Der Präsident am Sitzungstisch
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Putin und sein Sicherheitsrat

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"Mich erfasste Mitleid": Putin-Rede erntet Hohn und Spott

Der jüngste Appell des russischen Präsidenten an seine Landsleute ließ nicht wenige Zuschauer entsetzt zurück. Die einen fragten sich, ob die Rede unvermittelt abgebrochen wurde, andere wollten noch nie "Erbärmlicheres" zu Gesicht bekommen haben.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Verdammt, sogar eine Art Mitleid erfasste mich für ihn. Das Königreich begann zu zerfallen und vor zwanzig Jahren hatte alles so gut angefangen. Was für ein Glaube! Wie viele Hoffnungen! Und jetzt sieht alles nach dem traurigen Ende des Films 'Putins Russland' aus. Millionen aller möglichen Dokumentarfilme über seine Herrschaft werden gedreht und diese Episode wird ein Kapitel Traurigkeit sein", schrieb einer von mehreren hundert Kommentatoren in der Leserbriefspalte der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" nach Wladimir Putins jüngstem TV-Auftritt. Die Reaktionen sind durchweg skeptisch bis entsetzt.

"Offenbar haben sie im letzten Moment umdisponiert und wollten etwas ganz anderes sagen", bemerkte ein Leser angesichts der Inhaltsleere von Putins Aussagen. "Wladimir Wladimirowitsch antwortete kürzlich auf eine Frage, dass eine Einmischung in das Justizsystem inakzeptabel sei", meinte ein weiterer Beobachter spöttisch: "Warum wurde der Fall der Rebellion dann zu den Akten gelegt und welche Garantien konnte der Garant für Legalität und Verfassung Prigoschin geben?"

Es gab sogar Leute, die aus der Sitzordnung eines Treffens der Sicherheitskräfte nach Putins Rede ersehen wollten, dass der Präsident die Macht verloren habe. Sie liege jetzt bei den Geheimdiensten. Prigoschins Rebellion könnte tatsächlich der "Schwarze Schwan" für Putin werden, hieß es, eine Umschreibung für ein unvorhersehbares, aber verhängnisvolles Ereignis.

"Nichts Erbärmlicheres gesehen"

Putin hatte den "patriotischen Geist der Bürger und die Konsolidierung der gesamten russischen Gesellschaft" gewürdigt. Er brüstete sich damit, dass Prigoschins Aufstand auf jeden Fall unterdrückt worden wäre, wenn er weitergegangen wäre: "Auf meine direkte Anweisung hin wurden Maßnahmen ergriffen, um viel Blutvergießen zu vermeiden. Das hat einige Zeit gedauert, auch um denjenigen, die einen Fehler begangen haben, die Möglichkeit zu geben, noch einmal darüber nachzudenken und zu verstehen, dass ihr Handeln von der Gesellschaft stark abgelehnt wird und welche tragischen, destruktiven Folgen das Abenteuer, in das sie hineingezogen wurden, für Russland und unseren Staat hatte."

Gleichzeitig fand Putin nichts dabei, wenn an der Rebellion beteiligte Wagner-Söldner nach Belarus emigrieren. Sie könnten aber auch jederzeit eine Anstellung beim russischen Verteidigungsministerium bekommen. Soviel Dialektik bzw. Flexibilität irritierte nicht wenige Zuschauer. Ultrapatriot Igor Strelkow schrieb empört: "Ich habe nichts Erbärmlicheres in der Leistung eines Mannes gesehen, der auch nur annähernd dem Präsidenten ähnelt. Alle sind gute Kerle. Alle haben großartige Arbeit geleistet, es ist Zeit, Befehle zu erteilen und [Verteidigungsminister] Schoigu endlich zum Marschall zu degradieren. Die Verwirrung geht weiter."

"Will Putin Revolutionäres verändern?"

Kremlsprecher Dmitri Peskow behauptete, ein Netz-Fake-Opfer geworden zu sein, weil im Vorfeld aus dubiosen Quellen fälschlich verbreitet worden sei, er habe "schicksalhafte Aussagen" von Putin angekündigt. Dabei habe die Rede des Präsidenten dann nicht mal das Schicksal Peskows irgendwie berührt, spotteten Blogger. Andere hatten das Gefühl, dass Putins Rede mittendrin abgebrochen wurde - gerüchteweise lag das daran, dass er etwas zum belarussischen Präsidenten Lukaschenko sagen wollte, dieser jedoch entschied, sich erst einen Tag später zu äußern.

Auch der kommunistische Parlamentsabgeordnete Michail Matwejew wunderte sich, dass die staatlichen gesteuerten Medien viel Wert darauf legten, die "vollständige" Rede Putins gesendet zu haben: "Als würde man die Aufmerksamkeit auf etwas lenken wollen, was wir alle als unvollständig empfunden haben."

