayern zählt die Bundespolizei bereits seit 2019 in ihrer Polizeilichen Eingangsstatistik Gewaltdelikte, bei denen ein Messer eingesetzt wurde – bundesweit und in Bayern. In den Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei fallen die deutschen Außengrenzen sowie Bahnhöfe und Flughäfen.

Laut der Statistik gab es dort im Jahr 2019 bundesweit insgesamt 402 Fälle von Messerangriffen (Bayern: 29). Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 445 gestiegen (Bayern: 32) und im Jahr 2021 auf 210 gesunken (Bayern: 12). Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Messerangriffe bundesweit auf 591 Fälle, in Bayern registrierte die Bundesbehörde 35 Delikte.

Die Bundespolizei erhebt ebenfalls nicht, ob es sich bei den Tatverdächtigen um Menschen mit Migrationsgeschichte handelt, teilte ein Bundespolizei-Sprecher dem #Faktenfuchs mit. Allerdings erfasst die Behörde die Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten, bei denen ein Messer eingesetzt wurde. Laut Statistik waren es im Jahr 2019 139 deutsche Tatverdächtige, 165 unbekannte und 113 nicht-deutsche Tatverdächtige. Im Jahr 2020 sind 154 deutsche Tatverdächtige, 151 unbekannte und 154 nicht-deutsche Tatverdächtige festgestellt worden. Für das Jahr 2021 nennt die Statistik 99 deutsche Tatverdächtige, 8 unbekannte und 107 nicht deutsche Tatverdächtige.* Im vergangenen Jahr sind 209 deutsche, 166 unbekannte und 218 nicht-deutsche Tatverdächtige erfasst worden.

Bei "nicht-deutschen Tatverdächtigen" könne es sich auch um Urlauber oder Touristen handeln, die dementsprechend nicht in Deutschland leben, macht die Bundespolizei deutlich.**

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Registrierte Messerangriffe im Bereich der Bundespolizei.

Keine Statistik zu verurteilten Tätern im Phänomenbereich Messerangriffe

Die ausgewerteten polizeilichen Kriminalstatistiken von BKA, LKA Bayern und Bundespolizei haben alle einen entscheidenden Nachteil: Erfasst werden ausschließlich Tatverdächtige. Ob diese am Ende der Ermittlungen auch tatsächlich als Täter der ihnen zur Last gelegten Straftat verurteilt wurden, wird nicht erfasst. Erst nach einem rechtsstaatlichen Verfahren vor einem Gericht mit einem rechtskräftigen Urteil gilt eine Person in Deutschland als verurteilter Straftäter. Dazu gibt es keine Zahlen, denn eine statistische Auswertung von bundesweiten Gerichtsurteilen zu Gewalttaten mit der Tatwaffe Messer existiert nicht. Das teilt das Bundesjustizministerium dem #Faktenfuchs auf Anfrage mit.

Auch in Bayern lägen derartige Auswertungen nicht vor, so das Bayerische Staatsministerium der Justiz. Allerdings wird in der Strafverfolgungsstatistik die Zahl der "Abgeurteilten und Verurteilten" geliefert. Die Zahl der Abgeurteilten setzt sich zusammen aus der Zahl der Verurteilten und den Personen, gegen die das Verfahren nach Eröffnung der Hauptverhandlung anderweitig rechtskräftig endete, beispielsweise durch einen Freispruch oder die Einstellung des Strafverfahrens. In der Strafverfolgungsstatistik wird laut Bayerischem Justizministerium aber nur nach Straftatbeständen unterschieden, nicht nach Modalitäten der Tatbegehung, beispielsweise dem Tatwerkzeug. "Daher können aus den genannten Statistiken auch keine Aussagen über Messerattacken im Zusammenhang mit Tätern nicht-deutscher Herkunft getroffen werden", so das Bayerische Justizministerium.

Mit den Angaben der Behörden lässt sich die Behauptung, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund oder Ausländer für Messerangriffe verantwortlich seien, also nicht prüfen.

