31

Von Mitgefühl bis Kritik Wie das Netz auf Anschläge reagiert

Terror? Amok? Attentat? Nach jedem schlimmen Vorfall verstricken wir uns auf Facebook und Twitter in einem Teufelshypekreis von immer gleichen Diskussionsmustern.

Von: Lisa Altmeier

Stand: 29.07.2016 | Archiv

1. Entsetzen: OMG und WTF

Die ersten Push-Nahrichten landen auf den Smartphones und schnell wird klar: Irgendwas Schlimmes ist passiert. Viele Menschen äußern ihre Fassungslosigkeit, beschimpfen das Jahr als besonders fiesen Repräsentanten seiner Gattung oder posten erschütterte Smileys. Unter die Entsetzensbekundungen mischen sich Falschmeldungen und Gerüchte, die schnell für noch mehr Entsetzen sorgen. Willkommen im Teufelshypekreis.

2. Solidarität: #JeSuis...

Nachdem der erste Schreck vorbei ist, verkünden massenweise Menschen ihre Solidarität mit den Opfern, beziehungsweise ganzen Städten oder Ländern. Innerhalb kurzer Zeit entstehen Hashtags wie #JeSuisCharlie, #JeSuisFrance und #PrayForMunich. Das lässige Surfer-Profilbild wird durch eine Landesflagge mit Schriftzug ersetzt und irgendjemand erfindet einen schwarz-rot-gelben Trauersmiley, der verdächtig an Hitler erinnert, aber was solls, Hauptsache mitfühlen. Eine digitale Flut von Solidarität und Mitgefühl wird zu den Anschlagsorten geschwemmt.

3. Religionskritik: Die neue Gretchenfrage

Schnell mischen sich erste kritische Stimmen unter die Solidarisierer. Sie spekulieren darüber, ob es einen religiösen Hintergrund der Tat gibt. Die Gretchenfrage der digitalen Diskutanten ist dabei: Ist der Täter Muslim oder nicht? Und obwohl man in den wenigsten Fällen schon weiß, was genau passiert ist, werden in vorauseielendem Ärger schon jetzt alle beschimpft, die sagen, dass dieser Vorfall ganz bestimmt nichts mit dem Islam zu tun habe.

4. Beleidigung aller psychisch Kranken: Das muss ein Psycho sein!

Zu den Spekulationen über die religiösen Motive kommen jetzt Beschimpfungen von Menschen mit psychischen Problemen. In dieser Phase entstehen wüste Legenden, die mit der Realität wenig zu tun haben: Depressionen führen laut der Meinung einiger lautstarker Facebook-Nutzer direkt in den Amoklauf und wer einmal in einer geschlossenen Psychiatrie war, soll dort doch gefälligst bis zu seinem Lebensende bleiben.

5. Religionskritikzurückweisung: Das hat nichts mit dem Islam zu tun

Währenddessen haben sich die Verteidiger des Islam schon bereitgestellt, um die Religionskritiker zurückzudrängen: „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ und „Der Islam ist eigentlich eine friedliche Religion.“ Islamkritiker und Islamkritikzurückweiser streiten sich in der Folge über die Deutungshoheit des Anschlags. Dazu kommen noch die Menschen, die alle Religionen generell scheiße finden und reflexartig auf die Kreuzzüge sowie sämtliche Verfehlungen der Katholischen Kirche und die Taten von radikal-christlichen Abtreibunsgegnern in den USA verweisen. Ein Schauspiel bei dem jeder seinen Text anhand der vielen vorangegangenen Vorführungen längst auswendig kann.

6. Medienkritik 1: Die Medien sind zu langsam!

Wenn man den Islam und die menschliche Psyche schon nicht komplett dingfest machen kann, kann man sich immerhin auf den Feind aller Klassen verlassen: Die Medien. Denn: In der Tagesschau läuft noch nichts, das ZDF ist ganz leise und auch die Süddeutsche Zeitung hat neben einer kläglichen Push-Nachricht noch nicht viel Inhalt zu bieten. Was soll das? Worauf warten die noch? Warum erfährt man so wenig? Auf Periscope sind doch schon Livestreams vom Geschehen zu sehen! Und überhaupt: Wollen die etwa etwas verschweigen?

