Die Generäle am 5. März 2023 bei einer Besprechung
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Dicke Luft: Sergej Surowikin (links) und Verteidigungsminister Schoigu (rechts)

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"Kriegspartei wurde umgehauen": Machtkampf um Putin geht weiter

Der Kreml riskiert den massiven Unmut des "radikal patriotischen Teils" der russischen Gesellschaft, weil er den bei den Fanatikern sehr populären General Surowikin festgesetzt hat. Putin könne deren Wut "nicht ignorieren", glauben Propagandisten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Mit "fieberhaften Aktivitäten" habe es Putin in den ersten Tagen nach dem Aufstandsversuch geschafft, die Lage zu stabilisieren, urteilt der im Ausland weilende bekannte Politologe Abbas Galljamow. Doch der ganze "positive Effekt" samt Charme-Offensive und Säuberungsaktionen sei verpufft, seit bekannt wurde, dass der als "General Armageddon" bezeichnete Sergej Surowikin höchstwahrscheinlich verhört und festgenommen wurde, was der US-Geheimdienst mittlerweile auch bestätigte. Nähere Angaben wurde dazu vom Kreml bisher nicht gemacht, Putins Sprecher Peskow verwies für entsprechende Auskünfte auf das Verteidigungsministerium, das traditionell schweigt. Die Gerüchte um Surowikin, dem stellvertretenden Armeechef, erregten jedenfalls "größte Aufmerksamkeit", meint Galljamow, und mit diesem Eindruck steht er nicht allein da.

"Nur Patrioten werden zu Opfern bereit sein"

Auch der kremlnahe Politologe Sergej Markow fühlt sich mehr als unbehaglich. Er spricht von "Schwierigkeiten", die Meuterei politisch aufzuarbeiten: "Der radikal patriotische Teil der russischen Gesellschaft sagt, dass dieser Aufstand zwar inakzeptabel gewesen sei, aber von dem Teil der Regierung verursacht wurde, der die Spezialoperation 'versickern' lässt und nach Wegen sucht, Frieden mit dem Westen zu schließen." Der Einfluss dieser Partei könne "nicht ignoriert" werden, behauptet Markow, weil sich die Regierung in einem "kritischen Augenblick nur auf sie verlassen" könne: "Nur sie werden, wenn überhaupt, zu Opfern bereit sein." Die Loyalität heuchelnden Bürokraten dagegen würden sich auf Knopfdruck in alle Winde zerstreuen, wenn es ernst werde: "An kritischen Tagen dampfen die alle über die Wolga in den Ausflugsort Pljos oder nehmen das Flugzeug nach Dubai."

Durch Surowikins mutmaßliche Festnahme sei die "Kriegspartei buchstäblich umgehauen" worden, heißt es in einer aktuellen Analyse auf "Russland kurzgefasst", einem Portal mit knapp 500.000 Fans. Auf Putin laste jetzt "psychologischer Druck", zumal Kampfeinheiten "besorgt" darüber seien, dass mit Surowikin ein Kriegsheld aus der Öffentlichkeit verschwand. Die Einsatzbereitschaft an der Front sinke bereits. Doch Verteidigungsminister Sergej Schoigu, ein enger Vertrauter Putins, der wegen seiner militärischen Erfolglosigkeit von den Fanatikern wüst beschimpft wird, halte Surowikin für einen "Intriganten, Schwätzer und Lügner" und habe dessen Rauswurf schon beschlossen.

"Sie haben den Hund erschossen"

Das klingt plausibel, galt Surowikin doch tatsächlich als Verbindungsmann zum aufständischen Söldnerchef Prigoschin. Der General war "Ehrenmitglied" der "Wagner"-Truppe, womöglich unter der Hand sogar einer der Top-Kommandeure, und wurde von Prigoschin immer wieder hymnisch gelobt, ja als neuer Armeechef empfohlen.

