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Spanische Grippe Die schlimmste Influenza-Pandemie der Geschichte

Die Spanische Grippe umrundete 1918 binnen weniger Monate die Erde. Bis 1920 tötete die Influenza-Pandemie mehr Menschen, als im gesamten Ersten Weltkrieg starben. Warum war das Virus ein solcher Todbringer?

Stand: 12.07.2023 | Archiv

Im Ersten Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 andauerte, kamen rund 17 Millionen Menschen um. Die Spanische Grippe, die 1918 plötzlich auftrat und bis 1920 weltweit wütete, sogar in Inuitdörfern und auf Samoa, raffte je nach Schätzung 20 bis mehr als 100 Millionen Menschen dahin. Sie hinterließ wahrscheinlich mehr Tote als jede andere Krankheit davor und danach in der Geschichte. Dieses Ausmaß ist vielen nicht bewusst. In vielen Ländern wurden Todesfälle gar nicht dokumentiert, zeitweise starben auch einfach zu viele Menschen gleichzeitig. Allein im damaligen Deutschen Reich soll die Spanische Grippe rund 426.000 Menschen das Leben gekostet haben. In Wellen hatte sich die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 zur schlimmsten Grippe-Pandemie der Geschichte entwickelt.

Grippe (auch: Influenza): Wie Grippe-Viren übertragen werden

Grippe wird auch Influenza genannt und durch Viren ausgelöst. Influenza-Viren sind hoch ansteckend und werden durch Tröpfchen- oder Kontaktinfektion übertragen. Grippe beginnt meist schlagartig und verursacht hohes Fieber, Schüttelfrost, Husten, Kopf-, Glieder- und Muskelschmerzen. Ist der Körper bereits geschwächt, haben Bakterien leichtes Spiel und können zu weiteren Folgeerkrankungen, etwa zu Herzmuskel- und Lungenentzündungen führen. Weil sich Grippeviren ständig verändern, müssen dauernd neue Impfstoffe entwickelt werden.

Pandemie: Die Spanische Grippe kam nicht aus Spanien

Die Spanische Grippe verbreitete sich rasend schnell. Vom Falschen angeniest zu werden oder etwas Falsches anzufassen, konnte den Tod bedeuten.

Woher die Grippe kam, ist nicht endgültig geklärt - aber wohl nicht aus Spanien. Wilfried Witte, Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Evangelisches Krankenhaus Bielefeld und Gastwissenschaftler am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité Berlin, hat über die Pandemie geforscht. Ihm zufolge wird angenommen, dass die Grippe im März 1918 zuerst Schüler und Soldaten in Kansas, USA, heimsuchte.

Der erste Patient? Wie sich die Spanische Grippe verbreitete

Als erster Patient wird oft der Koch Albert Gitchell vom Army-Stützpunkt Fort Riley in Kansas bezeichnet. Er hatte sich am 4. März 1918 mit Fieber krank gemeldet. Binnen weniger Tage erkrankten in diesem Militärlager mehr als 500 Männer.

Schon im Juni wurden Epidemien aus China, Australien, Neuseeland und Indien gemeldet. Mit Truppenschiffen gelangte das Virus dann auch nach Europa. Durch winzige Tröpfchen beim Husten oder Niesen steckten sich die Menschen reihenweise an.

"Spanische" Grippe? Wo entstand das Influenza-Virus?

Aus Spanien kamen ab 22. Mai 1918 in der Madrider Zeitung "El Sol" die ersten Nachrichten, dass massenhaft Menschen an einer rätselhaften Krankheit litten. Selbst der damalige spanische König Alfons XIII. war erkrankt. In Spanien war die Krankheit aber nicht das erste Mal aufgetreten. Spanien war nur aufgrund der sonst vorherrschenden Zensur das erste Land, das über die Krankheit schrieb. In anderen Ländern sollten schlechte Nachrichten während des Krieges nicht das Durchhaltevermögen der Bevölkerung und Soldaten schwächen.

Symptome der Spanischen Grippe: Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen

Die Erkrankung begann mit Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen und endete für viele mit einer begleitenden bakteriellen Lungenentzündung und dem Tod wenige Tage später. Bewohner der Insel Java beschrieben den Krankheitsverlauf so: "Morgens krank, abends tot; abends krank, morgens tot." Die Haut der Erkrankten verfärbte sich aufgrund der Unterversorgung mit Sauerstoff oft dunkelblau bis bräunlichviolett. Deshalb dachten viele Menschen damals zuerst an die Pest. Der "schwarze Tod" gehe wieder um, war nur eines der kursierenden Gerüchte. Die Mediziner waren ratlos. Manche hielten ein "Grippe-Bakterium" für die Ursache. Der wahre Auslöser einer Grippe, das Influenza-Virus, wurde erst 1933 von drei Forschern in London entdeckt.

