In den Tagen und Wochen vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine meldeten russische Nachrichtenagenturen mehrmals angebliche Zwischenfälle im Donbass. Von Bombenattentaten auf Autos, geplanten sowie durchgeführten Terroranschlägen und Attacken mit schwerem Geschütz war die Rede.
Laut den Meldungen, die die staatlichen russischen Nachrichtenagenturen verbreiteten, haben ukrainische "Saboteure" oder "subversive Gruppen" die Angriffe verübt. Die Opfer seien Vertreter oder Zivilisten der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk oder Luhansk gewesen. Auch der russische Präsident Wladimir Putin betonte in den vergangenen Wochen immer wieder angebliche Aggressionen der Ukraine.
Recherchen liefern Hinweise auf manipuliertes Material
Bei einigen dieser Meldungen konnten Recherche-Kollektive jedoch zeigen, dass die Angaben der russischen Nachrichtenagenturen nicht stimmen, und angebliches Beweismaterial fingiert wurde.
So verbreitete sich am 18. Februar 2022 etwa über den Telegram-Kanal der prorussischen Separatisten ein Video, das angeblich zeigt, wie ein Saboteur einen Angriff auf Chlorbehälter nahe der ostukrainischen Stadt Horliwka ausübt. Die Region wird von den prorussischen Separatisten kontrolliert.
Recherchen des internationalen Kollektivs “Bellingcat” zeigen, dass das Video nicht an diesem Tag aufgenommen wurde. Die Metadaten des Videos zeigen demnach, dass das Video bereits Anfang Februar, also rund zwei Wochen früher, erstellt wurde. Außerdem konnte "Bellingcat" nachweisen, dass dem Video zusätzlich Tonspuren hinzugefügt wurden, die dem Ton eines Videos einer finnischen Militärübung gleichen.
In einer Meldung der russischen Nachrichtenagentur "Tass", ebenfalls vom 18. Februar, heißt es, in der Nähe eines Regierungsgebäudes in Donezk sei das Auto des Milizenführers der selbsternannten Volksrepublik Donezk in die Luft gesprengt worden.
Ein belarussischer und ein litauischer Journalist konnten zeigen, dass der Befehlshaber sonst in einem anderen, moderneren Auto mit gleichem Nummernschild unterwegs sei. Auch hier liegt der Verdacht nahe, dass der Angriff auf das Auto inszeniert gewesen sein könnte.
Zahlreiche Hinweise auf "false-flag"-Operationen im Vorfeld des russischen Angriffs
Am Morgen des 22. Februar soll es laut russischen Medien zu einem Attentat auf einer Schnellstraße außerhalb von Donezk gekommen sein. Ukrainischen Milizen wird vorgeworfen für die Attacke verantwortlich zu sein, bei der angeblich drei Menschen ums Leben kamen. Noch am gleichen Morgen waren Russland-nahe Reporter am Ort des Geschehens, ihre Videos sollen die Folgen der Attacke dokumentieren. Die Bilder verbreiteten sich auch im Netz stark.
Die Videos lassen jedoch Zweifel an der Darstellung der prorussischen Separatisten aufkommen. Laut der Recherche-Plattformen "Grid" sowie weiteren Open-Source-Recherchen weisen mehrere Indizien darauf hin, dass die Autos, die angeblich auf dieser Straße attackiert worden sind, bereits vorher zerstört waren. So sind etwa keine Nummernschilder zu sehen, außerdem liegt nirgendwo Glas herum, obwohl dies nach der Explosion eines Autos üblich wäre.
Weitere Hinweise, die auch ein Pathologe dem Recherche-Team bestätigt hat, deuten darauf hin, dass die angeblichen Opfer des Angriffs schon vorher tot waren.
In den vergangenen Wochen gab es außerdem Berichte, dass angeblich ukrainische Truppen die Grenze zu Russland überquert hätten. Auch das hierzu veröffentlichte Material weckt laut "Bellingcat" Zweifel an der von Russland kommunizierten Darstellung. Vor solchen "false flag-Operations", also Täuschungsmanövern, hatte das Pentagon bereits im Januar gewarnt.
Vorfälle unterstützen russisches Narrativ vom "ukrainischen Aggressor"
Der Tenor dieser angeblichen Vorfälle ist immer gleich: Die Ukraine greife die "unabhängigen Volksrepubliken" Luhansk und Donezk an.
Grafik: Die Separatisten-Regionen Donezk und Luhansk
Dass die Ukraine der Aggressor sei, eine Invasion in den Donbass plane und Russland sich verteidigen müsse: Das entspricht dem Narrativ, das sich über die russischen Staatsmedien bereits seit Jahren verbreitet, sagt die Osteuropa-Expertin Susanne Spahn, die unter anderem für die Friedrich-Naumann-Stiftung zu Russlands Informationskrieg geforscht hat, im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. "Man kann diese systematische Verbreitung von Falschinformationen seit acht Jahren beobachten."
