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Alan Turing und Enigma Computerpionier und Codeknacker

Alan Turing nimmt vorweg, wie man Computer baut und sie intelligent macht - und prägt so bis heute unser Leben. Turing gelingt es außerdem, den Enigma-Code im Zweiten Weltkrieg zu entschlüsseln. Ein großartiges, tragisches Leben.

Author: Martin Schramm

Published at: 7-6-2022 | Archiv

Alan Turing, Computerpionier und Entschlüssler des Engima-Codes im Zweiten Weltkrieg. | Bild: Jan Braun / Heinz Nixdorf MuseumsForum

Turings Talent zeigt sich schon in der Schule: Er studiert mathematische Fachbücher, vertieft sich in Literatur zur Relativitätstheorie und Quantenmechanik - und gewinnt sämtliche Mathematikwettbewerbe. Dabei eckt er sogar mit seinem Mathelehrer an: Der wirft ihm vor, sich beim Problemlösen nicht an die "vorgegebenen Methoden" zu halten, dass er sich zu viel mit höherer Mathematik beschäftige und die "grundlegende" Arbeit vernachlässige.

"Die Schulzeit war sicher nicht förderlich für Turing. Es hat lange Zeit gedauert, bis man ihn mit seiner Begabung auch entdeckt hat. Die richtige Förderung ging erst los, als er in Cambridge an der Uni war - und dann auch mit den anderen Mathematikern, den Professoren Kontakt hatte und sein Talent dann wirklich ausleben konnte."

Jochen Viehoff, Kurator am Heinz Nixdorf Forum in Paderborn, in radioWissen, am 11.04.2019

Alan Turing - ein schrulliger Überflieger

Alan Turing

* 23. Juni 1912 in London
† 7. Juni 1954 in Wilmslow

Sein Mathematikstudium am legendären King's College in Cambridge schließt er bereits mit 22 Jahren ab, mit Auszeichnung. Mit 24 Jahren legt Turing einen legendären Aufsatz über "Computable Numbers" vor. Er beschreibt in einem Gedankenexperiment einen abstrakten Rechenautomaten: die sogenannte "Turing-Maschine". Die beherrscht nur drei Operationen: Lesen, Schreiben und den Schreib-Lese-Kopf bewegen. Das ist alles. Doch 1936 beschreibt Turing damit, wie sich extrem komplexe Probleme herunterbrechen lassen auf ein paar wenige, grundlegende Vorgänge - und wie wenig ein Computer können muss. Der Aufsatz ist ein Meilenstein der theoretischen Informatik.

"Diese Maschine hat ein Band, wie ein Magnetband, das in Kästchen unterteilt ist. In jedes Kästchen kann man einen Buchstaben schreiben. Und sie hat einen Lesekopf, der eines dieser Kästchen lesen kann. Turing hat dann gesagt, alles was diese Maschine kann, ist, was das Programm der Maschine sagt: Die Maschine liest das Zeichen unter dem Lesekopf. Und in Abhängigkeit vom Zustand und was sie liest, ersetzt sie das Zeichen unter dem Lesekopf und bewegt den Kopf nach links oder nach rechts."

Kurt Mehlhorn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Informatik in Saarbrücken, in radioWissen, am 11.04.2019

Turing selbst gilt als leicht verschroben: Er kettet zum Beispiel seine Teetasse am Heizkörper an, damit sie nicht abhanden kommt, und radelt im Frühjahr mit Gasmaske, um sich vor Pollen zu schützen.

"Man muss schon sagen, dass Alan Turing in seinem Verhalten sehr schwierig, unkonventionell oder auch skurril war. Ich kann mir auch vorstellen, dass er durchaus autistische Züge an den Tag legte. Er war ein Theoretiker, eigenbrötlerisch, und er hatte auch in seinen Verhaltensmustern durchaus sehr skurrile Elemente."

Jochen Viehoff, Kurator am Heinz Nixdorf Forum in Paderborn, in radioWissen, am 11.04.2019

Die Turing-Maschinen - Visionen der ersten Computer

Enigma-Chiffrier-Maschine

Viele Jahre, bevor es überhaupt die ersten Computer gibt, beschreibt er jedoch nicht nur diese eine Maschine, die ein einziges Problem löst. Er entwirft eine "universelle Turing-Maschine". Eine Maschine, die viele Probleme lösen kann, dank vieler unterschiedlicher Programme. In einer Zeit, in der noch für jedes Problem eine eigene Maschine gebaut wird, ist das visionär. Turing beschreibt die Idee einer "speicherprogrammierten" Maschine und nimmt das Konzept des modernen Computers vorweg: die Trennung von Hardware und Software. Für Turing stand fest, dass die Komplexität einer Maschine durch die Software und eben nicht länger durch die Hardware bestimmt werden muss.

