Ein Drogenkonsument spritzt sich Heroin. Opioide spielt bei 76 Prozent der registrierten Drogentoten in der EU eine Rolle.
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Ein Drogenkonsument spritzt sich Heroin. Opioide spielt bei 76 Prozent der registrierten Drogentoten in der EU eine Rolle.

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Gibt es mehr Drogentote in Ländern mit strenger Drogenpolitik?

Dass in Bayern mehr Menschen an Drogen sterben als in den Niederlanden, sehen im Netz manche als Argument für eine liberale Drogenpolitik. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Drogenpolitik und Drogentodeszahlen? Teil 2 der #Faktenfuchs-Recherche.

Allein in Bayern sind in den letzten Jahren mehr Menschen an Drogen gestorben als in den Niederlanden - und das bei weniger Einwohnern. Befürworter einer liberalen Drogenpolitik argumentieren mit diesen Zahlen im Netz für weniger strenge Drogengesetze: "Bayern hat mehr Drogentote als die Niederlande (...). So sieht erfolgreiche CSU-Drogenpolitik aus", schreibt ein Twitter-User ironisch. Er befürworte liberale Drogengesetze.

Doch gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen Drogenpolitik und Drogentodeszahlen? Sterben also weniger Menschen an Drogen, wenn die Drogengesetze liberaler sind, weniger streng verfolgt werden und es mehr Hilfsangebote gibt?

Drogengesetze von Bayern und Niederlanden im Vergleich

Zum Vergleich der Drogenpolitik der Niederlande und von Bayern gibt es keine direkten Untersuchungen. Aber man kann Schlüsse ziehen zum Vergleich von Deutschland mit den Niederlanden sowie ob Bayern im Deutschlandvergleich überdurchschnittlich streng ist.

Vergleicht man die geltenden Drogengesetze, ist Deutschland eindeutig strenger als die Niederlande: Für Drogenbesitz drohen in Deutschland bis zu fünf Jahre Gefängnis, in den Niederlanden je nach Drogenart nur bis zu einem Monat oder einem Jahr. Für Drogenhandel sind bis zu 15 Jahre Haft in Deutschland möglich, in den Niederlanden bis zu sechs oder zwölf Jahren je nach Drogenart. Drogenkonsum ist in beiden Ländern straffrei.

Wie streng werden die Drogengesetze im Vergleich verfolgt?

Der Gesetzesrahmen sagt aber noch nicht, wie die Strafverfolgung im Land tatsächlich aussieht. Hier gibt es laut Esther Neumeier, Leiterin der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), nur "begrenzt Informationen". Die DBDD ist der nationale Partner der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), die europaweit Daten zusammenträgt.

Laut Befragungen von Konsumenten saßen mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland, die sich Drogen spritzen, schonmal im Gefängnis. Zu den Niederlanden wurden hier keine Daten gesammelt. In Portugal, wo die Drogengesetze sehr liberal sind, waren es nur etwas über 20 Prozent. Wer geringe Mengen Drogen bei sich trägt, wird dort eher in Beratungseinrichtungen geschickt anstatt zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden. "In Deutschland landen die meisten Konsumenten früher oder später in Haft - und das nicht nur einmal", sagt Gül Pinar, Rechtsanwältin und Mitglied des Ausschusses Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins.

2017 untersuchte die EMCDDA die Strafen für Drogenhandel in der EU, indem sie die erwarteten und tatsächlich vergebenen Strafen verglichen. Hier fielen die Strafen in Deutschland meist niedriger aus als erwartet und in den Niederlanden meistens genauso streng wie erwartet. Im Vergleich waren sowohl die erwarteten als auch die tatsächlichen Strafen in den Niederlanden in allen Bereichen aber eindeutig niedriger als in Deutschland.

Grafik: Erwartete Strafe für den Handel mit 1kg einer Droge

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Ein Vergleich der EMCDDA zeigte 2017: Die Strafen für Drogenhandel sind in den Niederlanden deutlich geringer als in Deutschland.

Sowohl die Drogengesetze als auch - soweit untersucht - die tatsächlichen Strafen für Vergehen sind in den Niederlanden also liberaler als in Deutschland. Aber wie sieht es mit Bayern aus?

Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt es laut der DBDD bei den Drogen- und Suchtprogrammen - aber auch dabei, wie streng Drogendelikte verfolgt und die geltenden Gesetze angewendet werden.

Das Betäubungsmittelgesetz lässt hier Spielraum für die Länder - zum Beispiel ob sie eine Menge einer Droge als "geringe Menge" definieren wollen. Bei einer geringen Menge kann die Staatsanwaltschaft von einer Verfolgung absehen. In Hessen, Bremen oder Niedersachsen ist das zum Beispiel bei Besitz von bis zu 1 Gramm Heroin oder Kokain möglich. In Bayern gibt es solche Regelungen außer bei Cannabis nicht.

Das Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht kam 2006 zu dem Schluss, dass Bayern neben Baden-Württemberg und Sachsen im Ländervergleich restriktivere Vorgaben hat. In der Praxis seien in Bayern und Sachsen Verfahrenseinstellungen nur bei "weichen" Drogen in Betracht gekommen - in Hessen, NRW oder Schleswig-Holstein auch bei "harten" Drogen wie Heroin oder Kokain. Es gebe aber auch Unterschiede innerhalb der Bundesländer, je nach Region, wie häufig Verfahren eingestellt werden.

Es gebe auch jetzt noch "ganz große Unterschiede", wie die Bundesländer Drogendelikte verfolgen, sagt Rechtsanwältin Gül Pinar - Bayern sei hier mit am strengsten. "Sowohl bei Besitz als auch bei Handeltreiben mit Drogen ist Bayern um das mindeste Doppelte strenger in seinen Urteilen wie Bremen oder Berlin", sagt die Anwältin.

Zwischenfazit: Die Drogenpolitik in den Niederlanden ist laut geltender Gesetze und Untersuchungen zu deren Anwendung liberaler als in Deutschland - und in Bayern wiederum besonders streng im innerdeutschen Vergleich. Doch gibt es einen belegbaren Zusammenhang zwischen Drogenpolitik und Drogentodeszahlen?

Zusammenhang zwischen Drogentoten und Drogenpolitik?

Schaut man sich in Europa die Länder mit den sehr hohen und sehr niedrigen registrierten Drogentodeszahlen im Verhältnis zur Bevölkerung an, ergibt sich kein einheitliches Bild im Vergleich zur Drogenpolitik: Skandinavische Länder sind hier eher repressiv und haben hohe Todeszahlen - laut Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung an der Frankfurt University mangelt es vor allem an leicht zugänglichen Versorgungsprogrammen für Konsumenten. Dass Großbritannien so hohe Drogentodeszahlen hat, führen Experten dagegen weniger auf die Drogenpolitik zurück als darauf, dass die Zahl der Opioid-Konsumenten in Schottland gestiegen ist.

Portugals Drogenpolitik ist sehr liberal und das Land hat im Vergleich wenige registrierte Drogentodesfälle. Die Todeszahlen in den Niederlanden und Spanien liegen trotz liberaler Drogenpolitik eher im Mittelfeld.

Niederlande: wenig Heroin-Konsum per Spritze

Dass es in den Niederlanden weniger Drogentote gibt, erklären sich Experten weniger mit der Drogenpolitik als damit, dass es in den Niederlanden relativ reines Heroin gebe, sagt Heino Stöver. Das könne man unter Alufolie erhitzen und inhalieren - eine im Vergleich sicherere Form des Heroin-Konsums. "Dabei tendieren die Überdosierungsrisiken Richtung null", so Stöver. In Deutschland gebe es dagegen einen großen Teil der Heroinszene, die die Droge spritzt, und die Reinheit des Heroins auf dem Schwarzmarkt variiert stark. Hierbei sei das Risiko einer Überdosis wesentlich höher.

Bei den meisten tödlichen Überdosierungen spielen Heroin oder ein anderes Opioid eine Rolle: 2020 wurden im Blut von 76 Prozent der registrierten Drogentoten in der EU Opioide gefunden, oft auch gemischt mit anderen Drogen. Das geht aus dem europäischen Drogenbericht hervor. Auch in Deutschland spielen Opioide die größte Rolle bei tödlichen Überdosierungen.

