Wladimir Putin bei seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023.
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Wladimir Putin bei seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023.

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"Wenn Russland durch Krieg einen Gewinn hat, macht das Schule"

Am 24. Februar 2022 fällt Russland in die Ukraine ein. Doch das Nachbarland hat sich behauptet und kämpft seitdem in einem Abnutzungskampf um jeden Meter. Kann der Krieg bald vorbei sein und wie geht es dann mit der Ukraine und mit Russland weiter?

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Seit mehr als 500 Tagen führt die Ukraine Krieg gegen den Aggressor Russland. Im Sommerinterview für das aktuelle "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) hat BR24 mit Nico Lange über den Krieg, dessen Verlauf und die Zukunft der Ukraine und Russlands gesprochen.

Nico Lange ist für die Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz tätig und war bis Anfang 2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Er lebte und arbeitete lange in Russland und der Ukraine und spricht fließend Russisch und Ukrainisch.

BR24: Mehr als 500 Tage dauert der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine: Was ist das Wichtigste, das wir daraus gelernt haben sollten?

Nico Lange: Die wichtigste Erkenntnis ist: Russland ist schlagbar. Man kann einen Krieg gegen Russland gewinnen. Die Ukraine ist in der Lage, den russischen Angriff abzuwehren. Und Russland kann auch einen Krieg verlieren. Das haben vorher viele nicht für möglich gehalten. Aber das sehen wir.

Russland hat seine militärischen Ziele nicht erreicht in der Ukraine, hat 50 Prozent des Gebiets, das es erobert hatte, wieder verloren. Und ist auch jetzt mit Mühe und Not dabei, die Stellung zu halten und verlegt sich auf andere Methoden wie zum Beispiel Terror gegen Getreidelieferungen. Also die wichtigste Erkenntnis ist für mich: Russland ist schlagbar.

"Hätten Putin von diesem Krieg abschrecken können"

BR24: Wir im Westen sprechen davon, dass der Krieg am 24. Februar 2022 angefangen hat. Ukrainerinnen und Ukrainer sagen eher, dass der Krieg auf der Krim angefangen hat mit der völkerrechtswidrigen Besetzung 2014. Hat der Westen angemessen auf die Krim-Annexion reagiert? Anders gefragt: Hätten wir es in der Hand gehabt, diesen Krieg zu verhindern?

Lange: Nein, wir haben nicht angemessen reagiert. Ja, wir hätten Möglichkeiten gehabt, Putin von diesem Krieg abzuschrecken. Aber wir haben eben seit 2014 nicht das Notwendige getan, um ihn davon abzuhalten und um ihnen zu zeigen, dass das so nicht geht. Denn ganz im Gegenteil, wir haben ihn ja fast noch ermutigt durch unsere sanfte Reaktion.

Ich kann mich noch genau erinnern an 2014 als führende deutsche Persönlichkeiten davon gesprochen haben, dass das vielleicht keine russischen Soldaten auf der Krim sind, vielleicht ist das so eine Art Volksaufstand, da dürften wir jetzt kein Säbelrasseln machen und wir müssten militärisches Eingreifen von vornherein ausschließen. Und daraus hat Putin geschlossen: Die helfen der Ukraine nicht, dann kann ich eben vorangehen.

Wir haben diese völkerrechtswidrige Annexion der Krim, die russische Intervention im Donbass und auch den Abschuss des Flugzeuges MH17 mit zu wenig Reaktionen hingenommen, so wie wir aber auch zum Beispiel den Mord im Berliner Tiergarten, mitten in Berlin, fast ohne Konsequenzen hingenommen haben. Dass all das passieren konnte und keine Folgen hatte für Putin, das hat ihn dazu ermutigt, am Ende diesen Krieg zu führen. Ich hoffe, dass wir daraus jetzt gelernt haben.

Im Video: 500 Tage Krieg – Wann ist er vorbei? Possoch klärt!

"Putin geht es um das imperiale Russland"

BR24: Warum führt Russland eigentlich diesen Krieg?

Lange: Wladimir Putin hat sich dafür entschieden, die Ukraine anzugreifen, weil er - wie viele Eliten in Russland - in Politik und Wirtschaft davon überzeugt ist, dass Russland wieder zu imperialer Stärke zurückfinden muss. Aus seiner Sicht ist der Normalzustand der, in dem ein großes Russland den europäischen Kontinent dominiert, aber durch Irrungen und Wirrungen der Geschichte ist es zurzeit anders gekommen.

Die Amerikaner haben Einfluss auf dem europäischen Kontinent, einige Staaten sind sozusagen dem Westen anheimgefallen, und da muss jetzt wieder aus Putins Sicht die ursprüngliche Ordnung hergestellt werden.

