Report München


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Die Flugblatt-Affäre FW-Chef Aiwanger in Erklärungsnot

Hubert Aiwanger ist das Zugpferd der Freien Wähler im bayerischen Landtagswahlkampf. Laut Umfragen ist er der zweitbekannteste Politiker in Bayern. Doch jetzt belastet ein hetzerisch verfasstes Flugblatt aus den 1980er-Jahren den Wahlkämpfer und stellvertretenden Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger. report München mit Hintergründen zu einem Skandal, der längst nicht nur in Bayern für Aufsehen und Empörung sorgt.

Von: Hans Hinterberger, Gabriele Knetsch

Stand: 29.08.2023

Das ist er: Hubert Aiwanger, der Chef der Freien Wähler, der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns. Das ist Aiwanger, der König der Bierzeltrede für die einen, der bedenkliche Populist für die anderen ...

"Politik für die Zukunft Politik mit den Freien Wählern und nicht Politik mit den Grünen an die Wand. Meine Damen und Herren."

Hubert Aiwanger

Wie Markus Söder eilt auch Aiwanger wahlkämpfend von Volksfest zu Volksfest. Doch als sich am Samstagmittag der große Festumzug in Augsburg formiert, bleibt Aiwangers Kutsche plötzlich leer. Nur Markus Söder ist hier und spricht über ein Flugblatt, das Aiwanger angeblich vor Jahrzehnten als 11-Klässler verfasst haben soll …

"Es sind schlimme Vorwürfe im Raum! Dieses Flugblat ist menschenverachtend und geradezu eklig."

Markus Söder

Am Vorabend hatte die Süddeutsche Zeitung Aiwanger unterstellt, er habe als Gymnasiast ein antisemitisches Flugblatt verfasst.
report München liegt die entscheidende Seite einer Schülerarbeit vor. Hier wird die Hetzschrift schon vor über 30 Jahren dokumentiert, aber niemanden zugeordnet.
Der Aufruf zu einem fiktiven "Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?". "Erster Preis ein Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz."
Ein oder mehrere Exemplare der Schrift sind damals in Aiwangers Schultasche gefunden worden. Dafür sei er vor einen Disziplinarausschuss zitiert worden, sagt er selbst.
Was ist davon zu halten? Aus der Landtagsopposition werden Rücktrittsforderungen laut. Wirbel um Aiwanger, nicht zum ersten Mal ...

Bayerischer Landtag. Juni 2023:

"Ich erwarte, dass Regierungsvertreter die Demokratie stärken und nicht schwächen."

Katharina Schulze

"Wenn sie noch einen Funken Anstand haben, dann treten Sie zurück!"

Florian von Brunn

Auf einer Demonstration gegen das Heizungsgesetz der Bundesregierung in Erding  hatte Aiwanger das gesagt ...

"Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich Demokratie zurückholen muss. Und denen in Berlin sagen, ihr habt wohl den Arsch offen da oben, meine Damen und Herren."

Hubert Aiwanger

Ein demokratisch gewählter Minister, der die Demokratie bezweifelt?
Auch Markus Söder zeigt sich irritiert. Aber er stellt sein Bündnis mit Hubert Aiwanger damals nicht in Frage. Wie immer.
Rückblick in die Coronazeit. Ein ewiger Kampf. Der Ministerpräsident führt das "Team Vorsicht", sein Stellvertreter will lockern, verweigert zeitweise die Impfung. Söders Nerven sind strapaziert - doch Hubert Aiwanger bleibt selbstsicher ...

"Da wünsche ich dem MP viel Spaß dabei, wenn er meint, jemand anders kann es besser machen. Da habe ich keine schlaflosen Nächte!"

Hubert Aiwanger 6.. Januar 2021

Bisher gab es einen festen Kit: Die Idee der rein bürgerlichen Bayern-Koalition, vor allem im Kampf gegen die Berliner Ampelregierung, vor allem gegen die Grünen. Aber gilt das noch?
Eine schwierige Frage für Markus Söder, sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch.

"Also das ist genau das Dillema. Dass er an dieser bürgerlichen Koalition festhalten will. Weil ansonsten ja die Erzählung der CSU nicht mehr greifen würde, dass man das einzig ampelfreie Land in Deutschland ist."

