Mit dem 2011 beschlossenen Atomausstieg vereinbarten Bund und Länder, die erneuerbaren Energien massiv auszubauen, um die Stromlücke zu schließen. Nun wird klar: Der Ausbau ging viel zu schleppend, der Freistaat setzte zunächst auf Gaskraftwerke. Wegen Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine und der daraus folgenden Gaskrise steht Bayern nun unter Druck.
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Den Aussagen von Bund und Ländern, dass vor allem Bayern ein Problem bei der Energieversorgung habe, setzte Ministerpräsident Söder (CSU) Daten zum Ausbau der erneuerbaren Energien entgegen.
Danach sei Bayern angeblich besser beim Ausbau der Erneuerbaren als die anderen Bundesländer: "Wir liegen nach allen neuen Statistiken auf Platz 2 bei erneuerbaren Energien in Deutschland, wir liegen auf Platz 1 bei der installierten Leistung der erneuerbaren Energien und wir liegen nach jüngsten Aussagen der Bundesnetzagentur fürs erste Halbjahr klar auf Platz 1 beim Zubau der erneuerbaren Energien." Das behauptete CSU-Chef Markus Söder, als er Anfang August gemeinsam mit CDU-Chef Friedrich Merz das Atomkraftwerk Isar 2 bei Landshut besuchte.
Dieser #Faktenfuchs zeigt: Wissenschaftler halten diese Einschätzungen für verkürzt. Denn die von Söder verwendeten absoluten Zahlen müssten ins Verhältnis etwa zur Fläche oder zum Stromverbrauch gesetzt werden. Dann rangiert der Freistaat im Bundesvergleich eher im Mittelfeld.
Bayern ist Spitze - jedoch nur bei absoluten Zahlen
Zunächst ein Blick auf die von Söder angeführte "Installierte Leistung", wo Bayern laut der Aussage des Ministerpräsidenten den ersten Platz bei den Erneuerbaren belegt.
Bei der Installierten Leistung handelt es sich um "die elektrische Wirkleistung, die eine Anlage bei bestimmungsgemäßem Betrieb ohne zeitliche Einschränkungen unbeschadet kurzfristiger geringfügiger Abweichungen technisch erbringen kann", so steht es im Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Es geht also um die maximale Leistung, die theoretisch durch einen Energieerzeuger, etwa ein Windrad, erbracht werden kann.
Wenn man die absoluten Zahlen von Solar- und Windenergie betrachtet, ist Bayern tatsächlich - wie Söder behauptet - Spitzenreiter im Ländervergleich. Der Freistaat kommt hier laut Marktstammdaten der Bundesnetzagentur auf fast 19.000 Megawatt (MW) Installierte Leistung, gefolgt von Niedersachsen mit knapp 17.500 MW sowie Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg mit jeweils fast 13.000 MW Leistung.
In Relation zur Fläche liegt Bayern im hinteren Mittelfeld
Bruno Burger, Professor am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme in Freiburg (ISE), sieht den Gebrauch dieser absoluten Zahlen allerdings kritisch. Burger ist zuständig für die Auswertung der Marktstammdaten der Bundesnetzagentur.
Dem bayerischen Ministerpräsidenten wirft der Wissenschaftler bei der Auswahl der Zahlen "Rosinenpickerei" vor. Laut Burger sind die Werte bei der Installierten Leistung von erneuerbaren Energien erst wirklich aussagekräftig, wenn sie im Vergleich zur Fläche eines Landes und/oder zur Bevölkerungszahl berechnet werden. Dann aber sei Bayern allenfalls "mittelmäßig".
Bayern ist flächenmäßig das größte deutsche Bundesland. Und rutscht bei der "Installierten Leistung der erneuerbaren Energien pro Quadratkilometer" klar ab: auf Rang 9 der 13 deutschen Flächenländer, also ausgenommen der Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin. Spitzenreiter sind: Schleswig-Holstein, gefolgt vom Saarland, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Auch gerechnet auf die Bevölkerung liegt Bayern bei der Installierten Leistung im Mittelfeld.
Vergleich der Bundesländer: Interaktive Grafik zur Installierten Leistung von Solar- und Windenergie
Beispiel China: Flächenrelation ist entscheidend
Auch Stefan Holzheu ist der Ansicht: Die Zahlen sind nur aussagekräftig, wenn sie eine Vergleichsgröße haben. Holzheu ist Mitarbeiter am Zentrum für Ökologie und Umweltforschung an der Universität Bayreuth, unterrichtet dort unter anderem Statistik.
