Die Ukraine werde jetzt "alles tun, um die sechs Monate, die mit Debatten und Zweifeln verstrichen sind, wettzumachen." Mit seiner Reaktion auf die langersehnte Freigabe des 61 Milliarden Dollar schweren Hilfspakets durch den US-Kongress gab der ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Ende April so deutlich wie selten zuvor zu erkennen: Die halbjährige Blockade der republikanischen Kongressabgeordneten, also auf Geheiß von Donald Trump die lebensnotwendigen Munitions- und Waffenlieferungen Amerikas nicht freizugeben, hat gravierende Folgen für die ukrainischen Streitkräfte gehabt.
Was Militärexperten und Analysten seit Oktober letzten Jahres mit zunehmender Dringlichkeit beschrieben hatten – dass der Mangel an Munition und Soldaten zu fortschreitenden Geländegewinnen der russischen Angreifer führen würde – benannte Selenskyj vor wenigen Tagen in Kiew so: "Die russische Armee versucht nun, eine Situation auszunutzen, in der wir auf Nachschub von unseren Partnern warten." Von der Geschwindigkeit, mit der Waffen und Munition an die kämpfenden Einheiten geliefert würden, hänge die "Stabilisierung der Front", ab. Kurzgefasst, so der ukrainische Präsident: "Russland bereitet sich auf offensive Aktionen vor."
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Militärunterstützung – aber mit welcher Strategie?
Je länger der russische Eroberungsfeldzug in der Ukraine andauert, desto beständiger wiederholen Spitzenvertreter der ukrainischen Unterstützerstaaten ihre Zusicherung: Sie würden die Ukraine militärisch, politisch, wirtschaftlich und finanziell "so lange wie nötig" unterstützen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verwendet in diesem Zusammenhang den inzwischen oft gehörten Satz: "Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren." Verbirgt sich hinter diesem Ausdruck die bewusste Ambivalenz des Kanzlers, einerseits der Ukraine zur Seite zu stehen, andererseits Russland "nicht zu provozieren?"
US-Präsident Joe Biden, dessen bedächtigem Ukraine-Kurs sich Scholz oftmals anpasst, machte sich von Kriegsbeginn an die Formulierung "as long as it takes" zu eigen, um die amerikanischen Hilfslieferungen an Kiew zu begründen. Auch Biden verfolgt diesen taktisch bedingten "Sowohl-als-auch"-Ansatz, der mit Blick auf die Ukraine-Hilfen bewusst vage bleibt.
Wenig überraschend greift David Cameron auf die gleiche Ausdrucksweise zurück. Erst am Donnerstag dieser Woche kündigte der britische Außenminister und Ex-Premier des Vereinigten Königsreichs in Kiew an, London werde pro Jahr drei Milliarden Pfund für die militärische Unterstützung Kiews ausgeben, und zwar so lange wie nötig – "as long as it takes".
Aber was heißt das genau? Welche strategischen Ziele verbergen sich hinter den Erklärungen der ukrainischen Unterstützerstaaten? Muss Putin seinen Angriffskrieg verlieren, damit der Kontinent eine sichere Zukunft hat? Dient die militärische Unterstützung der Ukraine den eigenen Sicherheitsinteressen? Was machen die Ukraine und die europäischen Verbündeten, wenn Donald Trump im November die US-Präsidentschaftswahlen gewinnt und Europa sich selbst verteidigen muss?
Kritische Monate für die Ukraine
Es sei nach mehr als zwei Jahren nach Beginn des Krieges eine "schlichte Tatsache", dass die westliche Waffenproduktion nur einen Bruchteil der Kapazitäten aufweise, die für die Unterstützung der Ukraine erforderlich seien, bilanziert der britische Verteidigungsexperte Peter Apps in einem Kommentar für die Nachrichtenagentur Reuters. Russlands Kriegswirtschaft produziere derzeit nach Schätzungen der Nato 250.000 Artillerie-Granaten pro Monat, also drei Millionen in einem Jahr. Die USA hofften, ab 2025 in der Lage zu sein, 100.000 Granaten monatlich herstellen zu können.