Frage nach den Vornamen

Wenn Statistiken "deutsche" und "nicht-deutsche" Tatverdächtige unterscheiden, vermuten manche, dass sich unter den deutschen Tatverdächtigen hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund befänden. Der AfD-Politiker Rudolf Müller war von 2017 bis 2022 Landtagsabgeordneter im Saarland. Er fragte 2019 die dortige Landesregierung, welche Vornamen bei den "als Täter aufgeführten deutschen Staatsbürgern" von Messer-Delikten besonders häufig vorkämen. Die Antwort der Landesregierung: "Michael, Daniel und Andreas" seien die häufigsten Vornamen der deutschen Tatverdächtigen, gefolgt von "Sascha, Thomas, Christian und Kevin".

Allerdings sagen auch die gelieferten Vornamen nicht zwingend etwas über den möglichen Migrationshintergrund der Tatverdächtigen aus. Schließlich könnte auch eine Einwandererfamilie ihr Kind Michael nennen oder eine deutsche Familie ohne Migrationsgeschichte ihr Kind Mohammed. Dementsprechend ist auch die Frage nach Vornamen dahingehend nur bedingt aussagekräftig.

Studie: Kein Zusammenhang zwischen Messerattacken und Staatsangehörigkeit

Allerdings gibt es nicht nur die Polizeilichen Kriminalstatistiken oder die Auswertungen der Justiz. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen sich mit der Frage, ob Messerkriminalität beispielsweise mit der Staatsangehörigkeit in einem kausalen Zusammenhang steht.

So verweist das Bundesjustizministerium in seiner Antwort an den #Faktenfuchs auf eine Studie aus dem Jahr 2022 der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ), die unter anderem von Elena Rausch veröffentlicht wurde und den Titel "Ausmaß und Entwicklung der Messerkriminalität in Deutschland" trägt. Doch auch hier existiere das Problem, dass es in den Statistiken höchstens die Unterscheidung "deutsch" oder "nicht-deutsch" gebe, sagt Rausch. "Und das umfasst eben nicht den Migrationshintergrund, sondern die Staatsangehörigkeit. Und das Gleiche ist in der Forschung der Fall." Die Juristin konnte für die Studie lediglich auf die Staatsangehörigkeit der Täter als Variable zurückgreifen.

Für die Studie hat Rausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen das Phänomen Messerkriminalität am Beispiel des Bundeslandes Rheinland-Pfalz analysiert. Dabei wurden Urteilstexte von 519 rechtskräftig wegen schwerer Gewaltkriminalität verurteilten Personen ausgewertet. Die Forscherinnen und Forscher untersuchten die Jahre von 2013 bis 2018. "Wir haben geschaut, bei wie vielen tatsächlich ein Messer eingesetzt wurde. Wir haben bestimmte Merkmale verglichen, die in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielen", erklärt Elena Rausch das Vorgehen im #Faktenfuchs-Interview.

Die Forscherinnen und Forscher analysierten die Zahlen auf Merkmale wie Alter der Täter, deren Staatsangehörigkeit, Geschlecht und die Tatumstände – ob es ein zufälliger Angriff im öffentlichen Raum war oder ob sich Täter und Opfer vorher bereits kannten.

Die Studie zeigt, dass ein "massiver Anstieg" der Messergewalt nicht nachgewiesen werden könne und dass es "keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen Messerkriminalität und schwerer Gewaltkriminalität insgesamt hinsichtlich der untersuchten Variablen, insbesondere der Staatsangehörigkeit, gibt". Das heißt, dass die Studie keinen Zusammenhang zwischen der Staatsangehörigkeit und dem Einsatz eines Messers bei einem Gewaltdelikt nachweisen konnte.

"Als Fazit muss man sagen, dass wir diese ganzen Narrative, die es in der öffentlichen Diskussion gibt, nicht bestätigen konnten". (Elena Rausch, Autorin einer Studie zum Thema Messerkriminalität)

Expertin: Zufallsopfer sind selten

Obwohl es keine entsprechenden Daten dazu gibt, wird Messerkriminalität oft einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zugeschrieben. Woran liegt das? "Ich glaube, dass das viel an der medialen Berichterstattung liegt und an der Wahrnehmung, die dadurch auch geprägt ist", sagt Elena Rausch von der Kriminologischen Zentralstelle. Der Juristin zufolge spielen die Messerattacken im öffentlichen Raum, bei denen ein Täter ihm unbekannte Opfer attackiert, eine große Rolle in den Medien. Derlei Attacken erzeugten ein großes Echo und beeinflussten auch die breite gesellschaftliche Wahrnehmung zum Thema Messergewalt. "Das spiegelt aber nicht unbedingt die Realität wider. Das ist ein sehr selektiver Ausschnitt der Messergewalt, wie sie insgesamt stattfindet", sagt die Expertin.