7. Medienkritik 2: Die Medien sind zu schnell und machen dabei Fehler!

Kaum läuft die Berichterstattung, folgt die nächste Phase: Mit jeder Sendeminute, jedem Text und jedem gesprochenen Wort eines Journalisten steigt die Gefahr für Fehler in der Berichterstattung. Jetzt melden sich die Menschen, die eine ausgewogene Analyse einer hektischen Live-Berichterstattung vorziehen. Was denken diese Medien sich nur dabei, so schnell zu sein?

8. Medienkritik 3: Warum berichten die Medien überhaupt?

In einem Meta-Meta-Move zerschlagen die Medienkritiker der Phase drei ihre beiden Vorgänger: Denn Anschläge gibt es angeblich oft auch deshalb, weil die Täter sich von ihnen Aufmerksamkeit erhoffen. Durch die Berichterstattung erreichen sie ihr Ziel. Warum also berichten die Medien überhaupt? Genau genommen sind sie doch irgendwie mitverantwortlich, wenn sie jeder Tat eine prominente Bühne geben! Im Gegensatz zum Islam hat die Medienbranche auch kaum prominente Fürsprecher, schließlich findet jeder irgendetwas irgendwo, das er kritisieren kann.

9. Solidaritätskritik: Scheinheilig!

Auch der beliebteste Gegner hat mal eine kleine Pause verdient und so widmet sich Phase neun der Post-Anschlagsdiskussion einer Gruppe von Menschen, die doch eigentlich total nett und teilnahmsvoll ist: Die Solidarisierer. Denn mittlerweile sieht man an jeder Ecke des Internets dieselben Mitleidsbekundungen und der halbe Freundeskreis hat dasselbe Profilbild. Seltsamerweise passiert das aber nur bei Anschlägen im Westen. Wenn im Nahen Osten mal wieder etwas Furchtbares passiert ist, gibt es keine international trendenden Hashtags und wegen verhungerter Kinder in Somalia ändert auch keiner sein Profilbild. „Scheinheilig!“ finden die Solidaritätskritiker und attackieren die Mitleidigen. Und überhaupt: Wie hässlich ist bitte dieser Deutschland-Smiley?

10. Politikerbashing: Merkel muss weg

Und dann gibt es ja noch die Politiker, über die sich das Internet sowieso schon den ganzen Tag aufregt. Jetzt also ein neuer Aufhänger für Merkel-muss-weg, Hollande-ist-scheiße und viele weitere Sätze, in denen man im Vorüberschimpfen dann auch noch elegant sämtliche Flüchtlinge in Deutschland beleidigen kann. Außerdem klingen die Beschwichtigungsreden nach allgemeinem Internetempfinden merkwürdig hölzern und überhaupt: Warum konnten die Geheimdienste das nicht verhindern? Man müsste die Politiker alle mal austauschen, denn die interessieren sich nur für ihre Diäten und nicht für die Menschen. Setzen sechs und so.

11. Verschwörungstheorie: Sagt mal, findet ihr es nicht auch komisch…

Wenn das Netz dann sämtliche verfügbare Informationen aufgesogen, sämtliche Mitmenschen beleidigt und überhaupt schon halb ausgebrannt ist, vor lauter digitalem Feuer, gibt es noch die Kämpfer für die Wahrheit. Die buddeln mit ihrer Geheimwaffe, dem unkaputtbaren Aluhut, aus dem niedergeschimpften Internet die ultimativen Beweise dafür hervor, dass in Wahrheit vielleicht doch alles ganz anders war. Ganz ehrlich: Der Münchner Polizeisprecher ist doch viel zu nett, um echt zu sein. Und dass der Pass des Täters gleich gefunden wurde, ist nun wirklich sehr merkwürdig. Sind wir alle Opfer einer Inszenierung?

12. Zurück zur Normalität: "Wow, ein Turtok!“

Auch die hintergründigste Diskussion kann dadurch beendet werden, dass ein Pokémon in der Bundespressekonferenz oder auf einem Kaffeebecher auftaucht. Das ist Fakt. Die Ablenkung mit stupiden Dingen hilft uns, das Weltgeschehen zu vergessen. Zumindest bis zur nächsten Diskussion. Das könnte zum Beispiel eine Killerspieldebatte sein. Aber oh, guckt mal da, ein Turtok!


31