Es ist Freitagnachmittag 15.06 Uhr. Die Sirene in Neustadt am Main heult, die Melder von Feuerwehrkommandant Peter Gowor piepen. Die Handyalarmierung zeigt an: "Verkehrsunfall Pkw THL 3, Person eingeklemmt." Gowor von der Freiwilligen Feuerwehr in Neustadt am Main lässt alles stehen und liegen und eilt zum Feuerwehrhaus. Mit dieser Schilderung beginnt Peter Gowor einen Facebook-Post, der inzwischen hundertfach geteilt wurde.
Mit erhöhtem Puls und einem Kopf voller Gedanken, was ihn und seine Kollegen erwarten könnte, zieht er sich in Windeseile um und fährt los. Auf dem Weg zur Einsatzstelle erfährt er, dass keine Person eingeklemmt ist. Kurzes Aufatmen. Dann erhalten er und seine Kollegen die Anweisung, die Einsatzstelle zu sichern, die Straße abzusperren und den Verkehr zum Schutz der Beteiligten umzuleiten. "Und genau jetzt in diesem Moment kommt die Frage: Warum tun wir uns das eigentlich noch an, wir wissen ja schon, was kommen wird und genau so kommt es auch", schreibt Gowor auf Facebook.
Verbale Entgleisungen und tätliche Angriffe
Die Feuerwehrler müssen sich Beleidigungen, Beschimpfungen und Pöbeleien gefallen lassen. Den Anweisungen der Einsatzkräfte wird nicht Folge geleistet, ihnen werden Anzeigen angedroht. "Was soll das? Geht es noch? Was sollen wir uns denn eigentlich noch alles gefallen lassen? Sind wir die verbalen Prügelknaben für die, die nicht wissen, wohin Sie mit Ihrem Ego sollen? Wir sind Menschen, die alles auch für Euch stehen und liegen lassen, um Euch zu helfen, wenn Ihr uns von den Blaulichtorganisationen braucht", empört sich Gowor.
Und weiter: "Hört auf, uns zu beschimpfen, zu drohen, wild zu gestikulieren oder sonst was, wir stehen nicht da um Euch zu ÄRGERN sondern um anderen in Not zu helfen und diese auch zu schützen." Sein Beitrag wurde seit Montag knapp 300 Mal geteilt. In den Kommentaren erhält er ausnahmslos Zuspruch.
Bedrohungen werden schärfer und intensiver
Gowor hat seinem Ärger auf Facebook Luft gemacht. Dafür erhält er in dem sozialen Netzwerk viel Zuspruch. Auch von der Kreisbrandinspektion Main-Spessart, in deren Bereich Gowor ehrenamtlich tätig ist. Vorfälle, wie sie Gowor berichtet, seien keine Seltenheit mehr. Und sie ließen die Helfer am Verstand des Gegenübers zweifeln. Verbale Attacken, Drohgebärden und sogar körperliche Angriffe nähmen an Schärfe und Intensität zu, heißt es von der Kreisbrandinspektion Main-Spessart.
Pöbeleien sind Standard
Auch Moritz Hornung von der Freiwilligen Feuerwehr in Volkach bestätigt die Zunahme an Pöbeleien und Beschimpfungen im Gespräch mit BR24. Die seien mittlerweile Standard: "Wir erleben diese Pöbeleien ständig. Es vergeht eigentlich kein Verkehrsunfall, bei dem sich andere Verkehrsteilnehmer nicht danebenbenehmen. Erst am Mittwochnachmittag wurde wieder eine Einsatzkraft von uns beschimpft." Nachdem aber keine Beleidigungen geäußert wurden, konnten er und seine Kollegen den Vorfall nicht bei der Polizei anzeigen. Grundsätzlich würden die Volkacher Feuerwehrler alle anzeigen, die die Einsatzkräfte beleidigen oder Absperrungen umgehen oder missachten. "Das kostet allerdings Zeit und Nerven...", so Hornung. Sein Neustadter Kamerad Peter Gowor dagegen sagt im Gespräch mit BR24, dass weder die Zeit noch das Personal hätten, um jeden anzuzeigen, im Gegenteil: es werde kaum eine Beleidigung angezeigt.
"Die Hemmschwellen sind massiv gesunken"
Auch wenn es sich nicht um die Mehrheit der Bevölkerung handele, hätten die Leute letztendlich leider weder Zeit noch Geduld oder Verständnis für Verkehrsbehinderungen, so Hornung weiter. Die Hemmschwelle sei in den letzten Jahren deutlich gesunken und die Akzeptanz, dass jemand in den Verkehr eingreift, sei immer weniger gegeben – sogar, wenn es sich um die Feuerwehr handele.