Ursula Münch

Es ist später Samstagnachmittag geworden. Im oberbayerischen Rosenheim hat das Herbstfest begonnen. In stürmische Zeiten.
Eigentlich war Aiwanger als Gast angekündigt, aber man wartet vergeblich. Während die Menschen hier feiern, rumort es in seiner Partei.
report München erfährt: Das ganze trifft die Freien Wähler weitgehend unvorbereitet, obwohl Aiwanger seit über einer Woche von den Recherchen der Süddeutschen wusste.
Dann endlich äußert er sich:

"Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend. Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären. Weder damals noch heute war und ist es meine Art, andere Menschen zu verpfeifen."

Hubert Aiwanger

Aber wer ist der Verfasser? Bei der Neuen Presse in Passau geht ein Anruf ein.
Es meldet sich Helmut Aiwanger, Hubert Aiwangers Bruder. Er habe das Flugblatt verfasst.

"Wir haben das Wort von Hubert Aiwanger und seinem Bruder. Und es gilt die Unschuldvermutung!"

Ursula Münch

Hat der Zweite Mann im Freistaat damit einmal mehr eine Sache ausgestanden? Es scheint beinahe so. Und doch bleiben selbst in seiner Partei Zweifel und Fragen.

Der Rheinland-Pfälzische Freie Wähler Chef Stephan Wefelscheid teilt Report München mit:

"Tatsächlich hat sich der Landesvorstand aber die Frage gestellt, warum sich ein bis mehrere Flugblätter in seiner Schultasche befanden."

Stephan Wefelscheid

Doch anstatt Aufklärung zu liefern, geht Aiwanger zum Tagesgeschäft über.  Montag: Besuch in Miltenberg, Unterfranken.

"Jetzt muss ich mich erst schön machen für Euch! Nicht dass ich unanständig rüberkomm!"

Hubert Aiwanger

"Wie ist es denn möglich, dass es bei Ihnen im Schulranzen gefunden wurde, dieses Papier?"

Reporter

"Glauben's ma's, das ist gar nicht so wichtig, wie Sie meinen."

Hubert Aiwanger

Lieber ins Bierzelt, dirigieren. Im Laufe des Tages wird er seine Partei hinter sich bringen, auch wenn er Fragen offen lässt. Die Botschaft: Alles sei nur eine Medienkampagne:

"Dass sich da womöglich ein früherer Lehrer, der politische Gegner, wer auch immer da eins auswischen will auf Grund der guten Umfrageergebnisse. Also ich möchte nicht ausschließen, dass die ganze Geschichte womöglich Aiwanger und den FW womöglich mehr nutzen könnte als schaden"

Ursula Münch

Selbstbewusst war Aiwanger schon immer. 2008 führt er die Freien Wähler erstmals in den bayerischen Landtag. 2018, ein Jahrzehnt später, gelingt ihm der Sprung in die Regierung, die Koalition mit Markus Söder. Aber wird Söder dieses Bündnis weiter führen?

Reporterinnen und Reporter des Bayerischen Rundfunks haben in den letzten Tagen mit zahlreichen Mitschülern von Hubert Aiwanger gesprochen. Sie teilten unterschiedlichste Erinnerungen mit.
Mario Bauer ist der erste der offen seine Erinnerungen über den Schüler Aiwanger teilt. Heute Abend kurz vor der Sendung zeichnen wir auf.

"Er kam halt ab und zu, wenn die Klasse schon drin war und er reinkam, dann hat er den Hitlergruß gezeigt. Er hat auch sehr oft eben diese Hitleransprachen nachgemacht in diesem Hitlerslang, da wollte er immer damit auffallen.
Es waren judenfeindliche Witze über Auschwitz usw., die sind definitiv gefallen, 100 %.
Man könnte jetzt sagen pubertäre Phase. Viele haben es damals abgetan als Spinner. Welche starke Gesinnung dahintergesteckt hat? Keine Ahnung, kann man schwer sagen."

Mario Bauer, Klassenkamerad Aiwangers 7. - 9. Klasse

Tatsache ist: Vom Politiker Aiwanger sind solche Ansichten nicht überliefert.

Heute Vormittag in München. Krisentreffen der CSU, der Koalition, der Regierung.

Doch als Markus Söder vor die Kameras tritt, hat er kein Ende der Flugblattaffäre zu verkünden. Aiwanger müsse und werde jetzt noch einen Fragenkatalog beantworten, aber er bleibe im Amt.

"Ich sage aber auch: Das ist jetzt kein Freispruch oder Freibrief."