Und das ist eben ein großes russisches Imperium. Und so hat Russland schon immer getickt. So hat Russland auch in der Zeit der Sowjetunion getickt, und das hat Putin jetzt wieder erwogen. Alle anderen Argumente, von wegen Nato-Osterweiterung und all das, das sind vorgeschobene Argumente. Im Kern geht es Putin um das imperiale, große Russland.

"Putin ist schuld am Krieg, alles andere ist Propaganda"

BR24: Seit mehr als 500 Tagen hören wir das bzw. wir können es auch immer wieder in den User-Kommentaren lesen: Der Westen sei nicht unschuldig, die NATO habe auch provoziert, Russland sei nicht allein schuld. Ist da überhaupt etwas dran?

Lange: Nein, da ist gar nichts dran. An diesem Krieg ist Wladimir Putin schuld. Wladimir Putin ist verantwortlich dafür, dass der Krieg begonnen hat. Er ist auch schon für die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Intervention im Donbass verantwortlich. Wladimir Putin trägt die Verantwortung für viele, viele Tausende von Toten auf dem Gebiet der Ukraine während des Krieges seit 2014.

Alles andere ist vorgeschobene Propagandaerzählung und schlicht und einfach nicht wahr. Ich bin erstaunt darüber, dass bei uns so viele bereit sind, diese russische Propaganda nachzuplappern und das immer wieder aufbringen und das sogar oft wiederholen, obwohl es tausendmal widerlegt worden ist. Das sagt ein bisschen was über Diskussionen bei uns aus, wo manche Leute offensichtlich nicht mehr die Wahrheit als Wahrheit erkennen wollen und immer sagen: schwarz ist weiß und weiß ist schwarz.

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Nico Lange ist für die Münchner Sicherheitskonferenz tätig und war bis Anfang 2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesverteidigungsministerium.

Ist der Krieg im Oktober vorbei?

BR24: Marcus Keupp, Militärökonom an der ETH Zürich, sagte uns im Interview: Der Krieg kann im Oktober vorbei sein, Russland hat nicht die militärische Logistik, das weiter zu betreiben. Ist das realistisch?

Lange: Krieg kann man nicht vorhersagen. Russland hat in den vergangenen Monaten Verteidigungsstellungen ausgebaut in der Südukraine und auch Minenfelder aufbaut. Das sind gemanagte Minenfelder, also Minenfelder, in denen ständig während des Kampfes neue Minen verlegt werden: Wenn die Ukraine Minen räumt an der einen Stelle, kommen an einer anderen Stelle mit Minenwerfern neue Mienen hinzu. Wir merken erst jetzt, was das militärisch wirklich bedeutet und wie langwierig das ist. Das ist manchmal auch ein Kampf gegen die Windmühlen. Deswegen sind Prognosen so schwer.

Wir haben keine Erfahrungen mit diesen Dingen. Die Bundeswehr hat keine Erfahrung, wie es ist, in einem Krieg zu kämpfen, indem es massenweise Drohnen gibt, die über einem herumschwirren, indem die Sichtbarkeit sehr hoch ist über viele Kilometer im flachen Land und indem es diese großen Minenfelder gibt.

Wir sollten uns jedenfalls nicht immer wieder versuchen, damit zu beruhigen, dass wir sagen: In ein paar Wochen oder ein paar Monaten ist es vorbei. Wenn das so kommt, ist es gut. Aber besser bereiten wir uns auf eine langfristige Unterstützung der Ukraine vor.

Jetzt verhandeln, dann gibt es Frieden? "Unsinn"

BR24: Was ist dann wahrscheinlicher: eine militärische Niederlage Russlands oder ein Verhandlungsfrieden?

Lange: Das ist ja kein Widerspruch. Das wird immer so getan, als sei das ein Widerspruch, als müsste man jetzt nur verhandeln und dann gäbe es den Frieden. Das ist natürlich Unsinn. Es wird erst vernünftige Verhandlungen geben, die auch zu einem Ergebnis führen können, wenn die Ukraine militärisch in die Situation kommt, dass Russland gesprächsbereit ist. So weit sind wir noch nicht.

Aber möglicherweise kann ein Durchbruch an der Front, auch eine militärische Bedrohung der Krim, die Ukraine in einer Position der Stärke dazu führen, dass es dann auch den Beginn gibt von Gesprächen. Das kann man zeitlich nicht genau vorhersagen, wann das kommt. Aber das ist das Ziel, auf das wir hinarbeiten müssen.

Jedenfalls sollten wir uns nicht auf diesen Unsinn einlassen, zu sagen: Man muss jetzt einfach nur verhandeln, und dann gibt es Frieden bei. Das würde zum jetzigen Zeitpunkt bedeuten, dass die Ukraine ihre Landsleute unter Folter und Unterdrückung zurücklässt und dass Russland durch den Angriffskrieg einen Gewinn hat. Und das darf auch aus unserem Interesse, aus deutschem Interesse, nicht passieren, weil das sonst Schule macht.

