Tausende weitere Menschen sind vor den vorrückenden russischen Soldaten im Nordosten der Ukraine geflohen. Russland wende bei seiner Offensive in Charkiw eine ähnliche Taktik an wie in den Schlachten um Bachmut und Awdijiwka, mit heftigem Artillerie- und Mörserbeschuss begleitet von ständigen Attacken von Bodeneinheiten, sagte der Polizeichef der Region, Wolodymyr Tymoschko, am Sonntag.
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Russland verfolgt Taktik der "verbrannten Erde"
Nach einigem russischen Bodengewinn am Samstag konzentrierten sich die Kämpfe am Sonntagnachmittag unter anderem auf Wowtschansk. Die Truppen seien außerhalb der Stadt und näherten sich von drei Seiten, sagte Tymoschko. Russland verfolge eine Taktik der verbrannten Erde und versuche, den Ort von der Karte zu tilgen. Ein Team der Nachrichtenagentur AP konnte aus einem nahe gelegenen Ort Rauch aus Wowtschansk aufsteigen sehen. Die Stadt lag unter heftigem Artilleriebeschuss. Helfer versuchten, die verbliebenen der vor dem Krieg 17.000 Bewohner von Wowtschank in Sicherheit zu bringen. Die meisten von ihnen waren ältere Menschen.
"Diese Woche hat sich die Lage im Gebiet Charkiw deutlich verschärft", schrieb der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj am Sonntag auf Telegram. "Derzeit halten in den Grenzgebieten entlang der Staatsgrenze zur Russischen Föderation die Kämpfe an."
Russische Gewinne "taktisch bedeutsam"
Syrskyj fügte hinzu: "Die Situation ist schwierig, aber die Verteidigungskräfte der Ukraine tun alles, um Verteidigungslinien und -positionen zu halten". Zugleich räumte er ein, dass die russischen Angreifer an einigen Abschnitten "Teilerfolge" erzielt hätten.
Das in den USA ansässige Institute for the Study of War erklärte, es sei davon auszugehen, dass die Russen am Wochenende Striletscha, Pylna, Pleteniwka und Boryssiwka eingenommen haben. Geolokalisiertes Filmmaterial zeige zudem, dass russische Kräfte offenbar auch Morochowets und Oliinykowe erobert haben. Die russischen Gewinne seien "taktisch bedeutsam".
Seit Freitag seien mindestens 4.000 Zivilisten aus der Region Charkiw geflohen, teilte Gouverneur Oleh Syniehubow am Sonntag mit. Russische Invasionstruppen hätten in den vergangenen 24 Stunden 27 Siedlungen angegriffen.
Russland nutzt ukrainischen Munitionsmangel
Analysten sagten, der russische Vorstoß ziele darauf ab, den Munitionsmangel der Ukrainer auszunutzen, bevor versprochene westliche Nachschublieferungen die Front erreichen. Indem ukrainische Soldaten im Nordosten gebunden werden, könnte Russland weiter im Süden ebenfalls eine Offensive vorantreiben.
Vorstoß zielt vermutlich nicht auf Charkiw
Ukrainische und russische Militärbeobachter wie auch ausländische Experten gingen aber davon aus, dass der Vorstoß noch nicht auf die Stadt Charkiw ziele. Das Institut für Kriegsstudien ISW in den USA sprach von "begrenzten operativen Zielen". Die Angriffe sollten die ukrainischen Kräfte von der Grenze abdrängen; durch das Vorrücken solle Charkiw wieder in die Reichweite russischer Haubitzen und Kanonen kommen. Strategisches Ziel sei, die Ukrainer zu zwingen, Soldaten und Material von anderen bedrängten Abschnitten der Front im Osten abzuziehen.
Mindestens sechs Tote im russischen Belgorod
In der grenznahen russischen Stadt Belgorod brach derweil ein zehnstöckiges Wohnhaus zusammen. Sechs Leichen seien bis zum Abend aus den Trümmern gezogen worden, teilte das russische Katastrophenschutzministerium am Sonntag mit. 20 weitere Menschen wurden verletzt. Nach russischer Darstellung wurde das Gebäude von der Ukraine aus beschossen.
Mit Informationen von dpa
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