Welches Bild von der Ukraine Wladimir Putin dabei verbreitet, wurde auch beim jüngsten Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau deutlich. Bei der Pressekonferenz sprach Putin von einem "Genozid" im Donbass, den die Ukrainer an den Russen verüben würden. "Das behauptet Putin schon länger, obwohl es dafür keinerlei Belege gibt", sagt Spahn.
Damit einher gehe die Behauptung, die Ukraine werde von Faschisten und Nationalisten regiert. In den Stunden des Angriffs auf die Ukraine nennt Putin das Ziel, das Land “entnazifizieren” zu wollen. Spahn sagt: "Auch diese Behauptung hat keinerlei Grundlage. In der Ukraine spielt keine faschistische Partei irgendeine große Rolle."
Putin beschuldigt also auch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, ein Nazi zu sein. Selenskyj, selbst Jude, verwies in einer Rede darauf, dass die Ukraine im Kampf gegen den Nationalsozialismus mehr als acht Millionen Menschen verloren habe und dass auch Mitglieder seiner Familie im Holocaust ermodert wurden.
Ereignisse der letzten Wochen auf russischer Seite wirken "in hohem Maße inszeniert"
Der Kreml hat in Russland die Deutungshoheit über das, was die Staatsmedien vermelden. Die russische Journalistin Ekaterina Kotrikadze sagte in einer Sendung des US-Fernsehsenders CNN, Putin etabliere schon länger das Narrativ, die ukrainische Regierung sei "russophob". “Russland erklärt seinen Bürgern, dass sie tatsächlich russische Bürger im Donbass verteidigten, die von Kiew attackiert würden.
Politologin Susanne Spahn ergänzt: "Dabei hat Russland Pässe im Donbass verteilt und damit die russische Bevölkerung erst geschaffen. Dass die ukrainische Führung Russland hasse, gehört zu Putins zentralen Narrativen, die er über die Ukraine verbreitet". Diese Propaganda verbreite Russland bereits seit Annexion der Krim und der Maidan-Revolution im Jahr 2014.
Vor dem Hintergrund dieser Propaganda hat Putin nun, kurz vor der Invasion in die Ukraine, die Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk anerkannt, und so den Angriff auf die Ukraine gegenüber dem eigenen Volk gerechtfertigt.
"Was wir in den letzten Wochen gesehen haben, macht den Eindruck, als ob alles durchgeplant war", sagt Osteuropa-Expertin Spahn im Hinblick auf die vorangegangenen Täuschungsmanöver und die anschließende Bitte um russischen Beistand von den Separatistenführern. "Das wirkt in hohem Maße inszeniert."
MH17 und US-Wahl - Putin versucht die öffentliche Meinung zu beeinflussen
Auch internationale Desinformationskampagnen, die die internationale Wahrnehmung beeinflussen sollen, gab es in den vergangenen Jahren häufiger.
Recherchen von "Bellingcat" zeigen, dass sich infolge des von Russland verübten Abschusses des Passagierflugzeuges MH17, bei dem 298 Menschen starben, ein Medienplattform gründete, um “unabhängig” über die Ursache des Unglück zu berichten. Den "Bellingcat"-Recherchen zufolge arbeitete die Plattform mit dem russischen Militärgeheimdienst GRU zusammen.
Die Untersuchung der Niederlande zur Absturzursache sollten unter anderem durch Leaks diskreditiert werden, auch sollten die veröffentlichten Inhalte der Plattform von russischer Seite als Belege vor Gericht eingebracht werden.
Eine andere Front des russischen Informationskriegs liegt seit Jahren in den sozialen Netzwerken, russische Bots und Trolls sind mittlerweile berüchtigt. Im Vorfeld der US-Wahl 2016 fütterten sie die Feeds von Millionen Amerikanern mit Falschinformationen und Hetze, und vergifteten den Diskurs in den Sozialen Netzwerken, etwa mit koordinierten Aktionen auf Twitter, wie diese NBC-Recherche zeigt.
Ihren Ursprung hat die russische Desinformation bereits in der Sowjetunion. Falschinformationen über politische Gegner wurden schon damals bewusst platziert, der Geheimdienst KGB war für solche Kampagnen, die sogenannten "active measures", zuständig. Das erzählen mehrere ehemalige KGB-Agenten in einer “New York Times”-Dokumentation, die russische Desinformation aus historischer Perspektive beleuchtet.
- Zum Artikel: "Desinformation und Propaganda - Wie Russland im Netz Krieg führt"
Fazit
Im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine gab es zahlreiche Vorfälle im Donbass, bei denen es sich angeblich um Angriffe von Ukrainern auf pro-russische Separatisten gehandelt hat. Recherchen legen nahe, dass es sich bei einigen dieser Vorfälle um fingierte Aktionen gehandelt haben könnte.
Dass die Ukraine dabei der Aggressor gewesen sein soll, passt zu den Behauptungen über die Ukraine, die Putin bereits seit Jahren in den Staatsmedien verbreiten lässt. Dazu gehört, dass Ukraine von Faschisten regiert werde, Russen hasse, für einen angeblichen Genozid im Donbass verantwortlich sei (den es nicht gibt) und einen Angriff auf Russland plane. Für all das gibt es keine Belege.
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