Am wichtigsten sei die Fläche, sagt Holzheu. Sie sei der Richtwert dafür, welches Potenzial ein Bundesland überhaupt für den Ausbau der erneuerbaren Energien habe. Auf Twitter stellte er in einem Vergleich fest, wie irreführend der Gebrauch von absoluten Zahlen beim Ausbau der erneuerbaren Energien sei.
Holzheu vergleicht dabei die absoluten Zahlen von Bayern und China. Natürlich steht China in diesem Fall und ohne Relation zur Größe des Landes klar besser da als der Freistaat. Er selbst ordnet das Beispiel im selben Thread als "Unsinn" ein – weil China eben um ein Vielfaches größer ist als Bayern und damit deutlich mehr Potenzial hat. Gemessen auf die Fläche ist Bayern hingegen deutlich weiter in Sachen Solar- und Windenergie.
Holzheu ist Sprecher der Bayreuther Scientists for Future und hat sich in den sozialen Netzwerken einen Namen gemacht als Verfechter der erneuerbaren Energien, insbesondere der Windkraft.
Installierte Leistung entspricht nicht der tatsächlichen Leistung
Der alleinige Blick auf die Installierte Leistung, auf die Söder sich beruft, ist noch aus einem anderen Grund verkürzt. Denn diese Installierte Leistung benennt lediglich die maximal mögliche Leistung einer Anlage – blendet dabei aber aus, wie viele Stunden sie mit welcher Leistung tatsächlich in Betrieb ist.
In der Praxis kommen etwa Solaranlagen hierzulande nur auf etwa halb so viele Volllaststunden pro Jahr wie Windräder. Mit Blick auf die Installierte Leistung in Bayern ist das relevant, denn: "Bayern ist Sonnenland" betonte Söder zuletzt ebenfalls immer wieder und zielte damit auf die Spitzenwerte ab, die der Freistaat im Hinblick auf die Photovoltaik erreicht.
"Sonnenland Bayern" – Photovoltaikausbau läuft vergleichsweise gut
Damit hat Markus Söder recht: In absoluten Zahlen liegt Bayern bei der Solarenergie im Ländervergleich vorne – in Abhängigkeit zur Fläche ist der Freistaat mit Platz 2 ebenfalls vorne dabei – und in Relation zur Bevölkerungsgröße auf Platz 4, wie unter anderem auch der Bericht des EEG Bund-Länder-Kooperationsausschusses aus dem Jahr 2021 zeigt.
Das bestätigt auch Detlef Fischer vom Verband der Bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft (VBEW): Bayern sei ganz unabhängig von der Größe ein Photovoltaik-Land "und das wird auch fleißig ausgebaut. Unsere Mitgliedsunternehmen können sich vor Anträgen, dass Photovoltaikanlagen ans Netz angeschlossen werden sollen, kaum retten", so Fischer.
Solarenergie bei Installierter Leistung überschätzt
Wer also nur auf die Installierte Leistung der Erneuerbaren Energien insgesamt blickt, überschätzt den Beitrag der Solarenergie. Denn die Photovoltaik, auf die Bayern so stark gesetzt hat, sei eben nicht dafür geeignet, eine "bedarfsgerechte Stromversorgung" sicherzustellen, sagt Fischer vom VBEW. Zwar sei Bayern "auf dem Papier gar nicht so schlecht". Doch habe Söder nur "mit Abstrichen" recht, wenn er Bayern als Vorreiter bei den erneuerbaren Energien sieht.
Die Photovoltaik "nutzt uns nachts nichts und im Winter kaum", so Fischer. Hier sei "zu wenig gemacht worden" gerade auch mit Blick auf das Speichern von überschüssiger Energie an sonnigen Sommertagen.
Gerade in Bayern, das vor allem auf Photovoltaik setzt, verzerre der alleinige Blick auf die Installierte Leistung die tatsächliche Lage, sagen auch Bruno Burger von der Fraunhofer-Gesellschaft und Stefan Holzheu. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme in Freiburg (ISE) stellte allerdings in seiner jüngsten Studie fest, dass die anderen Länder im Vergleich zu Bayern bei der Photovoltaik in den vergangenen Jahren aufgeholt haben. Der Anteil des Freistaats an der Menge aller Anlagen in Deutschland ist seit 2010 kontinuierlich gesunken.
Burger verweist jedoch darauf, dass Bayern seit Anfang 2022 laut Bundesnetzagentur wieder "kräftig zugelegt" habe.
Ist Bayern wirklich Zubau-Meister?
Bei den absoluten Zahlen für den Zubau von Solar- und Windenergie in 2021 liegt Bayern zwar auf Platz eins. Auf die Fläche gesehen belegt Bayern jedoch wieder einen Mittelfeldplatz. Mit gut 21 Kilowatt pro Quadratkilometer liegt der Freistaat auf Platz sechs, Spitzenreiter ist das Saarland mit einem Zubau von rund 33 Kilowatt pro Quadratkilometer.
