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Kaum zu erkennen: Alexej Nawalny beim Prozess

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Alexej Nawalny über die Rebellion: "Niemand beschützte Putin"

Russlands bekanntester Oppositionspolitiker ist überzeugt: Der Zusammenbruch des Kreml-Regimes ist besiegelt, der Präsident selbst sei daran schuld: "Eine Gruppe von Putins Anhängern ist jederzeit bereit, einen Krieg aller gegen alle zu beginnen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Neuigkeiten erreichen den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny stark verzögert: Er verbüßt wegen angeblicher "Verstöße gegen Bewährungsauflagen" und "Verleumdung eines Veteranen" eine Haftstrafe von neun Jahren im Straflager IK-6 in der Region Wladimir, etwa 200 Kilometer östlich von Moskau. Dort wird er systematisch schikaniert und immer wieder wegen abstruser "Vergehen" in eine Strafzelle gesperrt. Er darf nach eigener Aussage seit dem 1. Juni nicht mehr Radio hören, Besucher müssten ihm gegenüber schweigen. Kein Wunder also, dass Nawalny erst am Rande seines aktuellen Strafprozesses, bei dem ihn eine Strafe von bis zu dreißig Jahren droht, von der Rebellion der Wagner-Söldner gegen das Kreml-Regime erfahren hat: "Ich dachte, es wäre ein neuer Gag oder ein Internet-Meme, das mich noch nicht erreicht hatte."

"Nicht der Westen hat Hubschrauber abgeschossen"

In einer Stellungnahme schreibt Putins prominentester Gegner, er habe zunächst erwartet, dass die Staatsanwaltschaft das Missverständnis aufklärt, doch dazu sei es nicht gekommen. Was passiert sei, verstehe er genauso wenig wie alle anderen, beteuerte Nawalny. "Ich höre und lese, wie Putin und die anderen aus Moskau geflohen sind. Ich höre zu und schaue mir das Foto des brennenden Tanklagers in Woronesch an. Ich habe gelesen, dass einige russische Truppen 'Linien am Fluss Oka besetzten', um sich gegen andere russische Truppen zu verteidigen."

In seiner Bewertung der Geschehnisse schreibt Nawalny, für Russland gebe es keine größere Bedrohung als das Putin-Regime. Nicht der Westen oder die Opposition habe Hubschrauber abgeschossen. Putin persönlich habe dafür gesorgt, dass massenweise Strafgefangene aus russischen Gefängnissen an die Front geholt worden seien, Leute, die Verteidigungsminister Schojgu "töten" wollten: "Putins Regime ist für das Land so gefährlich, dass selbst sein unvermeidlicher Zusammenbruch die Gefahr eines Bürgerkriegs mit sich bringt. Jetzt wissen wir mit Sicherheit: Eine Gruppe von Putins Anhängern ist jederzeit bereit, einen Krieg aller gegen alle zu beginnen. Daher ist es für uns alle äußerst wichtig, sich daran zu erinnern, dass jeder Übergang nach Putin mit freien Wahlen verbunden sein muss."

"Wahrscheinlich ist Putin weniger beliebt"

In dem Moment, als Prigoschins Militärkolonnen auf Moskau zusteuerten, sei niemand aufgestanden, um Putin zu beschützen, es habe "keine Einheit der Nation um ihn herum" gegeben: "Wir wissen (noch) nicht genau, wie beliebt Prigoschin und seine Ideen bei der Truppe sind, aber höchstwahrscheinlich ist Putin dort noch weniger beliebt. Zumindest in den kämpfenden Einheiten. Dass der von Putin entfesselte Krieg Russland beschädigen und zerstören könnte, ist keine Feststellung von dramatischer Wirkung mehr." Zwar sei es allgemein bekannt, müsse aber dennoch wiederholt werden, dass Diktaturen zu "Chaos und Schwächung der staatlichen Institutionen" führten.

"Behörden beunruhigt über geringe Loyalität"

Nawalnys Behauptung, Putins Sicherheitsbehörden hätten komplett versagt und "niemand" habe ihn beschützt, wird durch die Meldung eines gewöhnlich gut unterrichteten englischsprachigen Telegram-Blogs bestätigt, wonach die Angst in Moskaus Regierungszentrale diesbezüglich groß ist: "Die russischen Behörden sind äußerst beunruhigt über die geringe Loyalität gegenüber dem amtierenden Regime. Armeeeinheiten haben sich praktisch geweigert, mit den Wagner-Söldnern zu kämpfen. Am geringsten war die Loyalität gegenüber dem Innenministerium. Mitglieder der Nationalgarde erklärten, sie würden für Ordnung in Moskau sorgen, aber sie würden innerhalb der Stadt nicht schießen."

Spekulationen, dass die russischen Behörden Prigoschin am Samstag hätten stoppen können, wie Putin in seiner Rede behauptet hatte, seien falsch: "Prigoschins Chancen, das Zentrum Moskaus zu erreichen, waren einzigartig. Unter diesen Umständen floh der Großteil der russischen Führung aus der Hauptstadt. Es ist bekannt, dass [Ex-Präsident] Medwedew in den Oman gereist ist. Der Großteil der Kreml-Führung zog nach St. Petersburg um. Putin und der Chef der Nationalgarde landeten in der Residenz in Waldai. Später gab der Chef der Nationalgarde selbst zu, dass er den Samstagabend mit seiner Familie verbracht habe."

