Wahlprogramme im Realitätscheck Wenn die Kleinen alleine regieren dürften

Sie kämpfen um Platz 3 und werden höchstens die kleinen Partner in einer Regierungskoalition. Aber was wäre, wenn FDP, Grüne oder Linke alleine regieren könnten? Das BR-Hauptstadtstudio hat das zusammen mit Experten analysiert – mit Fokus auf Europa, Wirtschaft, Finanzen und innere Sicherheit.

Von: Wolfgang Kerler und Janina Lückoff

Stand: 22.09.2017 | Archiv

Bild: Linke, FTP, Bündnis 90/Die Grünen, Montage: BR

Die Linke

Ein links regiertes Deutschland würde in Brüssel auf EU-Reformen drängen. Aus Sicht der Partei dient die Europäische Union in ihrer jetzigen Form mehr den Interessen der neoliberalen Märkte als denen der Bürger. Ein linker Kanzler bzw. eine linke Kanzlerin würde also den Wunsch vieler südeuropäischer Länder erfüllen und die Sparpolitik beenden.

Bild: picture-alliance/dpa

Stattdessen gäbe es ein europäisches Investitionsprogramm. Dem "Neustart" in der EU würden neue Verträge zugrunde liegen, denen alle Mitgliedstaaten zustimmen müssten. Für Griechenland gäbe es einen Schuldenschnitt. Cornelius Adebahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) glaubt zwar, dass die Linke innerhalb der EU für eine noch stärkere Abkehr von der reinen Sparpolitik eine Mehrheit finden könnte – nicht allerdings für einen radikalen Umbau der Union.

"Sicher würden manchen EU-Mitglieder sagen: Es wäre schön, mehr deutsches Geld zu bekommen. Aber das bekommt man nur, wenn Deutschland brummt. Und der eine oder andere Mitgliedstaat würde sich schon Gedanken machen, ob ein Deutschland mit der Wirtschaftspolitik der Linken noch leistungsfähig genug wäre."

Cornelius Adebahr, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

NATO-Auflösung? Kaum umsetzbar

Nato-Soldaten in Litauen Bild: picture-alliance/dpa

Die Linken wollen die NATO auflösen und durch ein "kollektivistisches Sicherheitssystem unter Einbeziehung von Russland" ersetzen. Die Chancen, dass sich ein links regiertes Deutschland damit durchsetzen könnte, werden von Experten als minimal eingestuft. Es bliebe also nur der NATO-Austritt. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr würde ein linkes Kabinett ohnehin sofort beenden. Deutschland würde an Einfluss in der Welt verlieren.

"Der Vorschlag geht weit über das hinaus, was eine Bundesregierung tun kann. Die Auflösung der NATO können nur alle NATO-Staaten gemeinsam beschließen. Und da sehe ich kein Interesse bei den anderen Mitgliedstaaten. Ein Austritt der Bundesrepublik aus der NATO wäre theoretisch möglich. Bisher ist aber noch nie ein Staat aus dem Bündnis ausgetreten."

Cornelius Adebahr, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

Reiche würden zur Kasse gebeten werden

Ein Finanzminister der Linken würde das deutsche Steuersystem auf den Kopf stellen – und kräftig umverteilen: Höherer Grundfreibetrag, höherer Spitzensteuersatz, höhere Reichensteuer. Ab einem Einkommen von einer Million Euro soll letztere 75 Prozent betragen. Eine Vermögensteuer gäbe es unter der Linken auch. Andreas Peichl, Steuerexperte am Münchner ifo-Institut, geht allerdings davon aus, dass die höhere Belastung für Reiche nur kurzfristig die Staatskasse füllen würde.

"Wenn die Linke an die Macht käme und ihr Steuerkonzept sofort oder sogar rückwirkend umsetzen würde, würden die Reichen erst einmal höhere Steuern zahlen. Je mehr Zeit sie aber hätten, um zu reagieren, umso niedriger fielen dann die Steuereinnahmen aus. Wir haben in der Vergangenheit erlebt, dass es immer Wege gibt, Steuern zu vermeiden. Dafür haben wir genug Steuerberater in Deutschland."

Andreas Peichl, ifo-Institut

Zu hohe Steuern für Vermögende würden aus Peichls Sicht auch zu weniger Wachstum und zu weniger Jobs führen. Denn Reiche würden nicht nur ihr Einkommen ins Ausland verlagern, sondern auch ihre wirtschaftliche Aktivität.

