Marcel Reif, Archivbild von 2017
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Marcel Reif: Der Sportjournalist und Fußballkommentator spricht am 31. Januar im Bundestag

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"Sei ein Mensch": Marcel Reif über das Vermächtnis seines Vaters

Wie geht man mit dem Gedenken an die Opfer des Holocaust um, wenn die Zeitzeugen sterben? Ein Gespräch mit dem Sportjournalisten Marcel Reif, der im Bundestag zum Holocaust-Gedenken sprechen wird – als zweite Generation.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Der 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Gedenkstunde im Bundestag findet am 31. Januar statt, und in diesem Jahr soll mehr noch als früher darüber nachgedacht werden, wie das Gedenken an den Holocaust generationenübergreifend gestaltet werden kann. Viele Überlebende sind mittlerweile sehr alt oder leben nicht mehr, können nichts mehr bezeugen. Neben der ungarischen Holocaustüberlebenden Eva Szepesi wird Marcel Reif im Bundestag sprechen, Sportjournalist und Fußballkommentator, ein Rhetoriker, der Wortwitz und scharfe Analyse immer zusammenbrachte, Marcel Reif gehört zur nächsten Generation, sein Vater entkam einem Zug ins Todeslager nur durch Glück. Barbara Knopf hat mit Marcel Reif gesprochen.

kulturWelt: Sie sind 1949 in Polen geboren. Ihre Familie emigrierte 1956 nach Israel und dann nach Deutschland, nach Kaiserslautern. Und jetzt sprechen Sie im Bundestag in einer Rolle, die Ihnen ja lange Zeit auch selber gar nicht klar war, dass Ihr Vater ein Verfolgter in der Nazizeit war.

Marcel Reif: Das akzeptiere ich immer noch nicht als Rolle, ich habe keine Rolle. Ich habe nichts auf der Naht, ich habe eigentlich nichts zu erzählen, außer das, was ich irgendwann mal dann über einen Vater erfahren habe, der geschwiegen hat. Der hatte eine fürchterliche Rolle und am Ende eine glückliche Rolle, was sie wollen. Ich bin nur ein Sohn. Aber ich möchte noch mal betonen: Ich bin kein Handlungsreisender in Sachen Holocaust nach dem Motto: 'Hey, ich bin der Sohn eines Holocaustüberlebenden. Hat jemand mehr zu bieten?' Das wird auch meinem Vater nicht gerecht und das ist das Letzte, was ich möchte.

Sie haben sich damit auch in Ihrer eigenen Biografie "Aus spitzem Winkel" auseinandergesetzt. Aber Sie haben überhaupt erst die ganze Geschichte erfahren, als Ihr Vater bereits gestorben war?

Ein paar Jahre danach, weil meine Mutter offenbar ein Schweigegelöbnis hatte. Aber für das Buch haben wir uns irgendwann mal hingesetzt, haben drei Tage lang gelacht, geheult, erzählt. Da habe ich Dinge gehört, vor denen ich Angst hatte, sie zu hören. Wenn Sie mich gleich fragen: Warum haben Sie denn den Vater nicht gefragt, wenn der geschwiegen hat? Weil ich Angst hatte. Weil ich geahnt habe, dass ich da Dinge hören würde, die unsäglich sind, unerträglich, unfassbar. Und weil er das so wollte.

Schauen Sie, ich wusste doch, was der Holocaust ist. Ich wusste, dass ich keine Großeltern habe und warum ich keine Großeltern habe. Weil sie ermordet worden waren. Das reichte mir. Und mein Vater wollte, dass es so ist. Mein Vater wollte, wenn wir ins Land der Täter ziehen, nach Deutschland, dass die Kinder, meine Schwester und ich, nicht in jedem Postboten, Bäcker, Lehrer den vermeintlichen Mörder ihrer Großeltern sehen. Und so konnten wir eine dumpfbackig fröhliche, entspannte, lustige, liebevolle Kindheit und Jugend leben, unbelastet, unbeschwert. Das habe ich als junger Mensch dankbar angenommen. Heute weiß ich, dass das sicher auch heldenhaft war von meinem Vater, Dinge nicht aussprechen zu wollen, zu können, zu sollen.

