Bei einer Ordensbeleihung am 31. Dezember 2022
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Da war die Welt noch in Ordnung: General Surowikin und Putin

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Rätselraten um Putins Generäle: "Russische Armee demoralisiert"

Die wildesten Gerüchte dürfen sich unwiderlegt verbreiten, weil der Kreml schweigt: Mit Waleri Gerassimow und Sergej Surowikin sind seit der Rebellion die wichtigsten Feldherrn von der Bildfläche verschwunden, was die Öffentlichkeit in Atem hält.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Nur eines ist wirklich gesichert: Weder der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow, noch Stellvertreter Sergej Surowikin haben sich seit der Meuterei des Söldnerführers Prigoschin in der Öffentlichkeit blicken lassen. Das verleitete russische wie internationale Medien, vor allem aber die Blogger-Szene, zu allerlei Spekulationen, die sämtlich unbewiesen blieben: "Die Telefonnummer von Surowikins Frau exisitiert nicht mehr." Zuletzt wollte das US-Nachrichtenportal Bloomberg erfahren haben, dass Surowikin von Ermittlern verhört und festgesetzt wurde, aber nicht, wie verschiedentlich behauptet, im Lefortowo-Untersuchungsgefängnis sitze. Die Tochter von Surowikin behauptete dagegen in einem Interview, ihr Vater sei "am Arbeitsplatz". Er habe sich ja nie täglich zu Wort gemeldet.

"Politik diskreditiert die Armee"

Völlig unabhängig vom Wahrheitsgehalt der einschlägigen Gerüchte riskiert der Kreml ein Machtvakuum an der Armeespitze und eine unkontrollierte Debatte über die Zukunft des Generalstabs, denn Putins Sprecher Dmitri Peskow wollte sich ausdrücklich nicht dazu äußern, wo sich Surowikin derzeit aufhält. Auch über Jewgeni Prigoschins Verbleiben wisse er nichts, so Peskow. Das wurde allgemein als höchst beunruhigendes Signal verstanden.

"Das politische System selbst diskreditiert die Armee und das Oberkommando unter Kriegs-Bedingungen auf unerklärliche Weise. Nach den Ereignissen vom Samstag ist die Armee demoralisiert. Nun wird die Armee angesichts einer Reihe von Gerüchten über die Verhaftung von Generälen und bevorstehende Repressionen gezwungen, Politikern zu willfahren, die Loyalität zu sich selbst und keinen Eid auf das Mutterland fordern", heißt es zerknirscht in einem der größten russischen News-Blogs ("Russland kurzgefasst").

"Surowikin weiß am meisten"

Die kremlnahen Propagandisten zeigten sich schier verzweifelt. Politologe Sergej Markow schrieb in seinem Telegram-Blog: "Die russischen Behörden müssen zeitnah und politisch reagieren. Zeigen Sie allen Surowikin! Ziehen sie es nicht in die Länge. Andernfalls werden viele denken, dass Massenverhaftungen, aber heimlich, begonnen haben. Zeigen Sie einfach Surowikin." Ansonsten könne der Westen behaupten, der Aufstand sei kein Alleingang von Prigoschin gewesen, sondern eine "umfassende Verschwörung der russischen Eliten gegen Putin".

Die Hauptaufgabe der Ermittlungen bestehe nicht "darin, herauszufinden, wer bestraft werden sollte, sondern darin, welche systemischen Fehler von verschiedenen Teilen der Regierung begangen" worden seien, so Markow, der erfahren haben wollte: "Surowikin muss viele Stunden lang, viele Tage lang verhört worden sein. Nicht weil er der Hauptverdächtige ist, sondern weil er der Hauptinformant ist. Er war der Hauptkontakt zwischen dem Verteidigungsministerium und Wagner, daher weiß er am meisten."

Surowikin, auch als "General Armageddon" bekannt, galt als Vertrauter der Wagner-Söldner und stand im Ruf eines hoch talentierten Soldaten, der zum Beispiel mit einer defensiven Befestigungslinie die ukrainische Offensive gebremst habe. Er wurde vielfach gelobt und ausgezeichnet und hatte sich in einem Netz-Video auch als erster General öffentlich gegen Prigoschins Aufstand ausgesprochen. Trotzdem scheint er unter Verdacht geraten zu sein, was viele "Z-Blogger", also Kriegsberichterstatter, empört und die Öffentlichkeit aufwühlt.

"Druckwelle an der Kremlmauer"

Politologe Wladimir Pastuchow räumte ein, dass diejenigen, die über Surowikins weiteres Schicksal zu entscheiden hätten, nicht zu beneiden seien: Die "Druckwelle" könne durchaus stark genug sein, die Kremlmauern einzureißen: "Übrigens sind sie ein seltenes architektonisches Denkmal des Mittelalters, und bei einem solchen Aufprall können sie wie der Kachowka-Staudamm einstürzen. Und hinter der Mauer ist nicht mal Wasser." Putins Problem sei, dass er "Hingerichtete" nicht begnadigen könne.

Inhaltlich ähnlich bewertet einer der prominenten Exilblogger die Lage: "Die Behörden stehen vor einer schwierigen Entscheidung. Säuberungen in der Armee durchführen oder nicht. Wenn man anfängt aufzuräumen (und die Hände jucken), dann bedeutet das erstens, dass es keine Rebellion, sondern eine Verschwörung war. Verschwörung in der Armee gegen den Präsidenten! In einem Land, das sich im Krieg befindet! Zweitens ist nicht bekannt, wie die Offiziere und Generäle reagieren werden. Der Aufstand zeigte, dass es, wenn schon keine Absprache mit Wagner, so doch zumindest Sabotage gab."

