Sexuelle Übergriffe auf Festivals "Eine Frau muss nackt übers Festival laufen können, ohne dass ihr was zustößt"

Party, Rausch und ein wenig Kontrollverlust gehören für viele zu einem Festivalbesuch. Dass es jedes Jahr dabei zu sexuellen Übergriffen kommt, wollen die meisten nicht hören. Aber das Problem wird größer, wenn man es ignoriert.

Von: Teresa Fries

Stand: 09.06.2015 | Archiv

Sexuelle Gewalt auf Festivals | Bild: BR

Alle feiern die Festivalsaison - wir ja allen voran. Aber bei dem ganzen Spaß, der Party und, ja - wenn wir ehrlich sind - auch bei all dem Alkohol darf man ein Thema nicht verdrängen: Jedes Jahr passieren auf Festivals auch sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen. Aber weder die Besucher noch viele der Veranstalter wollen etwas davon hören. Und das kann gefährlich werden. Dabei gibt es Anlaufstellen für Betroffene sexueller Gewalt.

Alexandra Stigger ist seit 2012 Traumatherapeutin in der Beratungsstelle beim Frauennotruf München. Mit ihren Kolleginnen arbeitet sie kontinuierlich an Projekten, die auch auf Parties für mehr Sicherheit von Mädchen und Frauen, die in den meisten Fällen sexueller Gewalt die Betroffenen sind, sorgen sollen, ob in der Münchner Club- und Konzertszene oder auf dem Oktoberfest. Dort leitet Alexandra Stigger die Anlaufstelle für Betroffene.

PULS: Frau Stigger, kann man das Oktoberfest denn mit Musikfestivals vergleichen?

Alexandra Stigger: Ja. Natürlich ist die Wiesn nochmal was Besonderes, aber Musikfestivals, vor allem die größeren, haben ebenso den Charakter, dass es verschiedene Stationen gibt, an denen man schnell den Überblick verliert, und dass man manchmal in Situationen kommt, wo man sich nicht mehr sicher fühlt, zum Beispiel, wenn man selbst oder andere zu viel getrunken haben.

Was genau sind das denn für Situationen, die gefährlich werden können?

Vor allem die, in denen man sich plötzlich orientierungslos wiederfindet. Man hat seine Freunde verloren und dann ist vielleicht auch noch das Handy weg, man weiß selbst nicht, wo der Schlafplatz ist, oder einem wurden die Wertsachen geklaut. Solche einfachen Situationen - gerade in Verbindung mit Alkoholkonsum - können dazu führen, dass die Eigenschutzfähigkeit der Betroffenen stark eingeschränkt wird.

Was könnten Veranstalter denn tun, um ihre Festivals sicherer zu machen?

Sie könnten ihr Servicepersonal schulen. Damit haben wir auf der Wiesn und in der Münchner Clubszene sehr gute Erfahrungen gemacht. Es geht darum, für dieses Thema zu sensibilisieren und eine gemeinsame Haltung zu entwickeln: Bei uns sind Übergriffe nicht geduldet, wir haben das auf dem Schirm. Viele Securities sind sehr dankbar für unsere Hilfe, weil sie auch einfach oft nicht wissen, wie sie reagieren sollen, wenn eine verzweifelte Frau, denn meistens sind es eben Frauen, zu ihnen kommt. Da ist es für sie wichtig, die richtigen Hilfestellen zu kennen, an die sie weitervermitteln können. Und wenn man für das Thema sensibilisiert ist, dann nimmt man Situationen natürlich auch anders wahr. Wenn einem etwas komisch vorkommt, kann man auch einfach mal hingehen und sagen: Hey, bei euch alles in Ordnung? An mögliche Täter kann das schon das entscheidende Signal sein: Die passen hier auf. Diese Wirkung wird oft unterschätzt.

Was kann man tun, um auf dem Festival so sicher wie möglich unterwegs zu sein?

Da gibt es natürlich einige Tipps: Wichtige Dinge am Körper tragen, nicht in einer Tasche, die geklaut werden könnte. Mit einer Gruppe unterwegs sein, in der man sich wohlfühlt und Treffpunkte ausmachen, wenn man sich verliert und genau dann das Handynetz zusammenbricht. Wichtig ist auch: Keine Getränke von Fremden annehmen und den eigenen Drink immer im Auge behalten.

An sich alles Ratschläge, die man schon oft gehört hat.

Ja, das stimmt. Aber selbst wenn man das alles weiß, kann immer etwas passieren. Und wenn ich jetzt all diese Tipps gebe, muss dabei klar sein: Das soll in keinster Weise suggerieren, dass Betroffene selbst Schuld sind, wenn ihnen etwas angetan wird. Man hört das ja immer wieder: Die war aufreizend gekleidet, hat geflirtet, war betrunken. Diese Täter-Opfer-Umkehr, das sogenannte Victim Blaming, ist ein klassischer Vergewaltigungsmythos. Wir sagen immer: Eine Frau muss nackt und sturzbetrunken über ein Festival laufen können, ohne dass ihr etwas zustößt. Denn Schuld dafür tragen die Täter. Das Victim Blaming kann fatale Folgen haben, denn es führt dazu, dass die Betroffenen sexueller Gewalt sich keine therapeutische Hilfe suchen und die Taten nicht anzeigen.

