Es sei nicht die Zeit, um sich die Realität schönzureden, sagte Boris Pistorius (SPD) auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Der Verteidigungsminister ließ in seiner Rede anklingen, dass er sich höhere Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit wünscht. Er regte Flexibilität an und sprach sich gegen das Festhalten an genauen Zahlen aus.
Pistorius kann sich auch höhere Ausgaben als Nato-Ziel vorstellen
Das unter den Nato-Staaten vereinbarte Ziel, mindestens zwei Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren, muss aus Sicht von Pistorius vielleicht nach oben korrigiert werden: "Es könnte sein, dass wir drei oder sogar 3,5 Prozent erreichen. Das hängt davon ab, was in der Welt passiert." Es gehe darum, ausreichend Geld zur Verfügung zu haben, so der Minister.
Mit Blick auf die Zeit, in der das Sondervermögen Bundeswehr aufgebraucht sein wird, sagte er: "Ich weiß nicht, wo wir das Geld finden, aber wir brauchen es." Zwar seien auch Investitionen in Bildung und Infrastruktur nötig, ohne Sicherheit sei aber alles "nichts".
Pistorius definiert Rolle als Verteidigungsminister anders
Anders als Vorgängerinnen definiert er seine Rolle als Verteidigungsminister dabei breiter und globaler. Seine Rede in München nutzte er, um den Ländern des sogenannten Globalen Südens Partnerschaften bis hin zu Waffenlieferungen anzubieten. Er findet das auch mit Ländern in Afrika für vorstellbar, deren rechtliche und demokratische Standards nicht immer deutschen Maßstäben entsprechen. Wird das in einer Koalition mit den Grünen machbar sein? Pistorius denkt laut und stößt Diskussionen an. Sein Vorstoß in dieser Frage kann stellvertretend für seinen Stil im Ministeramt gesehen werden.
Pistorius steht dabei wie kaum ein zweiter in der Bundesregierung hinter den Militärhilfen für die Ukraine. Der Krieg dort entscheide darüber, ob es einer imperialistischen Macht erlaubt wird, ihren Willen einem anderen, souveränen Staat aufzuzwingen, führte er auf der Bühne in München aus.
"Münchner Paket" für die Ukraine
Bei seiner Ankunft in München erläuterte er die Details des neuesten Hilfspaketes im Gegenwert von rund 1,1 Milliarden Euro. Deutschland sagt darin der Ukraine unter anderem noch in diesem Jahr die Lieferung weiterer 100 IRIS-T-Flugabwehrraketen und Artilleriemunition des Kalibers 122 Millimeter zu. Bis 2027 sollen je 18 weitere Panzer- und Radhaubitzen folgen. Die Geschütze sollen von der Industrie kommen. Die Bundeswehr selbst verfügt noch nicht über Radhaubitzen dieses Typs.
Im vergangenen Jahr hatte Pistorius in München von sich selbst als "Kind des Kalten Krieges" gesprochen. Deutschland, so der Minister damals, sei einst die Ostflanke der Nato gewesen. Die Bündnispartner hätten diese hierzulande gesichert. Nun sei es für ihn "selbstverständlich, dass wir Deutschen heute die gleiche Solidarität leben". Bezogen war die Aussage auf das deutsche Engagement entlang der Nato-Ostflanke, wo Bundeswehrsoldaten im Rahmen von Nato-Missionen eingesetzt sind.
Heereschef zieht gemischte Bilanz
Pistorius zweiter Auftritt auf der Sicherheitskonferenz fiel nun beinahe mit dem zweijährigen Jubiläum der "Zeitenwende" zusammen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte die entsprechende Rede am 27. Februar 2022 gehalten – drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. In diesem Zusammenhang hatte der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, in einem Social-Media-Post bemängelt, die Bundeswehr stehe "mehr oder weniger blank" da.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz zog Mais nun eine gemischte Bilanz: "Wir haben große Fortschritte gemacht, aber wir sind noch nicht am Ziel", sagte der Chef des deutschen Heeres im BR-Interview. Strukturen, Prozesse und Ausbildungen seien verändert, Beschaffungen beschleunigt worden.
