Psychisches Trauma Wie ihr seelische Wunden erkennt und verarbeitet

Von: Sylvaine von Liebe

Stand: 25.08.2023

Jemand sei "traumatisiert" ist eine saloppe Formulierung im Alltag. Doch steckt dahinter wirklich gleich ein Trauma? Was ist ein psychisches Trauma? Wie merkt ihr, dass ihr ein Trauma habt? Welche Ursachen haben Traumata und wie könnt ihr sie verarbeiten?

Schreckliche Erlebnisse können ein Trauma auslösen, das die Betroffenen für lange Zeit nicht mehr loslässt. Im Bild: Verzweifelte Frau vergräbt ihr Gesicht in ihre Arme. | Bild: colourbox.com

Definition: Was versteht man unter einem Trauma?

Ein Trauma (von altgriechisch: Wunde) ist laut Deutscher Traumastiftung "ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann." Ein Trauma ist oft die Folge physischer oder psychischer Gewalteinwirkung. Kriegserlebnisse, Vergewaltigung, Folter, aber auch Naturkatastrophen, Verkehrsunfälle oder Vernachlässigung können zum Beispiel ein Trauma auslösen. Leidet ein Mensch über die erste Phase nach dem Erlebnis hinaus an psychischen Beeinträchtigungen, die sich verfestigen, bezeichnen Mediziner und Psychologen das als posttraumatische Belastungsstörung (kurz: PTBS).

Der Unterschied zwischen einer schlimmen Erfahrung, die man überwinden kann, und einem Trauma, an dem man fortdauernd leidet, sei, dass ein Trauma ein "Extremereignis, etwas Massives ist, das oft mit einer außergewöhnlichen Bedrohung für das Leben oder die Gesundheit einhergeht", wie Natan Yusupov, Forscher und Arzt am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München (MPI) sagt. Typisch für ein Trauma sei auch, dass "die Menschen das Gefühl haben, während des Ereignisses die Kontrolle zu verlieren." Sie fühlten sich total hilflos, ergänzt der Mediziner.

Trauma-Therapie: Schreckliche Erlebnisse können ein Trauma auslösen

Anzeichen und Symptome eines Traumas: Wie merkt man, dass man traumatisiert ist?

Traumata können lange andauern und manche Menschen ein Leben lang prägen. Im Bild: Frau mit posttraumatischen Belastungssyndrom | Bild: picture alliance / Newscom | Rafael Ben-Ari

"Es ist selten, dass Menschen ein Trauma erlebt haben und gar nichts danach haben. Das ist eher die Ausnahme", betont Natan Yusupov vom MPI. Er teilt die Symptome, die nach einem Trauma auftreten können, in drei Kategorien ein. Erstens: Das Wiedererleben des Erlebnisses, das in Form von sogenannten Intrusionen, also kurzen, eindringlichen Erinnerungen an das Geschehene oder sogenannten Flashbacks, also dem Wiedererleben sensorischer Details aus dem Traumakontext auftreten kann. Zweitens: Eine Übererregung, ein sogenanntes Hyperarousel, bei der man permanent übererregt und stark schreckhaft ist. Das Dritte - und das ist wichtig für die Diagnose: das Vermeidungsverhalten. "Das heißt, Menschen fangen an, Orte oder Gegenstände, die mit dem Trauma zusammenhängen, zu vermeiden", beschreibt der Mediziner das Phänomen. Das könne sich so äußern, dass sie Einkaufszentren meiden, wenn das traumatische Erlebnis in einem Einkaufszentrum stattgefunden habe.

Ganz generell können Menschen, die ein Trauma erleiden, körperlich, emotional und kognitiv darauf reagieren. Körperliche Reaktionen können zum Beispiel sein: Zittern, erhöhte Herzfrequenz oder Schüttelfrost. Emotional können Menschen, die ein Trauma erlebt haben, mit Gereiztheit, Aggression oder Gleichgültigkeit reagieren. Außerdem können nach einem Trauma unter anderem Konzentrations- und Gedächtnisprobleme sowie Sprachschwierigkeiten auftreten.

Wie ihr als Außenstehende merkt, dass jemand traumatisiert ist? "Man kann vielleicht merken, dass der Mensch manchmal etwas abwesend ist, weil er gerade einen Flashback oder eine Intrusion hat. Da muss man dann Sachen erneut sagen, weil derjenige kurz weg war", erklärt der MPI-Forscher Natan Yusupov. Andere mehr oder weniger deutliche Anzeichen seien eine erhöhte Schreckhaftigkeit der Betroffenen und eine gewisse Gleichgültigkeit. Aber nicht alle Anzeichen könnten Außenstehende auf Anhieb erkennen. Ein sozialer Rückzug zum Beispiel sei nicht immer sofort erkennbar. Der Münchner Forscher gibt auch zu bedenken: "Bei fast jedem vierten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung äußern sich die Symptome erst nach sechs Monaten".