Ungestraft äußern sich Prigoschins und Surowikins Fans weiterhin in den russischen Blogs. Einer der Veteranen, Kampfname "Brest", klagte wortreich: "Wir wurden wie ein Hund behandelt, dem der Befehl gegeben wurde, seine Beute zu beißen, und in dem Moment, in dem er seine Wunden leckte, nahm man ihn einfach und erschoss ihn. Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation ist ein sehr greiser und sehr heruntergekommener Apparat, der einfach in Korruption versunken ist." Leider habe der Verteidigungsminister "Beratung und Unterstützung" dankend abgelehnt.

Ultrapatriot Alexander Stawer, Autor des Militärportals "Topwar", machte kein Hehl daraus, dass er auf Seiten der Söldner steht: "Meuterei ist nur ein Zünder. Ein Zünder, der eine schwere Landmine in unserem Land in die Luft jagte." Es sei förmlich ein "Abszess" geplatzt: "Es fängt also gerade erst an. Sollten wir uns mit den Problemen befassen, die Prigoschin genannt hat? Unbedingt. Schließlich hat er Recht. Müssen wir uns mit den 'Abgehauenen' auseinandersetzen? Unbedingt! Sollten wir mit Bloggern und Journalisten aufräumen, die gegen den Staat sind? Unbedingt."

"Realität könnte Sie leugnen, meinen Herren"

Der Ex-Politiker und Frontkommandeur Alexander Chodakowski verwies auf die vielen "Likes", die Prigoschin nach wie vor im Netz bekomme: "Diese Reaktion ist für mich kein Grund, seine Fans nicht zu mögen, sondern noch mal über den Zustand der Gesellschaft nachzudenken, über ihre unbefriedigten und unerfüllten Bedürfnisse." Die Realität in Russland sei jedenfalls "härter", als die Propaganda nahelege: Bei weitem nicht jeder finde Menschen unsympathisch, die die Regierung stürzen wollten.

In diesem Zusammenhang machte sich der Gouverneur von Rostow am Don lächerlich, der behauptete, alle, die in seiner Stadt während des Aufstands die Söldner bejubelt hätten, seien "Söldner in Zivil" gewesen, deshalb auch die vielen "Fahnen und Umarmungen". Dazu Blogger Ilja Jansen: "Waren die Frauen und Kinder vom geheimen Angriffskommando? Wenn Sie hartnäckig die Realität leugnen, könnte die Realität beginnen, Sie zu leugnen, meine Herren."

"Jubeln und Feuerwerk anzünden"

Politologe Alexander Baunow vertrat die originelle These, dass Putin und Prigoschin eines gemeinsam hätten: Sie hätten beide "mehr Fans als Verbündete". Im Fall des Söldnerchefs bedeute das: "Es gibt ziemlich viele, die sich wünschen, dass er gewinnt, und es gibt fast niemanden, der aufstehen und ihm folgen würde." Dahinter verberge sich die "naive Hoffnung" auf einen Messias, der "alles so regelt, wie es die Gerechtigkeit" erfordere, egal, wer das sei. Letztlich vertrete die Bevölkerung die Ansicht: "Einer wird diesen Krieg irgendwie so beenden, wie es sein sollte, das heißt, es wäre schön zu gewinnen, damit wir wieder stolz auf uns sein können, an einem Feiertag fröhlich jubeln und chinesisches Feuerwerk von den Balkonen zünden können."

"Viele weitere Überraschungen"

"Wer auch immer Prigoschin sein mag, er hat eindeutig weniger Angst vor dem russischen Volk als der andere, der die Sicherheitskräfte um sich herum mobilisiert", war in den Kommentarspalten der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" zu lesen. Ein weiterer Leser und Prigoschin-Fan bezog sich auf ein Zitat von Oscar Wilde: "Ich habe so viele Verleumdungen gegen dich gehört, dass ich keinen Zweifel mehr habe: Du bist ein wunderbarer Mensch!"

