Bluttat am OEZ War es ein Amoklauf oder ein rassistischer Anschlag?

Acht Jugendliche und eine 45-Jährige Mutter starben am 22. Juli 2016 vor dem Olympiaeinkaufszentrum im Münchner Norden. Der Täter: Ein 18-Jähriger Schüler, der sich anschließend selbst richtete. Auch zwei Jahre danach schwelt der Streit um die Einordnung der Tat weiter.

Von: Thies Marsen

Stand: 20.07.2018 | Archiv

Bild: picture-alliance/dpa/Sven Hoppe

Mobbing sei das Hauptmotiv des Täters gewesen, so lautet die offizielle Version von Staatsanwaltschaft und Staatsregierung. Doch der Druck, diese Einschätzung zu revidieren, wächst. Eine Opferanwältin erhebt derweil schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden.

Ob der Massenmord am OEZ die Tat eines psychisch kranken Amokläufers war oder ein rassistischer Anschlag, ist für die Hinterbliebenen der Opfer keine akademische Frage. Die Angehörigen verlangen Aufklärung, sagt Rechtsanwältin Claudia Neher, die neun Hinterbliebene vertritt:

"Es geht auch darum, dass der Staat und seine Behörden endlich Verantwortung übernehmen, anstatt diese Tat weiter zu verharmlosen. Und es geht darum, zu verhindern, dass ähnliches wieder passiert."

Zahlreiche Hinweise auf extrem rechte Motive

Es gibt viele Hinweise darauf, dass der Mörder David S. aus rassistischen Motiven handelte, obwohl er selbst iranische Wurzeln hatte (er selbst sah sich im Übrigen als "Arier"): Allein schon die Auswahl der Opfer deutet darauf hin, denn alle stammten aus Einwandererfamilien, hatten türkische, ungarische, griechische oder kosovarische Wurzeln.

Dann der Zeitpunkt des Anschlags: David S. beging seine Tat genau am fünften Jahrestag des Massakers, das der norwegische Rechtsextremist Anders Breivik 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya verübt hatte. Und er benützte die gleiche Waffe wie der von ihm bewunderte Breivik. Seinen unmittelbar vor der Tat verfassten Abschiedsbrief speicherte der 18-Jährige unter folgendem Dateinamen ab: "Ich werde jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen egal wen" (Anm.: Fehler im Original).

Drei Gutachter, die im Auftrag der Stadt München den Fall untersucht haben, kommen denn auch zu einem eindeutigen Ergebnis: Dass David S. als Schüler gemobbt worden sei, sei für die Tat nicht ausschlaggebend gewesen, vielmehr gebe es klare Hinweise auf einen extrem rechten Hintergrund der Tat.

Herrmann: "Klare rassistische Ansätze"

Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sieht bei David S. "klare rassistische Ansätze". Dieser habe offenbar mit Inhalten des Programms der AfD sympathisiert, habe sich mehrfach fremdenfeindlich und rassistisch geäußert und bei einem Aufenthalt im Klinikum München-Harlaching im Jahr 2015 gegenüber einer Mitpatientin den "Hitler-Gruß" gezeigt sowie Hakenkreuze gezeichnet.

Dass die Bluttat vom OEZ dennoch nicht offiziell als extrem rechte Tat eingestuft wird, rechtfertigt Herrmann damit, dass hier "eine Kombinationen in der Motivlage" vorliege. Der Minister gegenüber dem BR:

"Eine einseitige Bewertung als Amoklauf oder als politisch motivierte Kriminalität ist dem Fall nicht angemessen."

Im Übrigen sei für die Einordnung nicht das Innenministerium zuständig, sondern das Bayerische Landeskriminalamt (LKA).

Oberste Dienstbehörde des LKA ist allerdings das Innenministerium. Und dem Ministerium untersteht auch das Landesamt für Verfassungsschutz, das bei der Bewertung der Tat ebenfalls ein Wörtchen mitzureden haben dürfte. Und: Für eine Einordnung als rechtsextremistische Tat ist es gar nicht notwendig, dass ein Täter ausschließlich aufgrund von extrem rechten Motiven handelt. Das Innenministerium selbst definiert "politisch motivierte Kriminalität" mit extrem rechtem Hintergrund (im Fachjargon: "PMK rechts") als Taten, bei denen "Bezüge zu völkischem Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren."

Dass David S. mindestens "teilweise" aus einer rassistischen Gesinnung heraus handelte, bestreiten weder Staatsanwaltschaft noch Innenministerium. Warum die bayerischen Behörden sich trotzdem nicht dazu durchringen können, den neunfachen Mord vom OEZ als extrem rechte Tat einzustufen erklärt Innenminister Herrmann so:

"So wie sich der Täter vor und während der Tat geäußert hat, geht man derzeit davon aus, dass für ihn, der selbst ein Flüchtlingskind war, die Rache für das erlittene Mobbing durch türkisch-stämmige Mitschüler im Vordergrund gestanden haben dürfte."