Trauma und PTBS: So erkennt ihr seelische Wunden

Folgen eines Traumas: Was passiert im Gehirn und im Körper nach einem Trauma?

Ein Trauma hat Auswirkungen auf das Gehirn - aber nicht nur darauf. Bei einem traumatischen Ereignis finden Veränderungen im ganzen Körper statt. Im Bild: Soldat bei der Psychotherapie. | Bild: picture alliance / Shotshop | Monkey Business 2

Bei einem Trauma ist die Kommunikation verschiedener Hirnregionen gestört. Sogenannte Flashbacks sind häufig die Folge.

Bei einem schweren Trauma kommt es im Gehirn zu einem "emotionalen Verarbeitungsproblem", wie Yusopov die Vorgänge beschreibt. Drei Hirnregionen spielen dabei eine entscheidende Rolle: die Amygdala, der Hippocampus und der präfrontale Cortex. In der Amygdala werden Erlebnisse mit den dazugehörigen Emotionen "emotional einsortiert" - zum Beispiel als "Gefahr" oder eben als "keine Gefahr". Im Hippocampus werden die Erinnerungen zeitlich und geographisch eingeordnet sowie abgespeichert. Der präfrontale Cortex - eine Hirnregion, die für Vernunft und Entscheidungsfindung zuständig ist - bewertet die Ereignisse und dort wird entschieden, wie eine angemessene Reaktion auf das Geschehene aussehen muss.

Leidet ein Mensch an einer posttraumatischen Belastungsstörung, dann ist unter anderem das Zusammenspiel zwischen Amygdala, Hippocampus und präfrontalem Cortex gestört. Die erlebten Eindrücke werden nicht als zusammengehöriges Ereignis abgespeichert. So kann es bei Betroffenen nach einem Trauma durch einen einzigen äußeren Reiz - zum Beispiel bei einem bestimmten Geruch oder einem bestimmten Geräusch - dazu kommen, dass er das Trauma mit allen Sinneswahrnehmungen wiedererlebt. Der Grund: Das Gehirn kann das Erlebte zeitlich und geographisch nicht zuordnen. Der Betroffene hat durch den Schlüsselreiz, einem sogenannten Trigger, das Gefühl, dass das traumatische Ereignis gerade wieder passiert. Das ist dann ein sogenannter Flashback.

Aber nicht nur im Gehirn macht sich ein Trauma bemerkbar. Auch hormonelle Vorgänge sind nach einem traumatischen Ereignis gestört. "Die HPA-Achse [Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse], einer der wichtigsten neuro-hormonellen Regelkreise, die auf Stress reagieren sollen, ist bei einem Trauma aktiviert", erklärt der Forscher vom MPI. Das heißt: Der Körper wird während eines Traumas mit Stresshormonen überflutet, die einem helfen sollen, mit der Situation zurechtzukommen. Bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung kann es zu einer Fehlregulation der HPA-Achse kommen. Die Folgen dieser Dysfunktion sind unter anderem: ein veränderter Kortisolspiegel, erhöhter Blutdruck und Puls sowie eine nachhaltige Störung der Stressregulierung, das heißt, die Betroffenen sind stressanfälliger.

Außerdem: "Psychiatrische Erkrankungen wie eine PTBS nach einem Trauma werden zunehmend als Systemerkrankungen angesehen. Die Erkrankungen betreffen nicht nur das Gehirn", sagt Natan Yusupov. Da fänden viele Veränderungen im ganzen Körper statt. Im Ergebnis heiße das auch: Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen wie einer PTBS haben zum Beispiel ein verändertes Immunsystem oder einen veränderten Stoffwechsel. Sie leben im Durchschnitt kürzer als Menschen ohne posttraumatische Belastungsstörung - bedingt vor allem durch einen beschleunigten Alterungsprozess, was auch Studien zeigen.

Neben körperlichen Folgen kann ein Trauma auch andere Auswirkungen haben. Darunter fallen zum Beispiel: Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen und in der Partnerschaft, Isolation und Vereinsamung, Verlust des Arbeitsplatzes und finanzielle Nachteile. Und manche Betroffene versuchen, ihre durch das Trauma auftretenden Symptome durch Alkohol- oder Drogenkonsum abzumildern, was zu Abhängigkeitsproblemen führen kann.

Trauma und die Gene: Wenn Traumata vererbt werden

Kategorien von Traumata: Welche Arten von Traumata gibt es?

Psychische und physische Gewalt können ein Trauma auslösen. Im Bild: Kind hat seine Hände zur Abwehr ausgestreckt. | Bild: picture alliance / blickwinkel/McPHOTO/M. Begsteige | McPHOTO/M. Begsteiger

Menschengemachte Traumata, wie Kindemissbrauch, belasten Betroffene besonders, weil meist ein massiver Vertrauensbruch stattfindet.