Wie wird der Winter, wenn der Krieg weitergeht?

BR24: Wenn der Krieg nicht vor dem Winter vorbei ist, werden wir einen ähnlichen Winter wie vergangenes Jahr erleben – mit der Unsicherheit, ob das Gas reicht und mit teurer Energie?

Lange: Das hat gar nichts mehr mit dem Krieg zu tun. Russland ist kein Energielieferant mehr, der für Deutschland infrage kommt. Deutschland kauft kein Gas, kein Öl, keine Kohle mehr aus Russland und ist jetzt auf andere Lieferanten angewiesen und auch auf die Preise, die da gezahlt werden müssen.

Das Wetter war im letzten Winter einigermaßen günstig, die Gas-Speicher sind voll, aber das ist nicht garantiert, dass das so bleibt. Insofern kann man damit rechnen, dass es Schwierigkeiten geben wird. Die Transformation geht eben nicht so schnell. Insofern ist jetzt in der Übergangsphase, die in diesem Winter stattfinden wird, sicherlich mit hohen Preisen zu rechnen. Aber es ist auch nicht so, dass wenn es Frieden gibt, die Preise heruntergehen.

Die Unabhängigkeit von Russland ist dauerhaft so entschieden, deswegen wird man die militärische Unterstützung für die Ukraine und den Umgang mit hohen Energiepreisen im nächsten Winter gleichzeitig bewältigen müssen. Das kann man aber schaffen, das haben wir im letzten Winter auch geschafft.

Grafik: Das Ausmaß der Zerstörung

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500 Tage Ukraine-Krieg zeigen das Ausmaß der Zerstörung

Wie geht es nach dem Krieg für die Ukraine weiter?

BR24: Die Ukraine wird diesen Krieg noch viele Generationen lang spüren: viele gefallene Soldaten, zerstörte Infrastruktur, Kulturdenkmäler, Natur, vermintes Ackerland und traumatisierte Kinder. Was muss da getan werden, damit die Ukraine wieder eine Zukunft hat, unabhängig von der Mitgliedschaft in einem internationalen Bündnis?

Lange: Es ist natürlich ein ganz anderer Hintergrund, aber es gibt auch in Deutschland eine Nachkriegserfahrung. Und daher wissen wir aus eigener Erfahrung, dass wirtschaftlicher Aufschwung, wirtschaftliche Perspektiven, positive Zukunftsperspektiven am besten über all diese Dinge hinweghelfen. Und deswegen ist es so wichtig, die Chancen der Ukraine zu nutzen.

Die Ukraine ist ein reiches Land, es gibt sehr gut ausgebildete Leute dort, sehr große Vorkommen an wichtigen Rohstoffen, die wir übrigens auch für die Energiewende brauchen. Es gibt einen sehr hohen Urbanisierungsgrad mit Universitäten, mit guten Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Entwicklung.

Ich glaube, wir haben alle gemeinsames Interesse daran, dass die Ukraine eine positive wirtschaftliche Entwicklung nimmt. Dann ist die Bewältigung dieser Folgen des Krieges auch einfacher möglich.

Was passiert mit Russland nach dem Krieg?

BR24: Und wie geht es nach dem Krieg mit Russland weiter? Wird Russland für den Westen ein Aussätziger sein oder kann es wieder eine Annäherung geben – nach einem Regime-Wechsel zum Beispiel?

Lange: Wir müssen besser werden darin, zwischen Putinpolitik und Russlandpolitik zu unterscheiden. Putin hat uns glauben machen können, dass Putin Russland ist und Russland Putin. Das ist nicht der Fall. Es gibt ganz viele Russen, die ein anderes Russland wollen. Viele von denen sind zurzeit außerhalb des Landes oder sie verhalten sich ruhig. Das kann man denen auch nicht verübeln bei der Unterdrückung, die dort herrscht.

Wir müssen in der Lage sein, den Russen die Botschaft zu vermitteln: Es ist möglich, dass Russland diesen Krieg verliert. Und gerade wenn Russland sich aus der Ukraine zurückzieht, dann gibt es eine Möglichkeit für eine bessere Entwicklung, auch für eine gemeinsame Entwicklung.

Ich halte es für wichtig, dass wir diese Möglichkeit auch aufzeigen. Mit Putin selbst und mit diesem Regime, das diese Kriegsverbrechen verübt hat und das für Hunderttausende von Toten verantwortlich ist, glaube ich aber, ist keine vernünftige Zusammenarbeit mehr möglich.

BR24: Danke für das Gespräch.

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