Kein valide belegter Zusammenhang

Sich nur Todeszahlen und Drogengesetze anzuschauen, reicht also nicht. Andere Faktoren wie zum Beispiel die Reinheit der Drogen spielen eine Rolle. Einen belegbaren Zusammenhang zwischen liberaler oder repressiver Drogenpolitik und Drogentodeszahlen sieht keiner der Experten, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat. Beim Zusammenhang zwischen Gesetzgebung, Strafverfolgung und Drogentodeszahlen würden laut Esther Neumeier von der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht viele vermittelnde Faktoren eine Rolle spielen. Stöver sagt: "Die Drogentodeszahl ist eine sehr schwierige Zahl. Die erklärt relativ wenig und ist vor allem relativ unerforscht. Mit ihr wird aber jongliert und argumentiert, wenn es gerade passt - damit macht man es sich einfacher, als es ist."

Auch laut der Europäischen Beratungsstelle für Drogen und Drogensucht ist die Zahl der Drogentoten nur bedingt aussagekräftig. "Die Zahl der drogenverursachten Todesfälle liefert eine Perspektive auf die Drogensituation und sollte in einem breiteren Rahmen der verfügbaren Informationen betrachtet werden", schreibt die Beratungsstelle.

Indirekte Auswirkungen von Drogenpolitik

Experten gehen aber von indirekten Auswirkungen liberaler Drogenpolitik auf die Todeszahlen aus. "Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen: Liberalere Gesetze können helfen, dass Leute sich früher und mehr an Hilfe wenden", sagt Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug bei der Deutschen Aidshilfe. So habe die Inanspruchnahme von Hilfen in Portugal seit der Liberalisierung der Drogenpolitik deutlich zugenommen. In Deutschland verheimlichten Konsumenten ihre Sucht oft lange und warteten, sich Hilfe zu suchen - auch aus Angst vor Bestrafung. Laut einer Studie des Instituts für Therapieforschung in München hatten drei Viertel der befragten Drogenkonsumenten bereits Überdosierungen erlebt - entweder bei sich selbst oder bei anderen.

Auch Esther Neumeier vom DBDD nennt Portugal als Positivbeispiel, das mit einer umfassenden Drogenpolitik nach den in Europa gemessenen Indikatoren wie Drogentodesfälle und drogenbezogene Infektionskrankheiten erfolgreich war. "Das ist aber sicher nicht allein mit der Liberalisierung im Sinne der Entkriminalisierung zu begründen", sagt Neumeier. Die portugiesische Strategie umfasse auch eine Vielzahl an Hilfsmaßnahmen.

Drogenkonsumräume: ein Todesfall in 30 Jahren

Eine dieser Angebote sind Drogenkonsumräume. Alle Experten, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, sahen sie als ein wichtiges Mittel. Laut Neumeier ist der Ausbau von Drogenkonsumräumen "wirksam gegen den Drogentod". Auch die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht listet sie als eine Kernmaßnahme. In Drogenkonsumräumen können Menschen unter medizinischer Aufsicht ihre mitgebrachten Drogen konsumieren und bekommen bei einer Überdosis schnell Hilfe.

Bisher gibt es 25 solcher Konsumräume in Deutschland in acht Bundesländern - nur in den Niederlanden gibt es EU-weit mehr. In Bayern gibt es keine Konsumräume. Dazu bräuchte es eine Landesverordnung. Vor allem die CSU hat sich immer wieder dagegen ausgesprochen.

Heino Stövers Institut beobachtet die vier Frankfurter Konsumräume wissenschaftlich. Pro Jahr finden dort 200.000 Konsumvorgänge statt. "Wir haben durchschnittlich jeden Tag einen Drogennotfall. Aber wir haben keine tödlichen Drogennotfälle", sagt er.

Laut einer Erhebung zur Hälfte der Konsumräume in Deutschland kam es 2019 zu insgesamt 346 schweren lebensbedrohlichen Notfällen - aufgrund der Hilfe vor Ort ohne tödlichen Ausgang. In den letzten 30 Jahren gab es nur einen einzigen Todesfall in diesen Einrichtungen.