Spanische Grippe führte zum schnellen Tod

"Es dauert nur einige wenige Stunden, bis der Tod kommt. Und es ist ein einziger Kampf um Luft, bis sie ersticken. Es ist schrecklich."

Roy Grist, Militärarzt in Camp Devens, Massachusetts, am 29. September 1918 in einem Brief an einen anderen Arzt

Influenza-Pandemie: Wer der Spanischen Grippe zum Opfer fiel

Die Sterblichkeitsdiagramme waren W-förmig, schreibt die Mikrobiologin und Wissenschaftsjournalistin Gina Kolata aus den USA in ihrem 2001 erschienen Buch "Influenza - Die Jagd nach dem Virus": Betroffen waren vor allem Babys und Kleinkinder unter fünf Jahren, ältere Menschen zwischen 70 und 74 Jahren - und auffallend viele robuste 20- bis 40-Jährige: Eine Altersklasse, die normalerweise von Infektionskrankheiten eher verschont bleibt.

Spanische Grippe: Tödlicher Verlauf ab Herbst 1918

Kurz vor ihrem Tod verfärbten sich an der Spanischen Grippe Erkrankte stellenweise blau, weil die Lunge versagte.

Heute weiß man, dass die Grippe von 1918 als gewöhnliche Influenza begann, sich dann jedoch veränderte. Medizinhistoriker Wilfried Witte sagt, dass die Spanische Grippe anfangs noch relativ harmlos verlaufen ist: In der ersten Ansteckungswelle im Frühjahr 1918, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, erkrankten sehr viele Menschen, bekamen etwa drei Tage lang Schüttelfrost und Fieber, aber nur wenige starben daran. Im Herbst folgte jedoch eine zweite, diesmal tödliche Welle. Die entfaltete vor allem dort, wo viele Menschen zusammenkamen, ihre große Wucht. In Rekruten- und Kriegsgefangenenlagern steckten sich auf einen Schlag viele Menschen an. "Die meisten sind an einem akuten Lungenversagen gestorben. Das ging rapide schnell vonstatten", erzählt Witte. Therapien wie invasive Beatmung standen Ärzten noch nicht zur Verfügung. Wenn überhaupt, hätten Kranke Mittel zur Kreislaufstärkung bekommen. "So etwas hat natürlich nicht geholfen."

Influenza-Pandemie: Egon Schiele und die Spanische Grippe

Im Oktober 1918 hatte das Virus Wien erreicht. Der 28 Jahre alte Maler Egon Schiele bangte um seine hochschwangere Frau Edith und das ungeborene Kind. Als ihr Fieber immer höher und ihre Atemnot schlimmer wurden, zeichnete Schiele ein Porträt der Sterbenden. Die Kreidezeichnung sollte seine letzte sein: Kaum hatte er Frau und Kind zu Grabe getragen, legte er sich mit Schüttelfrost zu Bett. Am 31. Oktober, drei Tage nach den beiden, starb auch er an der Spanischen Grippe.

War das Immunsystem schon auf das Grippe-Virus vorbereitet?

Der Spanischen Grippe konnte höchstens entkommen, wer schon einmal mit einem ähnlichen Erreger zu tun hatte und ausreichend fit war.

Ein Team um Michael Worobey von der University of Arizona hat erforscht, wie der Erreger entstand und das Ergebnis 2014 publiziert: Vermutlich entwickelte er sich kurz vor dem Ausbruch 1918 durch die Kreuzung eines Vogelgrippevirus mit einem menschlichen Virus, das bereits seit rund 10 bis 15 Jahren kursierte. Laut der Wissenschaftler könnte das auch erklären, warum die Grippe besonders viele 20- bis 40-Jährige dahinraffte: Menschen, die 1918 jünger als 20 oder bereits älter als 40 waren, hatten als Kinder saisonale Grippewellen durchlebt, deren Erreger denen der Spanischen Grippe ähnelten. Ihr Immunsystem war bereits darauf vorbereitet. Als die im Jahr 1918 20- bis 40-Jährigen noch Kinder waren, kursierten allerdings andere Influenzaviren. Sie waren für die Spanische Grippe leichte Opfer.