Jedoch: Bayerns Anteil an den Erneuerbaren - sowohl beim Bestand als auch beim Zubau - entfällt fast komplett auf Solarenergie. Das trifft auch auf das von Söder erwähnte erste Halbjahr 2022 zu, wo Bayern - allerdings ebenfalls unter der Betrachtung der absoluten Zahlen der Bundesnetzagentur - Spitzenreiter ist. Der Zubau stammt ebenfalls fast ausschließlich aus Solarenergie.
Während die Leistung aus Photovoltaik in den Wintermonaten stark nachlässt, liefert Windkraft das ganze Jahr über Energie. Das zeigen die Daten des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft.
Welches Bundesland baute 2021 wie viel Solar- und Windenergie zu? Der Vergleich in der interaktiven Grafik:
Beim Wind ist Bayern klares Schlusslicht
Bezogen auf die Fläche belegt Bayern bei der Windkraft unter allen Bundesländern, mit nur 36 Kilowatt pro Quadratkilometer, den letzten Platz.
2021 wurden in Bayern sechs neue Windkraftanlagen genehmigt. Zum Vergleich: Im etwa halb so großen und deutlich dichter besiedelten Nordrhein-Westfalen waren es 181.
Hier ist Bayern bezogen auf die Landesfläche Schlusslicht beim Zubau. Laut Experten liegt das nicht zuletzt an der umstrittenen 10H-Regel.
Wasserkraft: Bayern stark, Potentiale allerdings erschöpft
Bayern und Baden-Württemberg, die bei Wind zwar schwach sind, profitieren topografisch bedingt von einer anderen Energiequelle: Wasserkraft. Bayern kommt dabei auf rund 40 Kilowatt pro Quadratkilometer Installierte Leistung - Spitzenwert im Ländervergleich. Zum Vergleich: Bei der Solarenergie sind es rund 230 Kilowatt/Quadratkilometer.
Laut Experten ist Wasserkraft, wie auch Biomasse, in diesem Kontext jedoch zweitrangig. Hier sei das Potential bereits weitgehend ausgeschöpft - für den Zubau an Erneuerbaren spielt es also keine Rolle mehr. Bundesweit erzeugt Wasserkraft gut drei Prozent des Stroms.
Strombedarf: Ist der Anteil der erneuerbaren Energien in Bayern tatsächlich gestiegen?
Bei ihren jüngsten Energiebilanzen betont die Staatsregierung, der Anteil der erneuerbaren Energien liege über 50 Prozent und sei gestiegen.
Das ist rein statistisch richtig, laut Burger vom Fraunhofer ISE aber irreführend. Seine Untersuchungen haben gezeigt: "Bayern erhöht die Anteile der Erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung auch dadurch kräftig, dass die Kernkraftwerke abgeschaltet werden."
Er macht folgende Rechnung auf: Der Anteil der erneuerbaren Energien berechnet sich aus den Erneuerbare Energien geteilt durch die gesamte Stromerzeugung. Während der Zähler - also die erneuerbaren Energien - nur leicht zunimmt, wird der Nenner - also die gesamte Stromerzeugung - durch die Abschaltung der Kernkraftwerke viel kleiner. Der Quotient – hier gleichbedeutend mit dem Anteil erneuerbarer Energien - wird größer.
Fazit
Söder stützt sich bei seinen Aussagen auf Statistiken, in denen Bayern eine gute Position einnimmt, obwohl diese Daten die angebliche "Vorreiterrolle" des Freistaats nicht stützen. Andere Zahlen, die für die Einordnung eine Rolle spielen - wie die Relation zur Fläche - lässt Söder außen vor. Laut Wissenschaftlern betreibt Söder damit "Rosinenpickerei".
Laut den absoluten Zahlen hat der Bayerische Ministerpräsident mit seinen Behauptungen zwar recht. Im Hinblick auf Fläche, Bevölkerung und die bedarfsgerechte Stromversorgung über das ganze Jahr hinweg gesehen steht Bayern bei den erneuerbaren Energien aber schlechter da als viele andere Bundesländer - und liegt Experten zufolge eher im Mittelfeld. Knackpunkt sei demnach der in Bayern geringe Ausbau der Windkraft.
Disclaimer 18.11.2022, 17:20: Wir haben im Artikel die Zahlen zu den genehmigten Windkraftanlagen in Bayern und in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2021 korrigiert und die Quellen dazu verlinkt.
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