Was kann ich denn in einer konkreten Notsituation tun? Oft startet es ja als harmloser Flirt, aber der andere kommt einem irgendwann zu nahe. Gerade wenn beide betrunken sind, kann das eine Situation sein, der man nicht einfach entkommt.

Wichtig ist: auf das eigene Bauchgefühl hören und sich zu nichts verpflichtet fühlen. Man muss klar sagen, wenn die eigene Grenze erreicht ist, auch wenn es einem unhöflich oder peinlich erscheint. Das ist es nicht. Und merkt man, dass man alleine nicht aus der Situation herauskommt, kann es helfen, umstehende Personen ganz gezielt anzusprechen: Sie mit dem grünen Hemd, bitte helfen Sie mir! Leider zeigen Fälle immer wieder, dass andere sonst oft erst spät oder gar nicht eingreifen.

2013 musste man von einem Fall lesen, in dem eine betrunkene 27-Jährige in ihrem Zelt auf einem bayerischen Festival vergewaltigt wurde, ohne es mitzubekommen. Sie wachte unbekleidet auf und andere Besucher erzählten ihr, dass sie jemanden aus dem Zelt haben kommen sehen, der gesagt habe, dass sie es offenbar mit jedem treibe. Ein Arzt, den sie aufsuchte, stellte dann die Vergewaltigung fest.

Ja, solche Fälle gibt es leider, dass Frauen in Tiefschlaf fallen, weil es zu viel Alkohol war, sie vielleicht auch schon sehr lange unterwegs sind und wenig gegessen haben. Und das ist wirklich auch Täterstrategie: Die stehen bereit und warten darauf, dass jemand einschläft und testen, wie weit sie gehen können, eben auch bis zur Vergewaltigung. Deswegen ist es so wichtig, dass man die Polizei ruft, sobald man etwas Verdächtiges beobachtet und auch die möglichen Betroffenen informiert, die natürlich auch ärztliche Versorgung benötigen könnten.

Wir haben versucht, auch mit Festivalveranstaltern über das Thema zu reden. Von fünf war erstmal nur einer, das Taubertal, überhaupt zu einem Gespräch bereit. Man hat das Gefühl, dass viele von dem Thema nichts wissen wollen, um ihrem Image nicht zu schaden.

Indem man das Thema ausklammert, wird es ja nicht besser. Im Gegenteil. Je präsenter das behandelt wird, umso mehr Zivilcourage erzeugt man. Wenn es heißt, es wurden so und so viele Fälle gemeldet, dann ist das natürlich auf der einen Seite schlecht, denn jeder Fall eines sexuellen Übergriffs ist einer zu viel, aber auf der anderen Seite wurden sie immerhin angezeigt und die Betroffenen haben sich Hilfe geholt. Nur weil nach einer Veranstaltung nichts in der Zeitung steht, heißt das nicht, dass nichts passiert ist. Die Dunkelziffer ist sehr hoch und das liegt wiederum daran, dass Frauen sich schämen und sich selbst die Schuld geben, wenn etwas passiert. Und das muss aufhören.

UPDATE

Nach dem Veranstalter des Taubertal-Festivals hat uns jetzt auch der Veranstalter des Rock im Park Informationen zur Verfügung gestellt, wie sie der Gefahr sexueller Übergriffe begegnen:

"Sämtliche Campingbereiche wurden in Parzellen aufgeteilt. Für jeden Bereich gibt es verantwortliche Mitarbeiter des Ordnungsdienstes. Nach einer Weile kennen die Mitarbeiter 'ihre Leute' und den Bereich, für den sie zuständig sind. Durch den persönlichen Kontakt zu den Gästen stellen wir sicher, dass Personen auffallen, die nicht in diesem Campingplatzbereich 'wohnen'. Zusätzlich haben wir sogenannte Flex-Truppen im Einsatz. Diese bestreifen das Gelände und sind entsprechend sensibilisiert. Die Ordner werden im Rahmen der Unterweisung auf die Möglichkeit sexueller Übergriffe hingewiesen und zum weiteren Verhalten unterrichtet; hierbei geht es nicht nur um deren Aufmerksamkeit und Prävention, sondern auch darum, im Ereignisfalle an die richtige Stelle Meldung zu machen und Hilfe zu leisten.

Wir halten über den Sanitätsdienst einen psychologischen Betreuungsdienst vor. Speziell weibliche Sanitäter. Diese sind geschult. Die Festivalapotheke hält die 'Pille danach' zur Verfügung. Die Stadt Nürnberg hat einen Informationsstand des Jugendamtes vor Ort. Jugendliche werden gezielt angesprochen, insbesondere auf die Gefahren von Drogen und Alkohol. Der Stand hat nicht ausschließlich die Ausrichtung 'sexuelle Gewalt', allerdings haben die vor Ort tätigen Mitarbeiter des Jugendamtes ganz gezielt ein Auge hierauf und sprechen junge Damen aktiv an. Es werden sogenannte 'Katertüten' verteilt. Hierin sind beispielsweise Hinweise unter der Überschrift 'Spaß aber sicher / Achtung KO-Tropfen'.

Auf Anfrage geben wir die Verhaltensempfehlungen des Weißen Rings weiter (wie verhalte ich mich als Frau in einer konkreten Situation)."

Rock im Park