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow mühte sich, seinen Fans die Putin-Rede zu erläutern, hatte aber selbst Zweifel: "Putin kann jetzt fast alles ändern. Aber will er etwas Revolutionäres verändern?" Putins Hauptaufgabe habe nicht darin bestanden, "den Aufstand zu unterdrücken, sondern Blutvergießen zu verhindern", wiederholte Markow die Kreml-Propaganda und fasste zusammen, was der Präsident angeblich sagen wollte: "Putin hält sein Wort – wem es hier nicht gefällt, der soll nach Belarus gehen, dort rühren wir ihn nicht an. Wir haben noch keinen direkten Zusammenhang zwischen der Rebellion und dem Westen und Kiew gefunden, aber wir werden danach suchen. Objektiv war der Aufstand in ihrem Interesse. Damit ist die Diskussion über die Rebellion und Prigoschin abgeschlossen. Ich, Putin, werde darüber nicht mehr reden. Und ich empfehle es auch keinem anderen."

"Stalin hat überhaupt nicht geschlafen"

Der kremlnahe Philosoph Alexander Dugin verstieg sich zu einer Anspielung auf die späte Uhrzeit der Putin-Rede: "Vielleicht sind die Gedanken umso klarer, je tiefer die Nacht ist. Das Symbol der Philosophie ist eine Eule, ein Nachtvogel. Platon sagte, dass die Philosophen die Hüter des Stadtstaates seien. Sie wachen auf, wenn die Werktätigen schlafen gehen. Stalin, so heißt es, habe überhaupt nicht geschlafen. Ein Fenster im Kreml war immer mit gelbem Licht erleuchtet."

So pathetisch waren die "Fontanka"-Leser nicht aufgelegt. Die sprachen von einem "Irrenhaus" und meinten zu Putins Ausführungen: "Dieser Text hat einen Prolog und einen Epilog, aber keinen Inhalt." Das war auch der Eindruck des Kolumnisten des Wirtschaftsblatts "Kommersant", Andrej Kolesnikow, der mit seinen ironischen Kommentaren seit Kriegsbeginn Aufmerksamkeit erregt: "Der gesamte Text bestand aus einer Einleitung." Die letzten Tage hätten bestätigt: "Je absurder die Annahme, desto größer sind die Chancen, dass sie sofort wahr wird." Kolesnikow machte sich auch darüber lustig, dass Putin seine Landsleute mit "Liebe Freunde" ansprach: "Vielleicht ist er den Menschen ja näher gekommen."

Es gab natürlich jede Menge weitere Spötter: "Sie versuchten mit aller Kraft, den Aufstand zu stoppen, doch die feindlichen Kampfplastikbecher flogen ins Visier!" Auch eine Reaktion: "Es ist so lustig, dass man am liebsten weinen würde. Wie viele Lügen haben diese Menschen noch, die mit allen Zellen ihrer Seele (wenn sie denn eine haben) an der Macht festhalten." Und Verblüffung über Putins Ignoranz: "Ein völlig sinnentleerter Appell. Es scheint, dass Putin sicher ist, dass das ganze Land wie er keine Telegrammkanäle und Medien liest, nichts mit eigenen Augen sieht, sondern nur von seinen Reden lebt und sich davon inspirieren lässt."

"Sehen Sie sich diesen Auftritt ohne Ton an"

Bemerkenswert, das selbst deutlichste Rücktrittsforderungen nicht mehr zensiert werden: "Tut mir leid, dieser Anblick. Eine Schande. Putin muss in den Ruhestand gehen, er kommt nicht einmal mehr mit seinen Milliardären zurecht. Er hat zu viel Blut vergossen und benimmt sich, als ob seine Umgebung nichts falsch gemacht hätte. Eine Schande!" Das war keine Einzelmeinung: "Es gehört zu Putins Repertoire – wenn etwas nicht stimmt, dann hat er nichts damit zu tun. Eine Führungskraft, die nicht in der Lage ist, organisch Verantwortung zu übernehmen, auch nicht für ihre eigenen Entscheidungen." Jemand hatte eine ganz besondere Empfehlung: "Sehen Sie sich diesen Auftritt ohne Ton an. Tut mir leid, dieser Anblick!"

"Mir reichen diese Worte vorerst"

In einem der Exilblogs war sarkastisch zu lesen: "Zuerst wird Putin die gesamte Machtelite rauswerfen, und dann wird er plötzlich sagen: Wie müde seid ihr allesamt! Ich bin auch müde, ich gehe mit euch." Sogar ein ausgewiesener Kreml-Propagandist und Blogger wie Andrej Medwedew (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Ex-Präsidenten) zeigte sich nur leidlich zufrieden: "Wahrscheinlich hatte jeder mehr erwartet. Aber ich werde es so formulieren. Der Präsident Russlands wies darauf hin, dass das russische Volk, das in den schicksalhaften Tagen auf verschiedenen Seiten stand, nun mal unser Volk ist und wir niemanden aufgeben. Auch wenn sie stolperten. Der Bürgerkrieg ist vorerst vorbei. Ob dies das Schicksal Russlands bestimmt, entscheiden Sie selbst. Mir reichen diese Worte vorerst."

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