Dem Grundgesetz und der Bayerischen Verfassung soll künftig jede Woche eine Viertelstunde Extra-Zeit an den Schulen eingeräumt werden
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Dem Grundgesetz und der Bayerischen Verfassung soll künftig jede Woche eine Viertelstunde Extra-Zeit an den Schulen eingeräumt werden

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Verfassungsviertelstunde an Schulen: Chance oder Feigenblatt?

Laut Koalitionsvertrag soll es an den bayerischen Schulen eine "Verfassungsviertelstunde" geben. Start ist wohl im nächsten Schuljahr. Wie aber können Grundwerte gut vermittelt werden, was kann Schule leisten? Und: Reichen 15 Minuten pro Woche aus?

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Julia ist Mitte 20. Sie lehrt zurzeit unter anderem das Fach "Politik und Gesellschaft" an einem Münchner Gymnasium, hat im Rahmen ihres Referendariats schon mehrere Schulen in Bayern kennengelernt. Als sie erfährt, dass der Landesverein für Heimatpflege in dieser Woche zu einer Diskussionsveranstaltung rund um die Ausgestaltung der "Verfassungsviertelstunde" einlädt, beschließt sie, dort hinzugehen. Denn Julia, die ihren vollen Namen nicht nennen möchte, weil sie Bedenken hat, es könnte ihr beruflich schaden, macht sich Sorgen: Sie hat Hakenkreuzschmierereien an Schulen erlebt, hatte schon Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern, die bereits als Teenager verbandelt waren mit der AfD oder dem rechtsextremen "Dritten Weg".

Wird rechtes Gedankengut an Schulen "salonfähig"?

Eine wahnsinnige Herausforderung sei das für Lehrkräfte, mit diesen Schülern umzugehen, so die Referendarin. Rechtes Gedankengut wird ihr zufolge auch an den Schulen gerade "salonfähig". Eine Beobachtung, die gestützt wird durch die Tatsache, dass die AfD bei den vergangenen Junior-Wahlen in Bayern als zweitstärkste Kraft abgeschnitten hat. An einzelnen bayerischen Schulen kam die Partei, die vom Verfassungsschutz bereits in Teilen als rechtsextrem eingestuft wurde, sogar auf 30 Prozent. Mehr Demokratiebildung, und zwar so früh wie möglich, das findet die Referendarin deshalb "extrem wichtig". Die Frage ist nur: auf welche Art und Weise?

Verfassungsviertelstunde: Wer hat's erfunden?

Der Bayerische Landesverein für Heimatpflege sieht das offenbar ähnlich. Denn, wie dessen Vertreter bei der Veranstaltung in der Münchner Innenstadt schmunzelnd betonen, sei man schließlich der Ideengeber. Im September hatte der Verband vorgeschlagen, "mindestens einmal pro Woche eine kurze Verfassungszeit einzuführen, in der Lehrkräfte mit Schülerinnen und Schülern über die Bayerische Verfassung oder das Grundgesetz sprechen sollen. "Ein besonderer Coup", gratuliert der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Hans-Joachim Heßler, dass die ab kommendem Schuljahr nun tatsächlich eingeführt werden soll.

Eine erstarkende AfD und womöglich auch die Debatten um die Flugblattaffäre rund um Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger dürften der Auslöser gewesen sein, dafür, dass CSU und Freie Wähler die Idee des Verbands aufnahmen und im Koalitionsvertrag vereinbarten: "Wir wollen die aktive Befassung mit unseren Verfassungswerten stärken. Hierzu führen wir eine "Verfassungsviertelstunde" als wöchentliches Format ein, in der anhand von praktischen Beispielen über die Bayerische Verfassung und das Grundgesetz sowie die dort verankerten Grundsätze diskutiert wird."

Von der Würde des Menschen bis zum Bauernland

Die Themen der Verfassung sind dabei äußerst vielfältig. "Die Würde des Menschen ist unantastbar, da gibt's nichts drüber", zitiert der Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Hans-Joachim Heßler. Auf die Frage nach seiner Lieblingsstelle aber holt er Artikel 117 hervor. "Der ungestörte Genuss der Freiheit für jedermann hängt davon, ab, dass alle ihre Treuepflicht gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen erfüllen." Die Bürgerinnen und Bürger werden in der Verfassung aufgefordert, "ihre körperlichen und geistigen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert".

Olaf Heinrich (CSU), Bürgermeister von Freyung, niederbayerischer Bezirkstagspräsident und Präsident des Heimatpflege-Vereins, trägt - wie er sagt - "aus aktuellem Anlass", einen Artikel zur Landwirtschaft vor: "Bauernland soll seiner Zweckbestimmung nicht entfremdet werden", heißt es und: "Der Erwerb von Land- und forstwirtschaftlichem Boden (...) er darf nicht lediglich der Kapitalanlage dienen".

Bildungsauftrag: Religion und Völkerversöhnung

Die Schulleiterin des oberbayerischen Gymnasiums Gaimersheim, Christine Schmid-Mägele, hat natürlich ein Zitat zum Bildungsauftrag ausgewählt und zählt auf: "Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, (...), Hilfsbereitschaft, und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt." Da sei eigentlich alles drin, so Schmid-Mägele.