In ihrer Studie hat Rausch auch die Täter-Opfer-Beziehung analysiert. Meist handelte es sich bei den Messerattacken um Taten, bei denen sich Täter und Opfer kannten. Messerangriffe im öffentlichen Raum auf Unbekannte, also auf "absolute Zufallsopfer", machen laut der Studie weniger als fünf Prozent aller Fälle aus. Das heißt, "das, worüber wir immer diskutieren und was immer diesen großen Aufschrei auslöst, das sind ganz schreckliche einzelne Delikte", konstatiert die Wissenschaftlerin.

Sie beobachte vielmehr, dass Messer häufig "im Kontext von Partnerschaftsgewalt bei Femiziden eingesetzt werden. Und das sind auch extrem schreckliche Delikte, unter Umständen nicht minder schrecklich als die, die einen Aufschrei auslösen." Rausch zufolge lösen solche Taten in der Medienlandschaft aber "eigentlich nie ein derartiges Echo" aus. Man finde dazu "nicht mal ansatzweise so viele Berichte oder Auseinandersetzungen".

Eine Studie der Macromedia Hochschule zeigte 2019 zudem, dass über Straftaten, an denen Flüchtlinge und Migranten beteiligt sind, besonders intensiv in den Medien berichtet wird. Demnach wurden ausländische Tatverdächtige 2019 in Fernsehberichten 19-mal häufiger erwähnt, als es ihrem statistischen Anteil entspricht. In Zeitungsberichten lag die Zahl laut Studie sogar beim 32-fachen. Der Autor der Studie, der Journalistik-Professor Thomas Hestermann, bilanziert: "Der gewalttätige Ausländer ist eine zentrale Angstfigur im deutschen Journalismus."

Mehr Anzeigen gegen "fremde" Tatverdächtige

Christian Pfeiffer ist ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Der Jurist und Kriminologe weist auf einen weiteren Fakt hin, der ihm zufolge in Bezug auf die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Pfeiffer hat mit seinem Forscherteam untersucht, welche Faktoren dazu beitragen, dass Opfer einer Straftat diese anzeigen.

2018 veröffentlichten er und sein Team die Studie mit dem Titel "Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland - Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer". Die Opferbefragungen in Niedersachsen hätten ein Grundmuster bestätigt: "Je fremder der Täter ist, umso mehr wird er angezeigt". Die Studienautoren begründen das wie folgt: Wenn ein Opfer den Täter nicht kenne, steige die Anzeigenquote. Bei einem Täter aus dem persönlichen Umfeld des Opfers zögerten Opfer eher, diesen anzuzeigen. Hintergrund sei die Befürchtung, sich für die Anzeige rechtfertigen zu müssen oder gar vom Täter unter Druck gesetzt zu werden.

Ein ähnliches Grundmuster zeige sich, wenn der Täter dem Opfer nicht nur unbekannt, sondern zudem nicht-deutsch ist. Für Minderheitenangehörige könne sich daraus eine erhöhte Wahrscheinlichkeit ergeben, wegen einer Straftat angezeigt zu werden, so ein weiteres Ergebnis der Studie. Allerdings erhöhe sich das Anzeigerisiko auch, wenn das Opfer und der Täter beide nicht-deutsch sind, aber aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen stammen.

Wenn das Opfer allerdings nicht-deutsch ist und der Täter ein Deutscher, dann zeigen die Opfer die Tat "erheblich seltener an als andere Täter, die ihnen ethnisch fremd sind". Die Forscher begründen das damit, dass die befragten Jugendlichen aus Migrantengruppen "teilweise der deutschen Polizei eine Parteinahme für den von ihnen beschuldigten deutschen Täter unterstellen und deswegen auf eine Anzeige verzichten, oder dass sie generell den Kontakt zur deutschen Polizei scheuen".

Dieser Einschätzung schließt sich auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) an, ein gewerkschaftlicher Berufsverband von Kriminalpolizistinnen und Kriminalpolizisten. Man könnte sagen – etwas pauschalisiert: "dass Deutsche eher geneigt sind, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten als vielleicht Zugewanderte, die gerade erst hier angekommen sind", schreibt der BDK auf seiner Internetseite. Dabei spielten unter anderem mögliche Ressentiments von Zuwanderern gegenüber der Polizei und Sprachbarrieren eine Rolle.