Markus Söder

Der Fall Aiwanger - er könnte den bayerischen Wahlkampf auch weiterhin auf den Kopf stellen.

Manuskript des report-Films zum Druck

Manuskript als PDF:


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Bruce, Sonntag, 03.September 2023, 19:50 Uhr

8. Lift every voice and sing

Bravo Süddeutsche!

Die Logik aus dieser "Affäre" ist: es braucht Politiker mit persilreiner Vita. Wer also als Jugendlicher gelogen, betrogen, gestohlen, vergewaltigt,, mißbraucht und rechte oder linke Verirrungen hatte sollte es nicht mehr wagen ein Amt oder eine herausragende Funktion anzutreten. Sparen könnte man sich auch gleich die Resozialisierungsbemühungen in Gefängnissen. Sinnlos. Der Makel einer Verfehlung haftet bis ins Grab an. Schafft die Kirchen ab, denn es gibt keine Begnadigung der Sünden mehr. Ist das der typisch deutsche aufgedrückte Stempel?

Sorry, die Affäre ist für mich in diesem Fall die Süddeutsche. Natürlich stellt sich der Aiwanger selbst im heutigen Alter an, wie ein kleiner dummer Lausbub. Nicht besonders gescheit. Übrigens: auch ich hatte früher so einen kleinen Nazi-Pups in der Klasse. Er sitzt heute auf einem Richterstuhl.
Immerhin behandelt das Gesetz Jugendliche und Heranwachsende differenzierter.

Warum manche Medien nicht?

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Hans Müller, Donnerstag, 31.August 2023, 13:29 Uhr

7. Anonyme Vorwürfe, Teil 2

Die Behauptung, Zeugen würden sich irgendwie bedroht fühlen, halte ich in diesem Fall zudem für hanebüchenen und niederträchtigen Quatsch. Im Zweifel eidesstattlich aussagen.

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Hans Müller, Donnerstag, 31.August 2023, 13:27 Uhr

6. Anonyme Anschuldigungen

Die Sache mit den Vorwürfen hat auch einen weiteren Haken, praktisch alle Vorwürfe sind anonym hervorgebracht worden, hingegen melden sich jetzt Mitschüler mit vollem Namen zu Wort, die von einer rechtsradikalen Gesinnung "überhaupt nichts" mitbekommen haben wollen.

Vorschlag zur Güte: soll wer mag, eidesstattliche Erklärungen abgeben, das dürfte die Sache dann recht schnell sortieren.

  • Antwort von Die Redaktion, Donnerstag, 31.August, 16:37 Uhr

    Dem Bayerischen Rundfunk liegen eidesstattliche Versicherungen zu Vorwürfen gegenüber Hubert Aiwanger vor.

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Peter, Donnerstag, 31.August 2023, 13:04 Uhr

5. Das grenzt schon an Anabolikagabe für die AfD

Fein gemacht Süddeutsche!

Die Demokraten brauchen keine Feinde - sie zerlegen sich selbst. Wir wollen ja in allem immer die Besten sein. Sind wir das noch? Eher die vermeintlichen Saubermänner, Oberlehrer, die Bedenkenträger, die Anspruchsteller, die Egoisten, die Ängstlichen und die Erbsenzähler. Kaum ein Tag vergeht, an welchem nicht das gestrig gesagte analysiert, zerredet oder infrage gestellt wird. Und da meine ich Reden und Taten aller Parteien. Ob das ein Merz-Interview war oder Aiwangers Demokratie zurückholen, aber genauso die endlose Zermürbung der Linken mit Wagenknecht und Co.. Die Grünen stehen in nichts nach und Scholz sagt gefühlt mit negativer Lichtgeschwindigkeit immer das gleiche. Dazu verwirren "Experten" und Talkshowgäste die Öffentlichkeit.

Die Einleitung "wir brauchen" findet sich stets in allen Nachrichten. Ja - bräuchten wir nicht einen Kennedy, der den Leuten sagt, was sie für ihren Staat selbst tun können?

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Hans Müller, Mittwoch, 30.August 2023, 13:41 Uhr

4. Entlassung Aiwangers

Aus dem vorgehenden Kommentar: eine Entlassung Aiwangers, die sein Verhalten als Jugendlicher zum Maßstab nimmt, würde alte Wunden aufreißen und die soziale Spaltung in Bayern vergrößern. Es ist unvernünftig und unlauter: Finger weg.

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