Auch Politikwissenschaftlerin Ursula Münch zitiert einen Artikel mit Schul-Bezug: "Die Schüler sind im Geiste der Demokratie in der Liebe zur bayerischen Heimat, dem deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen". Münch betont dabei besonders das Wort "Versöhnung". Viele wüssten gar nicht, was alles in der Bayerischen Verfassung oder im Grundgesetz drinstehe, bedauert der Geschäftsführer des Landesverbands für Heimatpflege, Rudolf Neumaier. Und das sollen die Schulen jetzt also ändern.

Verfassungs-Unterricht: 15-Minuten nicht praktikabel?

"Was sollen wir denn noch alles machen?", sei ihr erster Gedanke gewesen, erzählt Schulleiterin Schmid-Mägele. Der Chef des Philologenverbands, Michael Schwägerl, pflichtet ihr aus dem Publikum bei. Doch die Skepsis ist der Überzeugung gewichen, dass daraus etwas Gutes entstehen könne. Die Verfassungsviertelstunde, so Schmid-Mägele, dürfe angesichts der vielen anderen Herausforderungen im Bildungsbereich keine "weitere Belastung werden".

Aus der Debatte zur Ausgestaltung der Verfassungsviertelstunde geht allerdings hervor, dass das Modell "15 Minuten pro Woche" in der Praxis eher nicht funktionieren wird. Schülerinnen und Schüler würden deshalb "nicht früher kommen, oder später heimgehen", berichtet die Schulleiterin. Und das Publikum, etwa die Referendarin Julia, gibt zu bedenken, dass bei der Lehrplandichte kein Lehrer - egal in welchem Fach - einfach mal so auf 15 Minuten Unterricht verzichten wolle. "Dann klärt man noch die Anwesenheit, prüft die Hausaufgaben und schon ist die Stunde wieder rum".

Keine festen Vorgaben vom Kultusministerium erwünscht

Viel ist von Projekten die Rede, davon, wie Schulleiterin Schmid-Mägele sagt, "mal an einem Tag oder mehrere Tage im Schuljahr etwas zu begreifen, dass auch verschiedene Schularten etwas zusammen machen und sich mit aktuellen Themen in Bezug zur Verfassung auseinandersetzen". Verfassungsgerichtshof-Präsident Hans-Joachim Heßler nennt als konkretes Themen-Beispiel, die Schülerinnen und Schüler könnten etwa erarbeiten, was "Remigration oder Deportation mit Menschenwürde zu tun" habe.

Die Experten stellen sich vor, dass die Schulen "Orte der Verfassung" besuchen, Fachleute einladen, Theaterstücke, Sketche oder Videos produzieren. "Möglichst kreativ und spielerisch" müsse man an die Sache herangehen statt eines Morgengebets- oder Morgenappell-Ersatzes, ist sich das Podium einig. Politikwissenschaftlerin Ursula Münch fände es zudem wichtig "diejenigen, die man beglücken möchte, zu beteiligen, wie sie sich das eigentlich vorstellen". Sie hofft, dass das Kultusministerium keine allzu festen Vorgaben machen wird und wünscht sich eine "gewisse Offenheit im Sinne des Geistes der Verfassung". Das Kultusministerium hatte zuletzt selbst von einem "offenen, flexiblen Konzept" gesprochen.

"Mich macht das fuchsig": Mehr regulärer Politik-Unterricht gefordert

In der anschließenden Fragerunde meldet sich Referendarin Julia zu Wort. Die Debatte mache sie "fuchsig", ruft sie den Vertretern auf dem Podium zu. Denn sie frage sich, was eine Viertelstunde, oder aber "ein Projektchen hier - eine Exkursion dort" wirklich nachhaltig bringen soll, um Kinder vor extremistischen Einflüssen zu schützen. Wer die Demokratiebildung wirklich stärken wolle, müsse das Fach "Politik und Gesellschaft" deutlich früher in den Stundenplan mit aufnehmen, als aktuell, fordert nicht nur diese angehende Lehrkraft. Je nach Schulart kommen Jugendliche erst ab der zehnten Klasse mit dem Fach in Berührung. "In dem Alter dürfen die Schülerinnen und Schüler schon zur Europawahl gehen", gibt sie zu bedenken. Die Referendarin bekommt vor allem von anderen anwesenden Lehrkräften im Publikum Unterstützung.

"Schule alleine kann die Demokratie nicht retten"

Die vom Heimatpflege-Verband aufs Podium eingeladene Schulleiterin Schmid-Mägele sieht das nicht ganz so. Sie weist darauf hin, dass es bereits "sehr gute politische Bildungsarbeit an den Schulen" gebe. Und: bereits jede Klassensprecherwahl sei eine Form, Demokratie einzuüben. Sie, wie auch andere Redner, nehmen die ganze Gesellschaft, Verbände und Vereine in die Pflicht: "Schule alleine kann die Demokratie nicht retten", so die Leiterin des Gymnasiums in Gaimersheim.

Die Gesamt-Gesellschaft darf sich nicht wegducken, hinter einer Verfassungsviertelstunde, wie auch immer sie am Ende ausgestaltet wird, das ist Konsens an diesem Abend. Aber, wie Verfassungsgerichtshof-Präsident Heßler augenzwinkernd sagt - während er auf das kleine Büchlein mit Bayerischer Verfassung und Grundgesetz zeigt: "Die Schule bietet sich dafür halt an, weil man hingehen muss - das steht auch da drin".

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