Kriminologe: Diskussion dient politischer Agenda

Dirk Baier von der Hochschule Zürich arbeitete an der zitierten Studie von Christian Pfeiffer mit. Aus kriminologischer Perspektive müsse man "ganz klar sagen, Staatsangehörigkeit oder Geburtsland haben nichts mit Kriminalität zu tun. Also sind sie nie Ursachen von Kriminalität". Baier sieht in der Diskussion vielmehr eine politische Agenda. Wer Kriminalität mit Migranten oder Flüchtlingen in Verbindung bringe, könne auch schnell eine vermeintlich einfache Lösung anbieten: "Die dann lautet: Wir müssen die ja nur aus Deutschland rausbringen, dann haben wir keine Kriminalitätsprobleme." Das sei aber viel zu kurz gedacht, so Baier.

Aus der Praxis berichten kann Rafael Behr. Er ist Professor für Polizeiwissenschaften an der Polizeiakademie Hamburg und war selbst jahrelang als Polizeibeamter in Hessen im Einsatz. Ihm zufolge ist es aus soziologischen Gründen nachvollziehbar, dass sich ein Teil der Öffentlichkeit bei Messerangriffen auf die Nationalität oder den Migrationshintergrund von Tätern fixiere. "Aber das hat mit der Tat und mit dem Messer nichts zu tun, sondern das sind andere Dimensionen. Das ist Fremdenangst, das ist Angst vor uneinschätzbaren Personen und Menschen", sagt der Soziologe im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Unter kriminalistisch-kriminologischen Gesichtspunkten würden aber andere Attribute eine größere Rolle spielen "als die Nationalität, der Migrationshintergrund oder auch der ethnische Hintergrund".

Behr zufolge seien schon "ganz viele Leute" an der Theorie, dass Menschen aus einem anderen Kulturkreis "Dinge tun, die man hier überhaupt nicht tun könnte" gescheitert und verweist dabei auf die Ermittlungen der Polizei im NSU-Komplex: "Wie sehr sich da die Profiler geirrt haben, weil sie sagen, das war eine Tatbegehungsweise, die ein Europäer nie tun würde." Hintergrund ist, dass während der NSU-Mordserie ein Kriminalpolizist in einer Akte bzgl. der Morde schrieb: "Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist. Auch spricht der die Gruppe prägende rigide Ehrenkodex eher für eine Gruppierung im ost- bzw. südeuropäischen Raum (nicht europäisch westlicher Hintergrund)". Die NSU-Morde aber wurden bekanntlich von deutschen Rechtsextremen begangen.

Fazit

Die offiziellen Polizeilichen Kriminalstatistiken zählen seit 2020 die Straftaten im Phänomenbereich Messerangriffe. Allerdings werden diese nicht oder nur bedingt nach der Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen ausgewertet. Aus rechtlichen Gründen wird nicht erhoben, wie viele Tatverdächtige einen Migrationshintergrund haben. Die Behauptung, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund oder Ausländer Messerangriffe verübten, ist nicht be- oder widerlegbar. Zudem werden in den Statistiken nur Tatverdächtige geführt. Nicht erfasst wird, ob diese auch die tatsächlichen Täter waren.

Die vom #Faktenfuchs befragten Experten sagen, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Messergewalt und der Staatsangehörigkeit der Täter gebe. Eine Studie belegt das anhand der Zahlen von rechtskräftig verurteilten Gewalttätern, die ein Messer eingesetzt haben. Die Studie zeigte außerdem: Meist handelte es sich bei den Messerangriffen um Taten, bei denen sich Täter und Opfer kannten. Messerangriffe im öffentlichen Raum auf vollkommen Unbekannte machten weniger als fünf Prozent aller Fälle aus.

* Disclaimer 20.09.2023, 12:30: Wir haben die Zahlen für das Jahr 2021 ergänzt.

** Disclaimer 20.09.2023, 11:20h: Wir haben den Satz in den Konjunktiv gestellt, um deutlich zu machen, dass diese Einordnung durch die Bundespolizei erfolgt.

Im Audio: Warum die Messerangriff-Zahlen intransparent sind

#Faktenfuchs: Warum die Messerangriff-Zahlen intransparent sind
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Grafik zu Messerangriff-Zahlen

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