Gerne werde auch in Frage gestellt warum die Feuerwehr mit so vielen Autos komme und wieso die Feuerwehr überhaupt gekommen sei. "Ihr müsst jetzt hier eine Übung machen, wo wir unseren Schoppen auf dem Marktplatz trinken wollen!" bekämen die Einsatzkräfte laut Moritz Hornung des Öfteren zu hören. Noch dazu störe man sich dann gerne an den Motorengeräuschen der Autos, wie das Beispiel aus einem Facebook-Post der Freiwilligen Feuerwehr Volkach zeigt.
Dass gesperrte Straßen generell den Unmut einiger Verkehrsteilnehmer auf sich ziehen und nicht nur Rettungskräfte trifft, zeigt ein aktuelles Beispiel aus Rannungen im Landkreis Bad Kissingen. Ein Motorradfahrer hat dort eine Straßensperrung mit entsprechender Beschilderung missachtet und die Gemeindearbeiter beleidigt, die dort die Straße ausbesserten. Den Motorradfahrer erwartet jetzt eine Anzeige, teilt die Polizei in Bad Kissingen mit.
"Wer uns angreift, greift die Bevölkerung an!"
Laut Statistik registrierte die Polizei im Jahr 2021 in Deutschland 510 Übergriffe auf Feuerwehrleute, zudem weitere 1.650 Gewalttaten gegen sonstige Rettungskräfte – Pöbeleien und Beschimpfungen nicht eingerechnet. "Unsere Helfer sind ehrenamtlich tätig und gehen bei Einsätzen oft an physische und psychische Grenzen", heißt es von der Kreisbrandinspektion Main-Spessart.
Das würden sie tun, ohne zu hinterfragen, wer Hilfe benötige und ganz ohne Vorbehalte. Selbst wenn es offensichtlich sei, dass manche Einsätze mit Absicht herbeigeführt würden. "Dieses vorbehaltlose Handeln zum Wohle der Betroffenen sollte denen, die es ausüben, von jedem auch nicht Beteiligten entgegengebracht werden", so die Ehrenamtlichen. "Wer uns angreift, greift die Bevölkerung an!"
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Freiwillige Feuerwehr stemmt Grundversorgung
Die Kolleginnen und Kollegen von Peter Gowor von der Kreisbrandinspektion Main-Spessart äußern zudem die Sorge, dass sich bald keine ehrenamtlichen Helfer mehr finden, die freiwillig ihre Zeit für solche Einsätze opfern. Doch gerade die Freiwilligen Feuerwehren sind als Teil der Grundversorgung auf Nachwuchs angewiesen. In Bayern gibt es nur sieben Berufsfeuerwehren: in München, Nürnberg, Augsburg, Ingolstadt, Regensburg, Würzburg und Fürth. Dazu kommen rund 200 Werk- und Betriebsfeuerwehren. Die große Mehrheit aber sind Freiwillige Feuerwehren: etwa 7.500 in ganz Bayern, das sind etwa 315.000 Ehrenamtliche. Auf Einsätze dürfen die Feuerwehrleute nur, wenn sie zwischen 18 und 65 Jahre alt sind.
Sorge um Motivation beim Nachwuchs
Fachleute warnen immer wieder vor einem massiven Nachwuchsmangel bei den bayerischen Feuerwehren in den nächsten zehn Jahren. Sie fordern die gezielte Rekrutierung von Frauen und Migranten - die seien in der Feuerwehr unterrepräsentiert. Der Landesfeuerwehrverband Bayern dagegen ist angesichts leicht gestiegener Zahlen bei den jugendlichen Feuerwehrlern zuversichtlich. In den vergangenen Jahren haben die Feuerwehren massiv Werbung für ihren Beruf beziehungsweise das Ehrenamt gemacht und zahlreiche Mini-Feuerwehren für Kinder und Jugendliche ins Leben gerufen.
Die aggressive Stimmung aber könnte die Bemühungen der Lebensretter wieder zunichtemachen. In Volkach wird der Nachwuchs dahingehend schon geschult, sagt Moritz Hornung von der Freiwilligen Feuerwehr: "In der Grundausbildung unserer Leute behandeln wir zwischenzeitlich auch das Verhalten in solchen Situationen und bringen dem Nachwuchs bei, wie man da am Besten reagiert."
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