"Man hatte eine Rechenmaschine auf dem Tisch stehen, mit der man verschiedene Grundrechenarten durchführen konnte. Vielleicht konnte man noch zwei, drei mehr Operationen machen. Aber damit war eigentlich die Funktionalität der Maschine erschöpft. Man hatte zum Beispiel keine Möglichkeit, ein neues Programm zu laden, damit die Maschine auf einmal was anderes macht. Das musste alles in der Hardware drin sein. Und die Idee, dass sich die Universalität der Maschine mit einem Software-Gedanken, mit einem Programm löse, das ist bei Turing in seinen Arbeiten vor dem Krieg aufgekommen."

Jochen Viehoff, Kurator am Heinz Nixdorf Forum in Paderborn, in radioWissen, am 11.04.2019

Turing soll im Zweiten Weltkrieg den Code der Enigma entschlüsseln

Alan Turing

Nach einer Zwischenstation an der Princeton University, wo er 1938 promoviert und Einstein und John von Neumann kennenlernt, kehrt er 1939 nach Cambrigde zurück. Während des Zweiten Weltkriegs ist Turing Teil eines Geheimprojekts: Er wird zum staatlich beauftragen Hacker: In Bletchley Park, einem kleinen Ort nordwestlich von London, versuchen die Engländer, den Nachrichtenverkehr der deutschen Wehrmacht zu entschlüsseln - den Code der "Enigma".

"Das war eine Maschine, die sah so ähnlich aus wie eine Schreibmaschine. Man hat den Klartext wie in einer Schreibmaschine eingetippt. Und man hat einen Schlüssel eingestellt, der dafür verantwortlich war, was aus dem Klartext für ein Codetext wird. Dieser Schlüssel war im Prinzip eine Buchstabenfolge aus 25 Buchstaben. Und für jeden Tag des Jahres war ein solches Codewort ausgemacht. Die Leute, die verschlüsselte Nachrichten übersenden wollten, und die Empfänger, die hatten ein großes Buch. Für jeden Tag stand da dieses Codewort drin."

Kurt Mehlhorn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Informatik in Saarbrücken, in radioWissen, am 11.04.2019

Enigmas in der Ostsee

Immer wieder tauchen Enigma-Chiffriermaschinen aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Buchstäblich so passiert ist das im Januar 2021: Ein Taucher hat gleich sechs Enigmas aus der Ostsee geborgen. Wahrscheinlich wurden sie gegen Kriegsende im Meer versenkt. Christian Hüttner hat sie in der Nähe von Schleimünde zwischen Flensburg und Kiel entdeckt - aber aufgrund des starken Bewuchses nicht gleich erkannt: "Ein paar Tasten schauten raus", erzählt er. Die Maschinen sollen restauriert und ausgestellt werden.

Alan Turing löst das Rätsel um den Enigma-Code

Das schreibmaschinenähnliche Gerät selbst gelangt schnell in die Hände der Engländer. Das Problem ist der Code. Doch Turing erkennt: Wenn man die ersten fünf Zeichen des Schlüssels kennt oder erraten kann, kann man auf die restlichen zwanzig schließen. Das funktioniert allerdings nur, wenn man einen Teil der verschlüsselten Nachricht im Klartext kennt. Der Klartext ist bald gefunden: Jeden Morgen um sechs Uhr funken und verschlüsseln die Deutschen einen Wetterbericht, in dem das Wort "Wetterbericht" auch vorkommt - und zwar immer an der gleichen Stelle im Text. Um vom Hilfswort "Wetterbericht" den sich täglich ändernden Code abzuleiten, sucht Ingenieur Turing eine praktische, schnelle Lösung: eine Maschine.

"Er hat die Konstruktion einer Maschine angegeben, die von den ersten fünf Buchstaben auf die anderen zwanzig schließt. Und diese Maschine war schnell genug, dass sie alle Möglichkeiten für die ersten fünf Buchstaben in einer oder zwei Stunden durchprobieren konnte. Und das heißt, wenn die Engländer früh um 6 Uhr diese Nachricht abgefangen haben, wo das Wort 'Wetterbericht' vorkam, dann haben sie irgendwann am frühen Vormittag den Schlüssel für den Tag gehabt und konnten von da ab die Nachrichten des Tages, auch die sie vorher abgefangen hatten, übersetzen."

Kurt Mehlhorn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Informatik in Saarbrücken, in radioWissen, am 11.04.2019

Turing und die Turing-Bomben

Als sogenannte "Turing-Bomben" kommen diese elektromechanischen Geräte hundertfach zum Einsatz. Sie laufen Tag und Nacht, und helfen, den Enigma-Code zu knacken. Die feindlichen Funksprüche können entschlüsselt werden! Wahrscheinlich verkürzt Turing damit den Zweiten Weltkrieg deutlich. Seine Erfindung gilt als eine frühe Sternstunde der Informatik, sie ist nichts weniger als die Demonstration der Macht intelligenter Maschinen. Das Tragische daran: Lange weiß niemand von Turings Ruhmestaten. Das Projekt bleibt bis in die 1970er-Jahre "top secret".

