"Wenn Sie noch nie gesehen haben, wie eine Ansiedlung aussieht, um die seit fast einem Jahr gekämpft wird, dann sehen Sie sich das an", empfiehlt der russische Militärblogger Semjon Pegow seinen Lesern zu Luftbildern aus Robotyne [externer Link]. Der populäre Kommentator ("Wargonzo", eine Million Follower) verweist darauf, dass es in dem Gelände praktisch keinerlei Deckungsmöglichkeiten mehr gebe: "Das Hauptproblem besteht darin, in einem Gelände Fuß zu fassen, in dem es keinen Halt gibt, insbesondere wenn ukrainische Granaten und Kamikaze-Drohnen auf Sie zu fliegen. Sie sehen, was aus den [völlig zerstörten] Gebäuden geworden ist. Die zum Sarkasmus neigenden Sturmtruppen nennen sie untereinander 'Bungalows'. Es wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre."
- Zum Artikel: "'Vorteil dummerweise nicht von Dauer': Kann Putin abwarten?"
Symbolträchtig wie die Höhe "Toter Mann"
Der Ort spielt seit Monaten eine Hauptrolle in Putins Propagandaschlacht, was ihn vergleichbar macht mit unrühmlich bekannten historischen Vorbildern wie dem "Toten Mann" (frz. "Le Mort Homme") im Ersten Weltkrieg, einer Geländehöhe, um die in der Schlacht um Verdun im März 1916 erbittert gerungen wurde. Ein riesiges Denkmal erinnert bis heute daran: Es zeigt ein Skelett, das einen gefallenen Soldaten symbolisieren soll, der sein Leichentuch abstreift. Allein auf französischer Seite fielen an dieser Stelle rund 10.000 Kämpfer, die deutschen Angriffstruppen hatten ähnlich hohe Verluste.
Damals soll der deutsche Oberbefehlshaber Erich von Falkenhayn (1861-1922) die sinnbildliche Bedeutung von Verdun sogar vorsätzlich genutzt haben, um die Franzosen in eine "Abnutzungsschlacht" zu verwickeln, wissend, dass sie alles in die Waagschale werfen würden, um den Ort am Ufer der Maas nicht zu verlieren. Die französische Regierung, so die Spekulation, hätte den Verlust der geschichtlich so bedeutsamen Stadt politisch nicht überlebt.
Noch immer "punktuelle Widerstandsnester" im Dorf
Ähnlich symbolträchtig wurde das ukrainische Robotyne deshalb, weil das Dorf einer der wenigen Orte war, die ukrainische Truppen bei ihrer "Gegenoffensive" im vergangenen Jahr nach blutigen Kämpfen von den Russen zurückerobern konnten. Es sei der "vielleicht einzige greifbare Erfolg" der Ukrainer gewesen, so die Moskauer Lesart. Umso versessener scheint der Kreml darauf zu sein, diesen Misserfolg vergessen zu machen und das von Granatentrichtern zerfurchte "Niemandsland" erneut zu besetzen.
So jubelte Putins Gefolgsmann Wladimir Rogow, ehemals Chef der russischen Weltraumagentur, am 1. Mai, die russische Flagge sei über dem Dorf gehisst, wenngleich es immer noch "punktuelle Widerstandsnester" gebe. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass alte Videos verbreitet worden waren und von einer Rückeroberung des Steppen-Geländes keine Rede sein konnte. "Das mit der Flagge ist großartig, obwohl sie schon vor langer Zeit und auf unserer Seite der Front, nicht auf der des Feindes aufgezogen wurde" kommentierte Blogger Oleg Sarew unfreiwillig komisch: "Es scheint, dass der positive Bericht an die Spitze den tatsächlichen Ereignissen voraus war. Jetzt 'holen wir fleißig auf' – die russischen Streitkräfte rücken vor, von Robotynes Befreiung zu sprechen ist zu früh."
"Unbedeutende Erfolge in den 'Kämpfen um ein Forsthaus'"
Jetzt empören sich die russischen Militärblogger über den grotesken Propagandakrieg. "Obwohl sich die ukrainischen Truppen weiter nach Norden zurückziehen, ist es jedenfalls noch zu früh, von einer vollständigen Kontrolle über das besiedelte Gebiet zu sprechen", so der oben erwähnte Pegow.
Deutlich drastischer drücken es die "Zwei Majore" aus (660.000 Fans), die vom "unglücklichen Robotyne" sprechen und ergänzen: "Natürlich hat der Feind unsere Annäherungsrouten längst herausgefunden und nutzt geschickt die Höhen am nördlichen Stadtrand von Robotyne, um uns unter Feuer zu nehmen und die Straßen zu verminen. Die Folgen mangelnder Manövrierfähigkeit und (entschuldigen Sie den bürokratischen Ausdruck) von stereotypen Handlungsweisen führen, wie wir sehen, zu unbedeutenden Erfolgen in den 'Kämpfen um ein Forsthaus'."
"Die Besetzung ist schwierig, weil von der Siedlung praktisch nichts mehr übrig ist", so der russische TV-Korrespondent Alexander Kots, der beklagt, dass der "Feind über genügend Überwachungsmittel" verfüge. Es gebe jedenfalls "noch keine vollständige Kontrolle". Blogger Boris Roschin bemerkte ironisch, eine Flagge zu hissen bedeute noch nicht, dass ein Gebiet erobert sei.