"Leider endete eine schöne einjährige Geschichte in einer total hässlichen Situation", seufzt TV-Propagandist Roman Golowanow, erschüttert darüber, dass die Söldner wohl nicht mehr an die Front eilen werden. Es werde "viele weitere Überraschungen" geben, wenn die "wahren Gründe" für den Aufstand bekannt würden. Putin werde allerdings auf gar keinen Fall "Dinge tun, die seinen Überzeugungen widerliefen", dazu gehörten auch Personalentscheidungen, die von den Patrioten gefordert würden. Gemeint ist etwa die Entlassung von Verteidigungsminister Schoigu.

"Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Liberalen"

Spötter schrieben mit Blick auf den abstürzenden Rubel-Kurs gegenüber Dollar und Euro: "Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Liberalen. Sie zetteln keine Unruhen an. Es gibt keine öffentlichen Debatten. Sie haben keine schweren Waffen und besetzen keine Hauptquartiere. Sie überzeugten Putin davon, dass die Partei zur Schwächung des Rubels derzeit die einzige politische Kraft ist, die das Land aus der Krise führen kann. Alle anderen politischen Gruppen wurden ganz oder halb an den Rand gedrängt. Es macht sogar Spaß, Prigoschin und seine Rebellion aus verschiedenen Blickwinkeln zu diskutieren. Wie schon der Klassiker des wissenschaftlichen Kapitalismus [Amschel Meyer-Rothschild] sagte: 'Gebt mir die Kontrolle über die Währung einer Nation, und es ist mir gleichgültig, wer die Gesetze macht!'"

"Es liegt uns nichts vor"

Derweil soll das Vertrauen in die Arbeit von Putin laut interner Umfragen förmlich abgestürzt sein, heißt es in einem Bericht des gewöhnlich gut informierten Exil-Portals "Meduza" unter Berufung auf Teilnehmer eines Krisentreffens im Kreml. Es gebe Probleme mit der Akzeptanz, soll ein Vertreter der Präsidialverwaltung eingeräumt haben: "Es wird mehr Kontakte zwischen dem Präsidenten und dem Volk geben, er wird häufiger auftreten." Ob das allerdings reicht, bezweifeln sogar Insider.

Dass der Kreml die Lage bei weitem noch nicht unter Kontrolle hat, zeigte eine Recherche von BBC News, wonach mehr oder weniger alle Büros von Jewgeni Prigoschins Söldner-Truppe in Russland munter weiter Personal rekrutieren. Es habe sich "nichts geändert", soll es in den etwa ein Dutzend kontaktierten Außenstellen geheißen haben. "Wir haben absolut nichts mit dem Verteidigungsministerium zu tun", wurde von einer Personalberaterin beteuert. "Wir arbeiten weiter. Wenn sich etwas geändert hätte, hätten sie es uns gesagt. Aber es liegt nichts vor."

"Sowjetische Methoden einfach gefährlich"

Der Kreml und seine Eliten seien schlicht "überfordert" vom Propaganda-Anspruch, die Erfolge des Zweiten Weltkriegs, des "Großen Vaterländischen Kriegs" zu wiederholen, heißt es in der aufschlussreichen Bestandsaufnahme eines Bloggers, was daran liege, dass es keine Veteranen mehr gebe, die zu Sowjetzeiten sämtliche Führungsposten unter sich aufgeteilt hätten. Es sei unrealistisch, wenn der Kreml ernsthaft glaube, die Interessen der ausschließlich am Reichtum interessierten "Liberalen" und die Wünsche der "Patrioten" miteinander zu vereinen.

Instabil werde das System vor allem deshalb, weil der Reichtum in Russland direkt von den Verbindungen zur politischen Macht abhänge, weshalb im Kampf um Putins Nachfolge eine "Chaotisierung" und ein "enormer Sozialdarwinismus" drohe, also eine erbitterte Auslese unter den brutalsten Fraktionen: "Die Anwendung sowjetischer Methoden auf das moderne politische und wirtschaftliche Modell ist nicht nur kontraproduktiv, sondern einfach gefährlich."

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