Die Staatsschulden würden wohl steigen

Wer als Single bis zu 77.000 Euro verdient, würde durch eine linke Regierung entlastet oder zumindest nicht mehr belastet. Das ifo-Institut hat berechnet, dass allein die Änderungen bei der Einkommensteuer jährliche Mindereinnahmen von 21,9 Milliarden Euro für den Staat bedeuten würden.

Zusätzlich würde Linke die Investitionen des Staates in Infrastruktur massiv erhöhen, um 120 Milliarden Euro. Das hätte aus Sicht von Experten ein tieferes Loch im Staatshaushalt zur Folge, auch wenn die Linke Konzerne stärker zur Kasse bitten würde. Aber: Da die Partei die Schuldenbremse abschaffen will, wäre Kreditaufnahme für die Regierung rechtlich kein Problem.

Keine Freihandelsabkommen und Verstaatlichung von Unternehmen

Kein CETA oder TTIP mit den Linken Bild: picture-alliance/dpa

Aus Sicht der Wirtschaft wäre eine rein linke Regierung kein erfreuliches Szenario. Die Verbände fürchten weniger Wachstum und weniger Arbeitsplätze. Ein Wirtschaftsminister der Linken würde keine Freihandelsabkommen wie CETA oder TTIP abschließen und außerdem die Verstaatlichung von Unternehmen vorbereiten: Banken, Versicherungen, Energiekonzerne, Pharmaunternehmen und andere für die Daseinsvorsorge zuständige Firmen.

"Die Linke hat aus dem großen sozialistischen Experiment des 20. Jahrhundert nichts gelernt."

Verband 'Die Familienunternehmer'

Der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA) hält die Wirtschaftspläne der Linken für "wachstumsfeindlich" und fasst sie mit einem Wort zusammen: "Realitätsverweigerung". Der BGA sieht gar eine "Gefahr für die geltende Rechts- und Wirtschaftsordnung"-

Keine Waffen, keine Geheimdienste

Es gäbe unter einem linken Bundeskanzler keine Geheimdienste mehr in Deutschland; das heißt: Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendient würden abgeschafft. Die Linke betrachtet Geheimdienste als "Fremdkörper der Demokratie". Ursula Münch, die Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, bezeichnet die Forderung als "wohlfeil, wenn man weiß, es wird nicht geschehen".

"Eine Konsequenz wäre, dass man verfassungsfeindliche Bestrebungen auch im Vorfeld nicht wahrnehmen könnte. Bei aller Kritik am Verfassungsschutz, es hat ja auch eine abschreckende Wirkung. Man würde im Grunde ein Signal nach außen geben, dass man sich da keine Sorgen mehr machen muss als Extremist oder als potentieller Terrorist. Ich halte das für ein riskantes Unterfangen mit Blick auf die innere Sicherheit."

Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung

Unter einer linken Bundesregierung gäbe es auch keine privaten Sicherheitsdienste wie die "Schwarzen Sheriffs"; sie würde diese abschaffen und verbieten. Die Polizei soll stattdessen mehr Personal bekommen. Uniformierte Polizeibeamte wären dabei identifizierbar; eine Ombudsstelle würde deren Fehlverhalten untersuchen.

Polizei würde Bagatelldelikte nicht mehr verfolgen

Bild: BR/meyer

Gleichzeitig soll die Polizei ansprechbarer werden für Bürgerinnen und Bürger und würde dafür keine Bagatelldelikte wie Schwarzfahren, Drogengenuss und illegale Einreise mehr untersuchen. Auch der Kampf gegen mutmaßliche Verbrecher würde erschwert, sofern das Recht auf informationelle Selbstbestimmung jedes Einzelnen bedroht wäre. Das hieße: keine Vorratsdatenspeicherung, keine Online-Durchsuchung, keine Rasterfahndung. Privater Waffenbesitz wäre verboten.

FDP

An den Finanzmärkten fürchten sich manche vor den Plänen der FDP, sprechen gar vor einer Rückkehr der Schuldenkrise. Denn eine rein liberale Regierung würde in Sachen Eurorettung einen deutlich härteren Kurs fahren als die Große Koalition.

Weitere Hilfen für Griechenland? Nicht mit einem FDP-regierten Deutschland. Dessen Haltung wäre: Griechenland zur Not raus aus dem Euro, Sanktionen für Schuldenstaaten, kein frisches Geld für den Euro-Rettungsschirm ESM.