"Übermäßige Stärkung der Militäraristokratie"

Wenn niemand bestraft werde, bedeute das, erneut "Schwäche zu zeigen und Vertrauen in neue potenzielle Rebellen" zu setzen: "Wie wird sich die Regierung in einer solchen Situation verhalten? Höchstwahrscheinlich wird sie wie immer die schlechteste Option für sich wählen."

Alexej Venediktow, als "ausländischer Agent" gebrandmarkt, ist überzeugt, dass der Kreml mit Surowikin einen populären, unbequemen Konkurrenten aus dem Weg schaffen will: "Sie müssen einen Sündenbock dafür finden, dass Sie die Rebellion verschlafen haben. Gleichzeitig kann ihm die Kapitulation Chersons angelastet werden."

Ein Blogger aus Pskow fragte sich: "Ist der Militärputsch das Ergebnis angemahnter Veränderungen in der Gesellschaft und der politischen Struktur? Offensichtlich besteht hier kein direkter Zusammenhang. Der Putsch ist vielmehr eine Folge der übermäßigen Stärkung der Militäraristokratie in einem autoritären Staat. Hier muss sich die Regierung wirklich ändern."

"Kommunikation auf den Hund gekommen"

Das Ersetzen von Generälen durch Generäle sei niemals eine Möglichkeit, ein Problem zu lösen, hieß es im Blog des Experten Alexej Tschadajew. Er nannte ein Beispiel aus der russischen Vergangenheit: Als sich Zar Alexej am 1. Juni 1648 mit dem sogenannten "Salzaufstand" konfrontiert sah, bei dem führende Adelige wegen einer Haushaltskrise den Kopf des Großgrundbesitzers Boris Morosow forderten, sei der Mann nicht ausgeliefert, sondern nur ins Kloster gesteckt worden. Der Zar habe es "klüger" angestellt, zu einer Versammlung eingeladen und die Gesetze ändern lassen.

Bei Putin dagegen stellte Tschadjew eine massive Kommunikations- und Glaubwürdigkeitskrise fest: "Der Bereich der strategischen Kommunikation ist auf den Hund gekommen, die Kommunikation der Macht-Elite wurde durch Peskows Anrufbeantworter ersetzt, die Kommunikation über die Spezialoperation wird durch [Armeesprecher] Konaschenkows künstliche Intelligenz ersetzt, und in anderen Fragen kommuniziert überhaupt niemand mehr mit dem Land, sondern es ernährt sich nur noch von Agitprop unregelmäßiger Qualität." Deshalb sei es kein Wunder, dass der "bewaffnete Aufstand" zur "einzig möglichen Form" von Meinungsaustausch geworden sei.

"Die Arbeiter lieben es"

Der Kreml ringt auch deshalb mit einer angemessenen Kommunikationsstrategie, weil ihm völlig klar sein dürfte, was Blogger Dmitri Oreschkin auf den Punkt brachte: "Ja, Prigoschin war ein Held, warum? Erstens war er ein Krieger, und unser öffentliches Bewusstsein ist militarisiert, und zweitens verfügt er über ein eigenes Informationsimperium, er hat seinen Dienst früher und schneller aufgebaut als Putins Präsidententeam, was ihm die nötige PR verschaffte. In diesem Sinne ist er ein cooler Junge, der die Wahrheit sagt und die Bewohner des [Moskauer Villenviertels] Rubljowka mit den dicken und dummen Generälen beschimpfte. Die Arbeiter lieben es."

Für "stalinistische Säuberungen" sei Putin bisher nicht bekannt, war in den Debattenforen zu lesen. Der Präsident bevorzuge unauffälligere Methoden, seine Gegner kaltzustellen: "Die Ermittlungen werden einige Zeit in Anspruch nehmen, und um bei den Truppen keine zusätzliche Verwirrung zu stiften, ist es unwahrscheinlich, dass die Behörden in naher Zukunft eine Reihe groß angelegter Festnahmen durch Sicherheitskreise durchführen werden. Vielmehr werden sie auf Putins ruhige Art vorgehen, indem sie nach und nach einzelne Persönlichkeiten aus dem Geschäft entfernen oder Generälen, die das Vertrauen verloren haben, andere Pfründe zuschanzen."

"Jetzt spielen die Marionetten mit Putin"

Politologin Tatjana Stanowaja gab allerdings zu bedenken: "Das Problem an dieser Logik ist, dass Putin nicht mehr derselbe ist und es Akteure gibt, die ihre eigenen Pläne haben. Zum Beispiel [Verteidigungsminister] Sergej Schoigu, der durchaus daran interessiert ist, gegen die interne Opposition vorzugehen." Das Kreml-Regime bekomme eine "neue Qualität", meint die Expertin: "Wenn Putin früher mit seinen Marionetten spielte, wie er es wollte, beginnen die Marionetten jetzt, vor dem Hintergrund von Putins Distanziertheit und aufgrund seiner sehr verzerrten Sicht auf die Realität, mit ihm zu spielen. Ich war nie ein Befürworter der Vorstellung, dass Putin manipuliert wird, aber die Zeit wird knapp, der Präsident altert, 23 Jahre an der Macht fordern ihren Tribut."

Blogger Ilja Jansen ist ebenfalls überzeugt, dass Putins Tage gezählt sind: "Die wichtigste Rolle, das wichtigste Element unseres Systems, war schon immer der Schiedsrichter. Eine Person, die das Gleichgewicht bewahrte und über dem Kampfgeschehen stand, Konflikte löste und Kompromisse fand. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, dass der Schiedsrichter nicht funktioniert hat. Der Konflikt ist nicht beigelegt. Ein Kompromiss wurde nicht gefunden. Die wichtigste Funktion versagte. Jeder hat es gesehen. Viele Menschen sind sich dessen bewusst. Die Folgen können schlimm sein."

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