Mais bat dennoch um Geduld. Das Sondervermögen "materialisiere" sich in Vertragsunterschriften. Eine Unterschrift bedeute aber nicht, dass das Material "am nächsten Tag schon auf dem Hof steht". Die Industrie brauche Zeit für die Produktion, Infrastruktur müsse gebaut und die Truppe entsprechend ausgebildet werden.
Unter anderem bei Drohnen: Fähigkeitslücken schließen
Auch im Hinblick auf die Fähigkeitslücken des Heeres käme man "schrittweise" voran, sagte Mais. Unter anderem fehlt es an Drohnen sowie an Einheiten, die diese abwehren können. Das Problem sei erkannt, "da ist hoher Druck drauf". Das beweise auch eine neu eingerichtete "Task Force" zu diesem Thema: "Wir müssen feststellen, es ist alles auf dem Markt verfügbar. Wir müssen nicht mehr viel Entwicklungszeit investieren. Nun geht es darum, Wege zu finden, wie Mittel dafür bereitgestellt werden können."
Während der Inspekteur Fortschritte betont, mahnen insbesondere Heereskreise beim Thema Flugabwehr mehr Tempo und klare Entscheidungen der Politik an. In der Ukraine zeigt sich täglich, wie Drohnen die Kriegsführung verändert haben.
In einem aktuellen Aufsatz schreibt der stellvertretende Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Andreas Marlow: "Für das Deutsche Heer ergeben sich aus dem Einsatz von Drohnen zwei Handlungsfelder. Zum einen müssen wir selbst Kleinstdrohnen als Mengenverbrauchsgut begreifen. Ausgehend von den hohen Verlustzahlen von Drohnen im Ukrainekrieg, müssen diese Kleinstdrohnen günstig und schnell verfügbar sein. Dieser Einkauf ähnelt dabei mehr dem von Munition als der Beschaffung neuer Waffensysteme."
"Entscheidendes Jahr" für Pistorius
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, sieht im Jahr 2024 ein "entscheidendes Jahr" für Verteidigungsminister Pistorius. Vor diesem liegen vier große Aufgaben, sagte Wüstner dem BR. Er müsse höhere Verteidigungsausgaben im Bundeshaushalt durchsetzen und gemeinsam mit anderen Ressorts den Kapazitätsaufbau der Rüstungsindustrie sowie den Weg in die Vollausstattung der Streitkräfte beschleunigen. Zudem sei entscheidend, wie er die Bundeswehr zeitnah auch strukturell "kriegstauglicher" machen will.
Auch bei dienstrechtlichen Fragen sieht Wüstner Handlungsbedarf, damit einerseits die Personalgewinnung und -bindung und andererseits die Aufstellung einer Heeresbrigade in Litauen so vorangehen kann, wie es die Bundesregierung den Nato-Partnern zugesagt hat. Dort soll ab dem Jahr 2027 ein einsatzbereiter Heeresverband mit etwa 4.800 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft stationiert sein. Erstmals in der deutschen Geschichte. Das Oberviechtacher Panzergrenadierbataillon soll Teil der Brigade werden.
Bislang tauscht Deutschland die deutlich kleineren Verbände in Litauen nach jeweils sechs Monaten im Rotationsprinzip aus.
"Abschreckung heißt nicht, etwas vorhaben. Abschreckung heißt, etwas haben"
Der ehemalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) argumentierte auf der Münchner Sicherheitskonferenz ähnlich. Die Bundeswehr müsse wieder als Ganzes einsatzbereit werden und entsprechend organisiert sein. Die Zeit für die Ampelregierung dränge. Es gehe nicht mehr um "kleine Kontingente für Afghanistan oder Mali, sondern um die ganze Bundeswehr. Sie muss heute wieder wie zu Zeiten des Kalten Krieges kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen", sagte Bartels dem BR. "Abschreckung heißt, nicht etwas vorhaben. Abschreckung heißt, etwas haben."
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