Aber Ihrer Mutter war es dann irgendwann ein Bedürfnis, dass Sie doch mehr wissen?

Ich habe sie dann gefragt: 'Mama, jetzt komm, der Papa ist tot. Du kannst doch jetzt erzählen.' Während mein Vater noch lebte, hatte sie eine Attitüde: Wenn ich mal fand, dass mein Vater zu depressiv war, während sein Enkel da war, wollte ich ihn eigentlich maßregeln. Da fuhr meine Mutter dazwischen mit einer abwehrenden Handbewegung und sagte: 'Du weißt ja gar nichts.' Ich habe das sofort begriffen: Sie wusste, aber sie sollte auch nicht sprechen. Und als wir uns dann zusammengesetzt haben, um ein paar Dinge noch mal zu verifizieren, aus so anekdotenhaften Fragen, in welchen Stadtteil von Tel Aviv wir zum Beispiel gewohnt haben, kamen wir dann zu Dingen, von denen ich dann gemerkt habe, dass es gut war für mich, sie nicht gehört zu haben.

Man steht ja eigentlich in einer Reihe: Das Schicksal Ihres Vaters hat ja auch Auswirkungen auf Sie. Die Wissenschaft spricht von der transgenerationalen Weitergabe. Das heißt, auch die Nachgeborenen sind tatsächlich von einem Trauma betroffen, das sie selbst gar nicht erlebt haben.

Da müsste ich jetzt in die Selbstanalyse gehen, meine Kinder, meine Enkel, meine Frau, die könnten da vielleicht was finden. Aber es gibt am Ende doch eine Pointe: Viele Jahre nach dem Tod meines Vaters fiel mir ein, dass er mir bei vielen Gelegenheiten – wenn ich was gefragt habe oder er mich tadelte … – nur drei Worte sagte, immer auf Jiddisch: 'Sei ein Mensch!' Heute weiß ich, dass das sein Vermächtnis war. Das, was er destilliert hatte aus seiner Katastrophe, aus seinem Überleben, aus dem Unmenschlichen, aus dem Übermenschlichen von Berthold Beitz, der ihn aus dem Zug geholt hat, aus eigenem Heldentum während der Flucht. Geblieben ist: Sei ein Mensch. Er wollte mir nicht sagen: Guck, auf diesem Leichenberg auf dem Foto da, in Auschwitz, da liegt der Opa. Aber: 'Sei ein Mensch!'

Dieser sehr verdichtete Begriff 'Sei ein Mensch'. Was birgt der alles?

Ist das nicht unfassbar? Sind das nicht läppische drei Wörtchen? Und ist da nicht alles das drin, was jemand, der wirklich an Existenzielles, ans Menschsein gerät, daraus mitnimmt? Und er hat nicht das Lieben verlernt und nicht das Behüten und die Lebensfreude. Das war ein lustiger, ein super Vater. Ich habe nichts, nichts vermisst.

Ein Detail, Sie haben gesagt. Ihr Vater wurde aus dem Zug geholt. Also er war sozusagen schon auf dem Weg …

Ja, in ein Todeslager. Berthold Beitz, der spätere Generalbevollmächtigte von Krupp, hat ihn auf dem Bahnsteig aus dem Zug geholt. Er war als junger Kerl dort Leiter des petrochemischen Betriebs, also kriegswichtige Produktion. Und er hat den SS-Jungs, die mit den Waffen auf dem Bahnsteig standen, gesagt: Ich brauche die Leute da zum Arbeiten! Ach, ihr wollt die nicht rauslassen? Das melde ich aber, Freunde! Berthold Beitz hat sich gegen Dinge durchgesetzt und hat Dinge getan … seine Frau hat jüdische Kinder im Treppenhaus versteckt, das sind Helden - und Menschen.