In allen Bereichen, ob Munition, Waffen und Personal, werde "die Kluft zwischen den militärischen Fähigkeiten Russlands und der Ukraine immer größer", heißt es in einer Analyse des US-Thinktanks "Atlantic Council", die Ende April veröffentlicht wurde. Zwei Indizien würden darauf hindeuten, dass in den kommenden Monaten "ein wichtiger Entscheidungspunkt in diesem Krieg bevorstehen könnte": Die jüngsten Erfolge der russischen Streitkräfte an der Front sowie die Tatsache, "dass die US-Hilfe für die Ukraine erst nach monatelangen Verzögerungen vom Kongress bewilligt wurde."
Und selbst falls die unmittelbaren Prioritäten der Ukraine an Munition, Waffen und Logistik gedeckt worden wären, bliebe die grundsätzliche Frage offen: "Wie kann der Ukraine geholfen werden, ihre Zukunft zu sichern?", so der ehemalige US-Botschafter bei der Nato, Ido Daadler, und die Ex-Diplomatin Karen Donfried im Fachmagazin "Foreign Affairs". Diese Frage müssten die Staats- und Regierungschefs der transatlantischen Allianz beantworten, wenn sie im Juli in Washington zu ihrem Gipfeltreffen anlässlich der 75. Jahrestages der Nato-Gründung zusammenkommen.
Eskalation vor dem Nato-Gipfel in Washington?
Die Freigabe der amerikanischen Ukraine-Hilfe durch den US-Kongress bedeute, dass das Pentagon "schon bald dringend benötigte Munition und Luftabwehrsysteme an die Front schicken könnte." Doch zeitgleich, so die Analyse im "Atlantic Council", befinde sich der "russische Vorstoß bereits im Anfangsstadium." Dies könnte die Allianz in eine Krise stürzen, die weitaus größer sei als "der derzeitige Streit darüber, wer mehr für die Ukraine ausgibt."
Das Szenario, auf das sich die westlichen Staats- und Regierungschefs der Nato einstellen müssten, sähe wie folgt aus: Die neue Offensive Russlands werde wahrscheinlich "mit dem bevorstehenden fünfundsiebzigsten Jahrestag des Nato-Gipfels in Washington vom 9. bis 11. Juli" zusammenfallen. Putin könnte die Gelegenheit nutzen, um während des Washingtoner Gipfels eine Großoffensive zu starten. Die Absicht Putins: Er könnte "das Bündnis genau dann demütigen, wenn es feiere, wie es ein Dreivierteljahrhundert lang Moskaus imperiale Ambitionen" eingedämmt habe.
Wäre US-Präsident Joe Biden dann in der Lage, seine Strategie "so lange wie nötig" beizubehalten, um die Ukraine zu unterstützen und gleichzeitig das Risiko einer nuklearen Eskalation zu minimieren? Die Berater des amerikanischen Präsidenten könnten, so die Analyse des "Atlantic Council", einen "russischen Durchbruch in der Ukraine" nur wenige Monate vor den Wahlen im November "als unhaltbare Belastung" ansehen. Denn dann könnte Donald Trump "das Scheitern der US-Politik in der Ukraine" zu einem Wahlkampfthema machen.
Erforderlich sei, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, "eine ernsthafte öffentliche Diskussion über eine Vision des Sieges". Die bisherigen Beteuerungen würden jetzt nicht mehr weiterhelfen. Beteuerungen wie etwa die Formel des Bundeskanzlers: "Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren", oder das Bekenntnis, die Unterstützung des Westens für die Ukraine sei "unerschütterlich". Vielmehr müsse in der Öffentlichkeit debattiert werden, welche "Endzustand" die Nato anstrebe, mit klar definierten geostrategischen Begriffen und "nicht in Form einer allgemeinen Unterstützung mit offenem Ende, gefolgt von der Bereitstellung von Ressourcen zur Erreichung dieser Ziele."
Zum Podcast "Die Entscheidung": Showdown in Bukarest - Ukraine, Russland und die Nato (1/4)
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