Man müsse die Tat eben "differenziert sehen".

Anwältin: Behörden hätten weitere Morde verhindern können

Eine Argumentation, die für Opferanwältin Claudia Neher wie blanker Hohn klingt. Dies sei nur ein weiterer "Baustein in der Verniedlichungskette" der Behörden. Und dieses "beschämende Verhalten der Ermittlungsbehörden" mache nicht nur die Opfer und Hinterbliebenen lächerlich, sondern habe in letzter Konsequenz sogar weitere Todesopfer zur Folge gehabt.

Damit spielt Neher auf eine Enthüllung des Passauer Politikwissenschaftlers Florian Hartleb an, der im Auftrag der Stadt München ein Gutachten zum OEZ-Attentat erstellt hat. Im vergangenen April machte Hartleb öffentlich: David S. stand in den Monaten vor dem Attentat über eine Spieleplattform im Internet in direktem Kontakt zu dem jungen US-Amerikaner William A. In einer extrem rechten Chat-Gruppe tauschten sie – und andere potentielle "Amokläufer" – ihre rassistischen Mordfantasien aus.

Nach der Bluttat am OEZ widmete William A. seinem Vorbild David S. eine Huldigungsseite im Internet und richtete anderthalb Jahre später, im Dezember 2017, selbst ein Massaker an: Der 21-jährige erschoss in Aztek, einer Stadt im US-Bundesstaat New Mexiko, zwei mexikanische Studierende und anschließend sich selbst – und er verwendete dabei laut US-amerikanischen Medienberichten die gleiche Waffe wie David S. (und wie zuvor auch schon Andres Breivik): eine Pistole der Marke Glock.

Deutsche Behörden gaben Informationen nicht weiter

Dieser Doppelmord hätte verhindert werden können, ist sich Rechtsanwältin Claudia Neher sicher, wenn deutsche Behörden im Fall David S. besser ermittelt hätten, wenn sie tatsächlich allen Spuren nachgegangen und die US-amerikanischen Behörden rechtzeitig informiert hätten. Dass die deutschen Ermittler Bescheid wussten, berichtete unlängst das MDR-Magazin "Fakt": Ein junger Deutscher, der mit William A. und David S. in der gleichen Gruppe gechattet hatte, soll die Polizei kurz nach dem Massenmord am OEZ auf die Verbindungen hingewiesen und dabei auch einen Datenträger mit Beweismaterial übergeben haben. In der Folge seien zwar mehrere deutsche Teilnehmer der Chatgruppe verhaftet worden, US-amerikanische Ermittler seien indes nicht informiert worden.

Man sei "nur einen Katzensprung" davon entfernt gewesen, die Tat von Aztek zu verhindern, glaubt Opferanwältin Claudia Neher, "aber die Behörden haben abgewiegelt". Womit sie auch die Münchner Staatsanwaltschaft meint. Diese habe im Prozess gegen den Waffenhändler des OEZ-Attentäters der Beiziehung wichtiger Daten widersprochen und damit eine rechtzeitige Aufdeckung der Spur in die USA verhindert.

Staatsanwaltschaft ermittelt - Ausgang offen

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft München I Ermittlungen Richtung USA aufgenommen. Da die beiden Attentäter, um die es dabei geht, tot sind, fragt sich allerdings, ob dabei viel herauskommen wird. Unklar ist auch, wie lange die Ermittlungen dauern werden. So lange diese noch laufen, sehen Innenministerium und Landeskriminalamt jedenfalls keinen Anlass, ihre bisherige Haltung zum OEZ-Attentat zu korrigieren und die Tat offiziell als rechtsextremen Anschlag einordnen.

"Eine abschließende Bewertung der Motivationslage kann erst nach Abschluss der derzeit laufenden Ermittlungen abgegeben werden." Innenminister Joachim Herrmann zum BR

Übrigens ist das Attentat vom OEZ nicht das einzige Verbrechen, das sich im Jahr 2016 ereignete und bei dem sich bayerische Behörden schwer tun, es als extrem rechts einzustufen. Selbst der Mord an einem Polizisten durch einen Reichsbürger im Oktober 2016 im mittelfränkischen Georgensgmünd wurde zunächst nicht als "politische motivierte Kriminalität" mit extrem rechtem Hintergrund gewertet. Erst als der BR nachhakte, korrigierte die Staatsregierung ihre Einschätzung.