Spanische Grippe: Immunsystem spielte verrückt

Ein amerikanisch-japanisches Forscherteam veröffentlichte in einer Studie aus dem Jahr 2007 bereits die Vermutung, dass die Spanische Grippe das Immunsystem der Erkrankten überreagieren ließ, sodass sich ihre Abwehrkräfte gegen den eigenen Körper richteten und unter anderem das Lungengewebe zerstört wurde. Nachweisen konnten sie dies an Menschenaffen mit dem nachkonstruierten Virus von 1918. Dies könnte ebenfalls erklären, warum so viele junge, eigentlich robuste Menschen starben. Deren starke Abwehrkräfte könnten ihnen mehr geschadet als genutzt haben.

Gab es eine Impfung gegen die Spanische Grippe?

Heutzutage werden bisherige Pandemien und deren Bekämpfung kritisch diskutiert. In sozialen Medien verbreitete sich seit dem Sommer 2020 die Nachricht, dass bei der Spanischen Grippe nicht die Krankheit an sich, sondern die Impfung mehr als 50 Millionen Todesopfer gefordert habe.
Die Deutsche Presseagentur sowie der Faktencheck-Verein Mimikama und das Recherchezentrum Correctiv sind dieser Behauptung in unabhängigen Recherchen nachgegangen und haben herausgefunden: Während der Spanischen Grippe-Pandemie steckte die Impfstoffforschung noch in den Kinderschuhen. Allein gegen fünf Krankheiten gab es bis dahin schon Impfstoffe: Pocken, Tollwut, Typhus, Cholera und die Pest. Das Grippevirus kannte man als solches noch nicht.

Waren Bakterien der Auslöser für die Spanische Grippe?

Stattdessen ging man davon aus, dass die Spanische Grippe durch Bakterien ausgelöst wird. Deshalb machten sich einige Ärzte daran, einen Impfstoff auf Grundlage von Bakterien aus den Lungen von Infizierten zu entwickeln. Diese "Impfungen" richteten sich also gegen die Bakterien der Folgeinfektionen. Sie führten lediglich dazu, dass die Verläufe der Spanischen Grippe etwas abgemildert wurden. Diese Versuche wurden aber nur örtlich und nicht im großen Stil durchgeführt, bestätigte Birgit Morgenroth Ende August 2020 als damalige Sprecherin des Paul-Ehrlich-Instituts, das in Deutschland für die Bewertung von Impfstoffen zuständig ist: "Unseres Wissens gab es zur Zeit der Spanischen Grippe noch keine Influenza-Impfstoffe. Was nicht heißt, dass es vielleicht einzelne Versuche gab. Aber bestimmt keine strukturierte Impfstoffentwicklung und -produktion für 50 Millionen - die dann alle starben."

Das Risiko einer erneuten Influenza-Pandemie

"Genau die gleiche Situation wie 1918 wird so nicht mehr passieren", sagte Silke Buda, Grippe-Expertin vom Robert Koch-Institut (RKI), hundert Jahre nach dem Beginn der Spanischen Grippe-Pandemie im Jahr 2018. Damals seien die Umstände andere gewesen, die Lebensbedingungen schlechter. Viele Menschen litten zusätzlich bereits an anderen Krankheiten wie Tuberkulose. Gegen die oft tödlichen bakteriellen Lungenentzündungen, die auf die Grippe folgen, konnten die Ärzte nicht viel tun: Antibiotika gab es noch nicht. Heute gebe es laut Buda andere große Herausforderungen: Keime, die immun sind gegen Antibiotika. Reisende, die die Viren noch schneller als damals in die entlegensten Winkel der Welt tragen. "Die Menschen werden heute zudem sehr viel älter als früher, haben dann aber oftmals Grunderkrankungen und sind anfälliger für schwere Krankheitsverläufe", sagte Buda im Jahr 2018.

Zum Weiterlesen:

  • Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe. Berlin 2008.
  • Gina Kolata: Influenza. Die Jagd nach dem Virus. Frankfurt am Main 2001.
  • Manfred Vasold: Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. München 1991.

Im 20. Jahrhundert ereigneten sich bereits mehrere Influenza-Pandemien. Die Pandemie mit der höchsten Anzahl an Todesfällen war mit Abstand die Spanische Grippe. Die Asiatische Grippe im Jahr 1957/58 und die Hongkong-Grippe im Jahr 1968 verursachten geschätzt jeweils eine Million bis vier Millionen Tote. Im 21. Jahrhundert forderte die oft als Schweinegrippe oder Neue Grippe bezeichnete Pandemie im Jahr 2009/2010 laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ungefähr 200.000 Tote. Die Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) des RKI veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Informationen über die saisonale Influenza sowie eine Impf-Empfehlung für Risikogruppen.

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