Jetzt sind die Zeugen des Holocaust wie ihr Vater bereits mehrheitlich gestorben. Aber Sie sind jetzt da: Jahrgang 49, 74 Jahre alt, die zweite Generation. Das heißt, Ihr Blick ist gefiltert, es ist eben nicht das eigene Erleben …

Nein, es gibt keinen Blick, nicht mal gefiltert! Ich habe nichts gesehen! Und weil ich nichts gesehen habe, ist es unsäglich, unfassbar, unerträglich. Ich habe die inneren Bilder, aber die gehören mir. Und damit kann ich auch nicht hausieren gehen. Damit werde ich auch niemandem helfen können, weil es aus zweiter Hand ist. Ich kann nur 'sei ein Mensch' weitergeben. Ich kann nur erzählen, dass es Menschen gab, und wie sie damit umgegangen sind und was mein Vater wollte.

Und wenn ich auf einer deutschen Straße etwas höre, das nicht geht, dann kann ich sagen: Das geht nicht. Und dann muss ich es sagen und dann werde ich es sagen. Der Holocaust ist mehr als nur ein Geschichtsdatum, aber es liegt in der Natur der Sache: Wenn die Zeitzeugen sterben, wird es geschriebenes Wort sein. Das, was bleibt aus der Rückschau und was jetzt noch angemahnt werden kann – von Frau Szepesi zum Beispiel im Bundestag –. ist: 'Nie wieder'. Wobei Mahnung oder Appell – ich habe ein großes Problem mit den Worten zurzeit –, das ließe zu viel Spielraum. 'Nie wieder' ist nicht mal millimeterweise verrückbare Wirklichkeit. Das kann, wird und darf nicht wieder passieren. Aus.

Aber wie kann man weiter das Erinnern gestalten? Denn zunehmend mehr Menschen sind nicht mehr empfänglich für diese historischen Fakten?

Es hilft nichts, wenn ich meinen Enkel Gräueltaten erzähle. Das wird sie nicht sensibler machen für andere Dinge, sondern sie werden Angst haben vor solchen Taten. Ich hatte Angst, zu hören, wie mein großer, starker Vater gelitten hat. Das wollte ich nicht hören. Also muss man einen Weg finden. Mit Geschichte muss man weiterarbeiten. Und ich werde keinem Deutschen erlauben zu sagen: Jetzt ist es mal genug oder jetzt können wir die Geschichte aber auch mal ein bisschen weniger dramatisch erzählen.

Der Rechtsradikalismus nimmt zu und das rechte Denken und Sprechen wird zunehmend salonfähig, der Antisemitismus kommt mittlerweile aus der Mitte der Gesellschaft - vor allem jetzt nach dem Hamas-Angriff auf Israel und dem Krieg in Gaza. Wie gehen Sie damit dann um?

Sie als Deutsche fragen mich als Deutschen jetzt nach 'ismus'? Wir reden wirklich über 'ismus' bereits? Ist Antisemitismus ein Begriff, mit dem ich mich jetzt, wirklich heute auseinandersetzen soll in Deutschland? Das ist undenkbar, das ist unfassbar. Wenn da nichts passiert, dann allerdings hat Deutschland und dieses deutsche Volk diese zweite Chance, die sie bekommen haben, ein gutes, ein richtiges, ein besseres Land zu sein, nicht verdient.

Ich habe Dinge gehört und gesehen auf deutschen Straßen und Plätzen, die haben mich entsetzt. Aber was ich zuletzt sehe, die Demonstrationen auf deutschen Plätzen und Straßen, macht mir wieder Hoffnung. Es gibt die große schweigende Mehrheit und ich habe das Gefühl, dass irgendwelche kleinen Konferenzchen in irgendwelchen Potsdamer Villen doch irgendwas triggern, dass da bei manchen Menschen kommt: 'Du, pass auf!' Sonst fragen die uns später mal: 'Ihr habt nichts gewusst, Ihr habt nichts gemerkt? Das glaube ich euch aber nicht.'

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