"Ich bin im Leben ein paar Mal falsch abgebogen", erzählt Tenma, wie ihn seine Freunde nennen. Der 21-Jährige ist gerade aufgestanden und sitzt in Jogginghose und T-Shirt am Tisch der Gemeinschaftsküche einer der Wohnungen der Notschlafstelle "safehouse" in Augsburg, den Blick immer wieder nach unten auf seine Hände gerichtet. Ihm gegenüber sitzt die Diplompädagogin Nicole Caudal. Mit ihrem herzlichen Lächeln ermutigt sie Tenma, offen zu sprechen, sich ihr anzuvertrauen. In der frisch renovierten Wohnung riecht es noch nach Farbe, ab und zu brummt der Kühlschrank.
In dieser lockeren Atmosphäre geht es für Tenma an diesem Freitagmittag um nichts Geringeres als um seine Zukunft. Caudal unterhält sich mit ihm über seine beruflichen Perspektiven. Wo seine Hauptfähigkeiten lägen, will die Diplompädagogin von ihm wissen. "Das ist immer ein bisschen schwierig, sich da selbst einzuordnen", gibt Tenma zurück, "aber ich bin zielstrebig und ziemlich gut im Team." Offen spricht er auch über seine Schwierigkeiten, spielt dabei nervös mit seinen Fingern. Seit seiner Kindheit leidet Tenma an Depressionen und ADHS.
Tenma ist "im Heimsystem aufgewachsen"
So wie ihm geht es laut Caudal vielen obdachlosen Menschen in seinem Alter. Seit ihrer Eröffnung vor einem Monat leitet die Mitarbeiterin der Caritas die Notschlafstelle "safehouse". Viele der Bewohnerinnen und Bewohner dort litten an Traumata und psychischen Erkrankungen. "Das sind einfach junge Menschen, die Belastungen mit sich tragen. Das macht es für sie schwierig, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren", so Caudal.
Auch Tenma hat in der Vergangenheit viel durchgemacht. "Ich bin im Heimsystem aufgewachsen", erklärt er, "habe relativ jung meinen ersten Suizidversuch gehabt." Seine alte Unterkunft musste er verlassen, weil sie nur für Menschen bis zum Alter von 21 Jahren gedacht ist. Wäre er nicht im "safehouse" aufgenommen worden, wäre er obdachlos geworden oder hätte in ein Übergangswohnheim für Erwachsene gehen müssen.
Dort wäre er laut Caudal aber mit älteren Menschen konfrontiert gewesen, die schon sehr lange auf der Straße lebten und oft schwere Alkoholprobleme und psychische Erkrankungen hätten: "Das ist nicht so ein gutes Umfeld für einen jungen Menschen. Sich da ab 18 aufzuhalten, ist schon hart." Deshalb nimmt die neue Notschlafstelle ausschließlich junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 27 Jahren auf.
Stadt Augsburg und Caritas arbeiten zusammen
Birgit Stammberger von der Unterbringungsverwaltung der Stadt Augsburg geht davon aus, dass in Augsburg etwa 150 junge Erwachsene von Obdachlosigkeit betroffen sind. "Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber es gibt bestimmt ganz viele junge Menschen, die irgendwo auf der Couch bei einem Freund übernachten", schätzt sie und fügt hinzu: "Eine Weile lang geht das vielleicht gut, bis der Freund sagt: jetzt nicht mehr!"
Deshalb finanziert die Stadt die Notschlafstelle. Die Unterstützung der Caritas sei dabei "unglaublich wichtig", so Stammberger. "Wir als Stadt Augsburg allein könnten das gar nicht stemmen, da müssten wir wieder extra Personal anstellen", erklärt Stammberger. Nicole Caudal und drei weitere pädagogische Fachkräfte der Caritas betreuen zusammen mit sieben studentischen Hilfskräften die Bewohnerinnen und Bewohner der Notschlafstelle.
Nicht nur Schlafplatz, sondern Unterstützung
Die Unterstützung ist für Tenma sehr wichtig: "In den Wochen, in denen ich hier wohne, habe ich mehr auf die Kette gebracht als in den letzten drei Jahren." Die Mitarbeitenden der Notschlafstelle hätten ihm zum Beispiel geholfen, Bürgergeld und einen Wohnberechtigungsschein zu beantragen. Vor allem aber würden sie ihm eine Richtung geben.
Beim persönlichen Beratungsgespräch am Tisch der Gemeinschaftsküche geht es aber auch um die positive Atmosphäre. "Du bist gut mit Worten, kannst dich gut ausdrücken", überlegt Nicole Caudal im persönlichen Beratungsgespräch mit Tenma am Tisch der Gemeinschaftsküche, "wo muss man denn gut reden können?" "Als Politiker", gibt Tenma zurück, und beide lachen. Der Jugendliche will einen Ausbildungsplatz bekommen oder zurück zur Schule gehen, um seinen qualifizierenden Hauptschulabschluss nachzuholen. Caudal wird Vorschläge machen. Bis er eine Wohnung gefunden hat, kann er aber erst mal in der Notschlafstelle bleiben.
Acht Menschen wohnen aktuell in der Notschlafstelle
So wie die anderen vier Männer und drei Frauen, die aktuell in der Notschlafstelle "safehouse" wohnen. Solange es für die Mitarbeitenden möglich ist, sie zu unterstützen, dürfen die Bewohnerinnen und Bewohner laut Caudal bleiben. "Sie müssen nicht nach drei Monaten raus", erklärt die 54-Jährige, "sie können aber natürlich auch nicht drei Jahre hier sein. Es ist eine Notschlafstelle."
Die Notschlafstelle "safehouse" ist Augsburgs erste Notunterkunft für junge Erwachsene zwischen 18 und 27 Jahren. Sie bietet in zwei Wohnungen im Augsburger Stadtteil Hochzoll Platz für insgesamt vier Frauen und acht Männer. Rund um die Uhr ist außerdem mindestens eine betreuende Person anwesend. Die Mitarbeitenden unterstützen die Bewohnerinnen und Bewohner bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, sie arbeiten und schlafen abwechselnd in einer dritten Wohnung.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!