Blogger: "Die Giraffe weiß es besser"
Diese Kritik war kein Einzelfall: "Versuche, das dem Erdboden gleichgemachte Niemandsland zu besetzen und die Ukrainer auf der Liste unserer Ziele aus den Überresten der Befestigungsanlagen herauszuquetschen, sind ehrlich gesagt eine dumme Idee", so ein weiterer Blogger. Der einzige Zweck der Frontalangriffe sei es, einen "Sieg" zu verkünden, militärische Erwägungen spielten keine Rolle: "Es scheint mir, dass es beim Gedanken an die Rückeroberung von Robotyne um PR geht, basierend auf den Ereignissen des letzten Sommers, als es die feindliche Gegenoffensive gab und jetzt vielleicht jemand an die Wiedereroberung der Siedlung denkt. Das wird im Informationskrieg wichtig sein. In diesem Fall handelt es sich jedoch um einen strategischen Fehler. Hier wird es keinen medialen 'Sieg' geben."
Mit bitterer Ironie wird angefügt, die "Giraffen", also die Befehlshaber, seien halt so groß, dass sich ihre Köpfe mitunter über den Wolken befänden, wo sie "nicht sehen" könnten, was sich direkt vor ihren Füßen abspiele. Sinnvoller sei es allemal, Robotyne zu "umgehen" oder abzuwarten, bis sich die Verhältnisse verbessert hätten: "Aber die Giraffe weiß es besser."
Falsche Aussagen im Fernsehen – "Entspricht nicht der Realität"
In den russischen Telegram-Kanälen, allerdings nicht in den zensierten Medien, sind erschütternde Reportagen aus Robotyne zu lesen: "Wir schalteten den Fernseher ein und da erzählten sie uns, dass der Kleinrusse [die Ukraine] ausgelaugt sei, sie hätten nichts mehr, womit sie kämpfen könnten und so weiter, seine Kapitulation sei bald zu erwarten", so ein zitierter russischer Frontkommandant: "Nein. Leider entspricht das nicht der Realität! Sie haben alles! Und Raketen! Und Schwärme von Drohnen! Sowohl die Technik, als auch die Kommunikationsmittel! Drohnen erlauben es Ihnen nicht, auch nur den Kopf zu heben, zu gehen, zu fahren oder einfach nur zu atmen! Raketen fliegen wie Drohnen schwarmweise."
Höchst selten komme es zu Infanterie-Gefechten. Auf einer Fläche von 500 mal 500 Metern gebe es im Kampfgebiet einen einzigen Keller, in den rund zehn Personen passten, so ein weiterer russischer Augenzeugen-Bericht von diesem Frontabschnitt. Sobald sich auch nur ein Soldat blicken lasse, werde dessen Unterschlupf von Drohnen unter Beschuss genommen: "Unser Personal kann sich nicht wehren. Wenn es zur Überwachung eine Straße betritt, wird es zu 100 Prozent angepeilt und auf jeden Fall vernichtet. Zehn bis 15 Drohnen im Anflug auf einen einzigen Keller sind keineswegs ein Märchen. So ist es."
Krynky "praktisch, aber nicht vollständig erobert"
Ähnlich grausam und rein propagandistisch begründet ist der Kampf um den winzigen Brückenkopf Krynky am linken Ufer des Dnjepr, wo ukrainische Soldaten weiterhin gegen verlustreiche russische Boden- und Luftangriffe ausharren, obwohl der russische Verteidigungsminister Schoigu Präsident Putin am 20. Februar mitgeteilt hatte, der Ort sei "genommen" worden. In dem "kleinen Weiler" sei im Übrigen "gar nichts Besonders geschehen". Putin hatte mit dem bemerkenswerten Satz reagiert, Krynky sei "praktisch, aber noch nicht vollständig" erobert, "vier oder fünf Ukrainer" würden sich dort noch "in Erdlöchern" versteckt halten.
"Jeder fragt sich, wieso die ukrainischen Streitkräfte immer noch in Krynky sind. Man fragt, ob es wirklich so unmöglich sei, alle in den Kellern und Ruinen mit Feuer auszuräuchern", so die "Zwei Majore", die sich zu einer Art Richtigstellung veranlasst sehen. Zwar würden die ukrainischen Soldaten Tag für Tag intensiv beschossen, aber sie kämpften dennoch weiter, immer neue Einheiten überquerten den Dnjepr: "Es ist offenbar so, dass sie nicht die Einstellung haben, befreit sein zu wollen."
Blogger: "Es kommt noch mehr"
Derweil streiten sich Schoigu und der Chef des russischen Rüstungskonzerns Rostec, Sergej Tschemesow, öffentlich, wer schuld ist am mangelnden Nachschub an Munition und Waffen: "Das ist ein ernstes Zeichen für ein Problem und gegenseitige Vorwürfe. Wie das ausgehen wird? Vielleicht mit Personalveränderungen." Ein weiterer Blogger schimpfte: "Lassen wir die Zuverlässigkeit der Daten außer Acht. Höchstwahrscheinlich sind 90 Prozent nicht wahr. Hauptsache, jeder sieht: Der Konflikt geht weiter. Was mit Inspektionen in Fabriken [durch Schoigu] begann, entwickelte sich zu Streitigkeiten innerhalb der Regierung. Bisher indirekt, aber es kommt noch mehr."
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