Europa-Kurs der FDP könnte Finanzmärkte erschüttern

"Wahrscheinlich würde es erst einmal für Verwerfungen an den Finanzmärkten sorgen, wenn eine Bundesregierung sagen würde: Wir können keinen weiteren Rettungsmaßnahmen zustimmen. Außerdem hat rückblickend sogar der Internationale Währungsfonds festgestellt, dass es nicht richtig war, von den Schuldenstaaten einen so harten Sparkurs zu verlangen. Aber diese wirtschaftspolitische Erkenntnis ist an der FDP offenbar vorbeigegangen. Mit so einer harten Haltung würde sich Deutschland eher isolieren."

Cornelius Adebahr, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

FPD-Spitzenkandidat Christian Lindner Bild: picture-alliance/dpa Peter Endig

Prinzipiell spricht sich die FDP für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten aus und erteilt gesamteuropäischen Regelungen im Bereich des Arbeitsmarktes und der Sozialpolitik eine klare Absage.
Gegen engere Zusammenarbeit im Verteidigungssektor haben die Liberalen dagegen nichts einzuwenden – eine Europäische Armee ist ein erklärtes Ziel.

Steuereinnahmen würden um 34 Milliarden Euro sinken

Der Finanzminister einer FDP-Regierung würde die Steuern deutlich senken. Mit einer Reform würde der gesamte Steuertarif "nach rechts verschoben" werden. Der Spitzensteuersatz wäre also erst ab einem späteren Einkommen fällig. Außerdem wäre eine der ersten Amtshandlungen unter der FDP: die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Gegenüber dem jetzigen Steuerrecht hätte der Staat jährlich fast 35 Milliarden Euro weniger an Einnahmen zur Verfügung. So hat es das ifo-Institut berechnet.

"Die Steuersenkungen der FDP würden sich nicht selbst finanzieren. Denn von den Plänen würden insbesondere reiche Haushalte profitieren – und wenn sie Reichen mehr Geld geben, konsumieren diese nicht mehr. Sie sparen oder investieren mehr. Da zurzeit weniger in Deutschland investiert wird, sondern das Kapital eher ins Ausland abfließt, hätten wir hierzulande kaum Wachstum zu erwarten."

Andreas Peichl, ifo-Institut

Wirtschaft würde sich über FDP-Regierung freuen

Im Gegensatz zu Finanzinvestoren würde sich die deutsche Wirtschaft über das – unrealistische – Szenario einer FDP-Alleinregierung freuen. Keine andere Partei erhält für ihr Wahlprogramm von den Lobbyverbänden so viel Zuspruch. Der BGA beispielsweise lobt das Bekenntnis zum Freihandel, die Steuersenkungs-Pläne oder die Ansätze zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes. "Das Programm der FDP ist klar wachstumsorientiert", meint Anton Börner, der Präsident des BGA.

Mehr Polizei, mehr Datenschutz

Unter einer FDP-Regierung könnten sich die Bürger unbeobachteter bewegen. Weder gäbe es eine automatische Kennzeichenerfassung, noch würden die Daten von Fluggästen erhoben – geschweige denn gespeichert. Die Vorratsdatenspeicherung wäre vom Tisch. Auch andere Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden, wie beispielsweise die Funkzellenabfrage, würden eigeschränkt. Gefährder sollen dagegen lückenlos überwacht werden. Dafür würde es mehr Polizeibeamte mit besserer Ausstattung geben, die aber nicht mehr für die Verfolgung sogenannter Bagatelldelikte zuständig wären. Die FDP versteht darunter Ruhestörungen, Verkehrsunfälle ohne Verletzten und Straftaten ohne Geschädigten.

Mehrarbeit für die Justiz

Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung, kann sich das vorstellen. Es sei nicht der "Untergang des Abendlandes", wie sie sagt. Aber man müsse berücksichtigen, dass die Arbeit dadurch unter Umständen nur verlagert würde: Würden beispielsweise Ordnungsämter Aufgaben der Polizei wie Verkehrskontrollen übernehmen, könnte deren Kompetenz in Abrede gestellt werden. Das könnte zwar die Polizei entlasten, gleichzeitig aber mehr Arbeit für die Justiz bedeuten, wenn die Bürger dagegen vorgehen würden. Ursula Münch gibt noch einen weiteren Aspekt zu Bedenken:

"Wenn der Staat sein Monopol in solchen Sachen aufgäbe, könnte dies das Unsicherheitsgefühl eines Teils der Bevölkerung noch mehr stärken."

Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung

Die Grünen

Bild: picture-alliance/dpa Arno Burgi

Eine grüne Bundesregierung würde an der Seite des französischen Präsidenten Macron Reformen in der EU vorantreiben, um bestimmte Strukturen europaweit zu vereinheitlichen. Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa wäre einer der zentralen Punkte, ebenso europaweite ökologische und soziale Mindest-Standards.

Auf dem Arbeitsmarkt der EU würde sich eine grüne Bundesregierung für gleiche Löhne für gleiche Arbeit einsetzen, um ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu ermöglichen. Ziel wäre auch eine europäische Arbeitslosenversicherung.

Europa würde teurer werden

Um das zu erreichen, würde Deutschland mehr finanzielle Verantwortung übernehmen. Ziel wäre ein sogenannter Zukunftsfonds im EU-Haushalt, der durch einen europäischen Steuerpakt gespeist würde, welcher gleichzeitig mehr Steuergerechtigkeit schaffen soll.

"Die Pläne der Grünen sind innerhalb der aktuellen Verträge denkbar – und decken sich in einigen Punkten mit den Vorschlägen des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Die Grünen bewegen sich letztlich in einem pro-europäischen Mainstream."

Cornelius Adebahr, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

Keine bahnbrechende Steuerreform

Unter einem grünen Finanzminister würden Spitzenverdiener mit Einkommen über 100.000 Euro stärker zur Kasse gebeten. Außerdem gäbe es eine Vermögensteuer für Superreiche. Wer superreich ist, haben die Grünen bislang nicht definiert. Eine Anhebung des Grundfreibetrags würde dagegen zur Entlastung der Bürger führen.

In der Summe rechnet Andreas Peichl vom ifo-Institut mit 14 Milliarden Euro niedrigeren Steuereinnahmen pro Jahr, wenn die Grünen ihre Pläne verwirklichen könnten.

"Das Steuerkonzept der Grünen ist nicht bahnbrechend. Es wird ein bisschen am jetzigen Tarifverlauf nachjustiert. Gutverdiener würden etwas stärker belastet, die übrigen Haushalte etwas entlastet werden."

Andreas Peichl, ifo-Institut

Die Wirtschaft wäre von einer grünen Regierung wohl wenig begeistert. Schon das Wahlprogramm kam bei den Verbänden schlecht an. Die Familienunternehmer werfen den Grünen einen "Regulierungs- und Bevormundungswunsch" vor. 

Kohlekraftwerke würden abgeschaltet

Das Kohlekraftwerk Mehrum Bild: picture-alliance/dpa

Alte Kohlekraftwerke würden im grünen Deutschland schnell abgeschaltet, der Ausbau erneuerbarer Energien dafür vorangetrieben. Das könnte Strom teurer machen.

Der Wirtschaftsverband BGA kritisiert die grünen Pläne mit den Worten: "Klimaschutz, koste es was es wolle."Das ifo-Institut warnt, dass ein Verbot des Verbrennungsmotors – ein Ziel der Grünen – Arbeitsplätze gefährden könnte.

Mehr Polizisten für die innere Sicherheit

Auch mehr Polizisten unter den Grünen Bild: picture-alliance/dpa/Julian Stratenschulte

Eine grüner Innenminister würde Polizeistellen schaffen und Polizisten besser ausstatten; auf den Straßen wären dann auch mehr weibliche Polizisten und mehr Sicherheitsbeamte mit Migrationshintergrund zu sehen, um den Kontakt zu den Bürgern zu verbessern.

 Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung hält das "für keine schlechte Idee", aber:

"Das Problem ist: Das wird doch jetzt schon alles versucht. Es ist ja nicht so, dass die Polizei keine Frauen akquirieren möchte und dass die Polizei nicht den Türkischstämmigen aufnehmen möchte, weil man die Hoffnung hat, dass die unter Umständen aufgrund ihrer sprachlichen Vorteile und kulturellen Kompetenzen manches einfacher lösen. Aber wenn die Leute nicht zur Polizei wollen, weil sie die Wahrnehmung haben, da bin ich nicht richtig aufgehoben oder weil sie sich in der Minderheit fühlen, dann würde das sehr lange dauern. Dann müsste man Quoten einführen. Aber zwingen könnte man die Leute ja nicht."

Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung

Eine grüne Bundesregierung beschränkte Überwachungskameras auf Gefahrenschwerpunkte. Damit die Polizei mehr Kapazitäten für die Verbrechensbekämpfung hat, würde eine grüne Bundesregierung von der Verfolgung von Bagatelldelikten wie Schwarzfahren absehen.
Terrorverdächtige dagegen ließe sie rund um die Uhr überwachen.