Konsumräume können also nachweislich Todesfälle verhindern - aber das heißt nicht, dass in den Regionen, wo es Drogenkonsumräume gibt, automatisch weniger Menschen an Drogen sterben, als in denen ohne. Die Todeszahlen in Bundesländern mit Konsumräumen sind auch nicht niedriger - was laut Schäffer zum Beispiel daran liegen kann, dass sich in Städten mit guten Hilfsangeboten auch Konsumenten sammeln würden. Als Beispiel nennt er Frankfurt, wo es ein sehr breites Hilfsangebot gebe - aber trotzdem viele Drogentote.

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Ein Drogenkonsumraum in Berlin

Substitutionsbehandlungen: in Bayern rar gesät

Andere Hilfsmöglichkeiten, die die Zahl der Drogentoten laut Experten reduzieren könnten, sind Substitutionsbehandlungen. Dabei geben Ärzte kontrollierte Opioide an Konsumenten ab, bei denen das Sterberisiko wesentlich geringer ist. Bei Drogen vom Schwarzmarkt kennen Konsumenten oft das Reinheitsgehalt des Stoffs nicht. "Wenn man zum Beispiel ein Heroin-Reinheitsgehalt von zwei bis zwölf Prozent gewohnt ist und dann plötzlich unwissentlich 50 Prozent reines Heroin nimmt, ist die Gefahr einer Überdosis und des Tods relativ groß", sagt Stöver. Substitutionsbehandlungen schützten deswegen viele Menschen vor dem Drogentod.

Experten sehen in Bayern große Lücken im Angebot von Substitutionsbehandlungen - zum Beispiel in vielen Haftanstalten. In Deutschland sind etwa 50 Prozent aller vermuteten Opioidabhängigen in ärztlicher Behandlung. In Frankreich sind es 80 Prozent - und die Zahl der Drogentoten ist dort niedriger.

Die Wiener Zeitschrift für Suchttherapie verglich Ende 2019 Städte mit leicht zugänglichen Substitutionsbehandlungen und Drogenkonsumräumen mit Städten, die beides nicht hatten. Letztere hatten höhere Drogentodesraten.

Bundesmodellprojekt zu Gegenmittel bei Überdosierungen

Die dritte Maßnahme, um tödliche Überdosierungen zu verhindern, ist laut Experten, Konsumenten mit dem Gegenmittel Naloxon auszustatten und sie für Drogennotfälle zu trainieren. So sollen sie sich bei einer Überdosis schnell gegenseitig helfen können. In Bayern gab es bereits ein Projekt für diesen Ausbau. Aktuell läuft dazu ein Bundesmodellprojekt, bei dem 10.000 Menschen mit einem Nasenspray ausgestattet werden sollen, das als Notfallmittel hilft.

"Konsumräume, Substitutionsbehandlungen und Gegenmittel: Wenn diese drei Maßnahmen gut und flächendeckend umgesetzt werden, dann kann man relativ sicher davon ausgehen, dass die Zahl der Menschen, die an einer Opioid-Überdosis sterben, relativ gering ist", sagt Stöver vom Institut für Suchtforschung. Aber auch andere Faktoren spielten eine Rolle - etwa die Wohnsituation von Drogenabhängigen, die Qualität der Drogen auf dem Schwarzmarkt oder Übergänge von Haft in die Freiheit, da es in den ersten 48 Stunden häufig zu Überdosierungen komme.

Fazit

Mit der Zahl der Drogentoten wird viel argumentiert - aber tatsächlich erklärt sie relativ wenig und ist nicht gut erforscht. Es gibt keinen valide belegten Zusammenhang zwischen liberaler oder repressiver Drogenpolitik und Drogentodeszahlen. Die Experten, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, gehen aber von indirekten Auswirkungen von liberaler Drogenpolitik auf die Todeszahlen aus - nämlich wenn ein Land dadurch vielfältig und breit gestreut Hilfsmaßnahmen anbietet.

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