"Das war eine ganz klare, tragische Komponente. Das war ein Desaster, als Alan Turing nach dem Krieg zurück in die zivile Forschung kam, da wusste niemand, dass er einer der mit kriegsentscheidenden Helden in Bletchley Park gewesen ist. Das war auch ein Problem: Er kam nach London und war wieder der kleine unbekannte Mathematikprofessor."

Jochen Viehoff, Kurator am Heinz Nixdorf Forum in Paderborn, in radioWissen, am 11.04.2019

Turing entwickelt den schnellsten Rechner der Welt

Doch Turing arbeitet unbeirrt weiter und macht sich 1945 am "National Physical Laboratory" in London an ein Großprojekt: den Bau einer großen Rechenanlage, der sogenannten "Automatic Computing Engine", kurz: "ACE". Als die Maschine 1950 fertig wird, ist sie der schnellste Rechner der Welt. Eine "speicherprogrammierte" Maschine, die über einen einheitlichen, flexiblen Speicher verfügt, für ganz unterschiedliche, austauschbare Programme und Daten. Die Grundzüge für dieses Konzept hatte Turing ja bereits vor dem Krieg formuliert und vorgeprägt: Es ist seine Idee der "universellen Turing-Maschine".

"Die Maschine war damals schlicht und ergreifend der schnellste Computer der Welt. Wir reden hier über Größenordnungen 1.000 bis 10.000 mal schneller als etwa eine Rechenmaschine von Konrad Zuse."

Jochen Viehoff, Kurator am Heinz Nixdorf Forum in Paderborn, in radioWissen, am 11.04.2019

John von Neumann wird mit Turings Idee berühmt

Doch berühmt wird damit ein anderer: John von Neumann. Er kennt Turing und seine Ideen aus Princeton, reichert sie an und beschreibt 1945 in einem kurzen Bericht das Prinzip der "speicherprogrammierten Maschine". Als sogenannte "von Neumann-Architektur" prägt es bis heute alle Informatiklehrbücher, wird zu einer Art "Evangelium für den Computerbau". Von Neumann punktet dabei mit Eigenschaften, die Turing fehlen: Er ist weltweit vernetzt und effizient organisiert.

Der Turing-Test: Erkennt der Mensch die Maschine?

Turing ist nicht nur ein Pionier der Computerarchitektur. Er erkennt früh, dass Software immer komplexer und mächtiger werden wird, sieht einen immensen Bedarf an Computerprogrammierern voraus. Und er fragt sich, ob programmierte Maschinen tatsächlich intelligent sein können. Um das zu prüfen, schlägt er einen Test vor, der als Turing-Test bekannt wird: Dabei kommuniziert eine Testperson via Tastatur mit zwei ihr unbekannten Gesprächpartnern - einem Menschen und einer Maschine. Kann der Tester Mensch und Maschine aufgrund ihrer Antworten nicht unterscheiden, hat die Maschine den Test bestanden. Seitdem wird fleißig getestet, in den unterschiedlichsten Varianten. Doch die "Intelligenz" lässt länger auf sich warten als vermutet: Zu hundert Prozent bestanden hat den Test bis heute keine einzige Maschine.

Eine tragische Mixtur - oder: Genial, geheim und verachtet

Was von Turing bleibt, ist eine ganze Menge: die Turing-Maschine und der Turing-Test, außerdem wegweisende Konzepte, was Informatik ist und sein kann, wie man heute immer noch Computer baut - und das Verdienst, den Zweiten Weltkrieg verkürzt zu haben. Dennoch ist Turing zu Lebzeiten kein Wissenschaftsheld wie ein von Neumann zum Beispiel. Die Welt wusste schlicht und einfach nichts von Turings Leistungen, nichts von Bletchley Park, nichts vom Codeknacker. Viele seiner Arbeiten waren lange Zeit unter Verschluss und wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht. Ein Tod, der tragischer kaum sein könnte: Turings Lebensstil als Homosexueller passt nicht zu den Moralvorstellungen der Zeit: Er wird sozial geächtet, hat die Wahl zwischen Gefängnis oder Hormonbehandlung - entscheidet sich für letzteres, endet in einer tiefen Depression und begeht kurz vor seinem 42. Geburtstag schließlich Selbstmord. Vermutlich.

"Das ist heute sehr schwer abschließend zu beurteilen. Ich persönlich glaube nicht an die Verschwörungstheorien, dass da noch irgendetwas anderes dahinter steckt. Dass Alan Turing umgebracht wurde zum Beispiel, weil er als Geheimnisträger, als Homosexueller überhaupt nicht mehr tragbar war für die Regierung. Das ist eine Meinung, die ich nicht teile. Ich gehe davon aus, dass er sich in seinem Zimmer mit einem vergifteten Apfel das Leben genommen hat."

Jochen Viehoff, Kurator am Heinz Nixdorf Forum in Paderborn, in radioWissen, am 11.04.2019

Sendungen über Alan Turing


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