Trauma-Experten wie Andreas Maercker vom Psychologischen Institut der Universität Zürich teilen Traumata in sogenannte Typ-1-Traumata und Typ-2-Traumata ein. Bei einem sogenannten Typ-1-Trauma handelt es sich um ein einmaliges traumatisches Ereignis, ein Typ-2-Trauma ist hingegen ein traumatisches Ereignis, das wiederholt stattfindet - das ist zum Beispiel bei Kindesmissbrauch häufig der Fall. Außerdem teilen Wissenschaftler die verschiedenen Arten von Traumata in menschengemachte und zufällige Traumata ein.

Um welche Art von Trauma es sich bei dem Erlebten handelt, ist für Betroffene wichtig. Es hat entscheidenden Einfluss auf das Risiko für die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das veranschaulicht der Münchner Forscher Yusupov anhand folgender Statistik: "Bei Verkehrsunfällen, die zahlenmäßig häufig sind, entwickelt danach nur jeder siebte eine posttraumatische Belastungsstörung. Bei einer Vergewaltigung hingegen wird jeder zweite krank." Der Mediziner begründet die Unterschiede so: Bei menschengemachten Traumata finde meist ein schwerer Vertrauensbruch statt, wodurch sich der Betroffene abkapsele und über das Geschehene nicht mehr mit anderen Menschen spreche sowie generell sein Wertesystem in Frage stelle. Bei menschengemachten Traumata komme es vermutlich daher häufiger zu einer posttraumatischen Belastungsstörung als  bei zufälligen Traumata, wie zum Beispiel bei durch Naturkatastrophen ausgelösten Traumata.

Könnt ihr Traumata an eure Kinder vererben? Ob Traumata über Generationen hinweg vererbt werden können, ist laut Natan Yusupov beim Menschen biologisch noch nicht endgültig geklärt. Ein Mensch, der ein Trauma erlebt hat, werde aber jedenfalls über "bestimmte Verhaltensmuster" zum Beispiel in der Erziehung das Trauma an seine Kinder weitergeben, sagt der Wissenschaftler - was auch mehrere Studien belegen.

Audio: Traumafolgestörungen - wer ist dafür gefährdet?

Gesagt: Keine Scham und keine Schuld bei einem Trauma

Natan Yusupov vom MPI für Psychiatrie in München förscht zu den Ursachen und Auswirkungen von Traumata. | Bild: MPI für Psychiatrie München https://www.psych.mpg.de/person/94812/2162

"Wichtig ist, sich mit dem Trauma ganz, ganz viel zu beschäftigen. Wenn man es verdrängt, wird es oft zu einem Problem. Ein Trauma ist etwas, was häufig passiert. Man ist daran nicht selbst schuld und man muss es auch nicht alleine bewältigen. Wenn ich das meinen Patienten sage, ist es das, was sie am meisten erleichtert."

Dr. Natan Yusupov, Forscher am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München (MPI)

Nach dem Trauma: Ablauf einer Therapie, Selbsthilfe und Tipps für Angehörige

Ablauf einer traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie - in der Leitlinie zur posttraumatischen Belastungsstörung empfohlen:

1. Phase: Stabilisierung des Patienten und Vertrauensaufbau
2. Phase: sich mit dem Erlebten möglichst detailreich auseinandersetzen

  • entweder mittels imaginativer Exposition, sogenannter Exposition in sensu, d.h., man geht mit dem Therapeuten/der Therapeutin vor dem inneren Auge nochmal die Erlebnisse in allen Einzelheiten durch
  • oder narrativ, d.h., man schreibt seine Lebensgeschichte auf oder man nimmt sich selbst auf und hört es immer wieder an, fokussiert sich in einem zweiten Schritt auf die traumatischen Ereignisse
  • oder mittels Exposition in vivo, d.h., man geht an den Ort oder an einen ähnlichen Ort, an dem man das Trauma erlebt hat und versucht, sich noch einmal an das Erlebte zu erinnern.

Therapieansatz: Möglichst mit allen Sinnen mit dem Trauma beschäftigen, um das Trauma zu bewältigen.

Tipps zur Selbsthilfe beim Trauma von Natan Yusupov:

  • soziales Umfeld einbeziehen, denn der größte Risikofaktor, dass sich nach dem Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, ist laut Experten eine mangelnde soziale Unterstützung
  • zum Spezialisten gehen, Versorgungs- und Beratungsstellen in Anspruch nehmen
  • Achtung: Traumafolgestörungen können sich auch in anderen Erkrankungen zeigen wie zum Beispiel Depression, Angsterkrankungen, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch.

Tipps für Angehörige eines traumatisierten Menschen:

  • ruhig zuhören und für den anderen da sein, aktiv nachfragen und das Gespräch suchen
  • wenig kommentieren oder bewerten, nicht nach Lösungen suchen
  • Beratungsstellen aufsuchen

Video: Was hilft bei traumatischen Erfahrungen?

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