"Auf wen soll sich der Präsident nun stützen?"

Die russischen Geheimdienst-Experten Andrej Soldatow und Irina Borogan sagten dem im Exil publizierten Portal Meduza, Putin habe letztlich selbst zu verantworten, dass ihn kaum noch jemand im Apparat unterstützt. Es habe zur Regierungsmethode des Präsidenten gehört, alle im Unklaren zu lassen, wo seine jeweiligen Loyalitäten lägen. So hätten Armeegeneräle zunächst annehmen müssen, es gebe insgeheim eine Absprache zwischen Prigoschin und Putin: "Die Art und Weise, wie die Krise schließlich gelöst wurde, schuf eine völlig neue Situation für Putin. Die Sicherheitskräfte, denen er den Schutz seiner selbst und seines Regimes anvertraute, haben eine wichtige Lektion gelernt: Es ist besser, sich nicht in den Konflikt im engsten Kreis Putins einzumischen. Wie soll sich der Präsident nun auf die Menschen stützen, die das erkannt haben?"

"Elite wird mehr Angst um ihre Plätze haben"

Sogar staatstragende Medien wie die "Nesawissimaja Gazeta" sind überzeugt, dass der Präsident sich künftig sehr viel mehr um seine persönliche Sicherheit kümmern und wohl auch grämen muss: "Es ist sehr wahrscheinlich, dass Putin seine Wachsamkeit erhöhen wird, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens darf niemand innerhalb der Elite unabhängige politische Ambitionen an den Tag legen. Zweitens wird niemand mehr genug Mittel für ein selbstbewusstes unabhängiges Spiel haben. Das betrifft vor allem Privatarmeen." Es sei zwar "unwahrscheinlich", dass es demnächst zu einem "abrupten Machtwechsel" komme: "Allerdings werden die Akteure innerhalb der Elite definitiv mehr Angst um ihre Plätze haben, da sie wissen, wie misstrauisch jeder eigenmächtige Schritt ab jetzt wahrgenommen wird."

Zur Verunsicherung der Sicherheitsbehörden kommt die sprichwörtliche Gleichgültigkeit der russischen Bevölkerung gegenüber Machtspielen, wie aktuelle Meinungsumfragen bestätigten. Es war sogar von "Apathie" die Rede: "Wir nehmen im Zuschauerraum Platz, kaufen Popcorn. Es gibt eine völlige Entfremdung des Volkes von der Macht. Kundgebungen auf Befehl und gegen Geld. Nichts Echtes oder Aufrichtiges. Aber stört das irgendjemanden?" fragte sich Politologe Konstantin Kalachew, und Kolumnistin Ekaterina Winokurowa ergänzte: "Was die normalen Leute betrifft, so kauften die Reichsten Tickets für Flüge ins Ausland, die Mittelschicht tanzte in Restaurants, für den Fall, dass es das letzte Mal war, die Bewohner des Moskauer Westens besuchten Freunde, die im Norden und Osten der Hauptstadt lebten. Manche Bürger kauften Buchweizen – wenn auch nicht in großen Mengen, da viele noch Vorräte von Einkäufen von der Corona-Quarantäne hatten."

"Im Kreml kommt es zu turbulenten Ereignissen"

Unterdessen wurde gerüchteweise bekannt, dass die Wagner-Söldner weiterhin in Russland bleiben und auch wieder an der Front eingesetzt werden sollen. Neben Prigoschin, der in Belarus eingetroffen ist, sollen sich der eigentliche Gründer der Truppe, Dmitri Utkin, sowie zwei Generäle um die Einsätze kümmern, allerdings unter der Oberleitung des Verteidigungsministeriums: "Im Kreml kommt es zu vielen turbulenten Ereignissen. Es herrscht immer noch Panik. Jeder versteht, dass das Ganze eine Probe war, und es zwar eine erfolgreiche", schreibt ein Blogger. Das lässt ahnen, dass der Konflikt mit den Söldnern noch nicht vorbei ist, vor allem dann nicht, wenn sie bewaffnet bleiben.

Putin versucht derweil, Prigoschin doch noch strafrechtlich zu belangen, allerdings nicht wegen der Rebellion: Er zählte auf, wie viele Milliarden Rubel die Firmen des Söldnerchefs vom Staat kassiert hätten, u.a. für Lebensmittellieferungen an die Armee. Er hoffe, dass dabei alles mit rechten Dingen zugegangen sei, drohte Putin, der ankündigte, die Geschäftsbeziehungen gründlich durchleuchten zu lassen. Das müssten allerdings genau die Beamten erledigen, denen vor einem Jahr von Putin noch ausdrücklich verboten worden sei, Prigoschins Buchhaltung genauer zu untersuchen, spotteten Beobachter.

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