Der Ausbau der Windkraft in Bayern ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. In den ersten drei Quartalen 2021 wurden im gesamten Freistaat nur acht Windräder mit einer Gesamtleistung von 26,9 Megawatt in Betrieb genommen. Auf dem Höhepunkt der Windkraftkonjunktur in Bayern im Jahr 2017 dagegen waren es im gleichen Zeitraum noch mehr als zehn Mal so viel, nämlich 299,2 Megawatt.
10H-Regel erschwert viele Genehmigungen
Umstritten sind die Gründe für diesen Rückgang. SPD und Grüne machen die 10H-Regel dafür verantwortlich: Sie schreibt vor, dass ein Windrad mindestens einen Abstand vom zehnfachen seiner Höhe zur nächsten Siedlung einhalten soll. Ansonsten verliert das Bauvorhaben die so genannte "Privilegierung im Außenbereich". Das heißt: Dann muss die zuständige Kommune einen neuen Bebauungsplan für das entsprechende Gelände erstellen, der die Windkraft eigens vorsieht. Das erfordert einen vor allem für kleine Gemeinden erheblichen bürokratischen Aufwand.
Weil moderne Windräder im Binnenland mehr als 200 Meter hoch sind, bedeutet 10H normalerweise eine Entfernung von mehr als zwei Kilometern bis zur nächsten Siedlung. Diesen Abstand einzuhalten, ist im dicht besiedelten Bayern nur an wenigen Stellen möglich. Das hat eine Untersuchung der Münchner Forschungsstelle für Energiewirtschaft gezeigt. Und die verbleibenden Standorte liegen, so das Ergebnis der Studie, "meist in ökologisch wertvollen Regionen und weisen zudem einen besonders geringen Ertrag auf".
CSU: Mit Bürgerbeteiligung geht es trotzdem
Die CSU dagegen weist darauf hin, dass Windräder auch näher an Wohnhäusern gebaut werden können, wenn die Gemeinde eine Bauleitplanung dafür erlässt. Durch 10H sei lediglich garantiert, dass die Bürgerinnen und Bürger vor Ort genug Mitspracherecht haben. "Dieses Gesetz ist kein Windkraftverhinderungsgesetz, sondern ein Bürgerbeteiligungsgesetz", hatte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) bei der Verabschiedung 2014 im Landtag gesagt.
Dass der Ausbau der Windenergie sich verlangsame, sei ein bundesweites Phänomen mit bundesweiten Ursachen, argumentiert die CSU. Sie verweist auf Artenschutzbestimmungen, die Windräder auch außerhalb Bayerns oft verhindern würden - und auf häufige Klagen von Windkraftgegnern. Zudem leide Süddeutschland bei den inzwischen verpflichtenden Ausschreibungen für neue Windräder unter einem Wettbewerbsnachteil, weil hier weniger Wind weht als in Norddeutschland. Kurz, laut CSU-Fraktion bremst nicht die 10H-Regel den Ausbau der Windkraft, sondern andere Ursachen.
Agentur untersucht Auswirkungen von 10H
Die Fachagentur Windenergie an Land e.V., ein Verein, der unter anderem Bund, Länder und die kommunalen Spitzenverbände zu seinen Mitgliedern zählt, hat auf Anfrage des #Faktenfuchs die Auswirkungen der 10-Regel auf die Windkraft in Bayern ausgewertet. Betrachtet wird dabei die Anzahl der Anträge auf Genehmigung von Windrädern im Freistaat vor und nach dem 4. Februar 2014. Dies war bei Erlass der 10H-Regel der Stichtag für den Bestandsschutz: Wer sein Projekt vorher beantragt hatte, musste 10H nicht beachten.
Zum 10H-Stichtag brachen die Genehmigungen um 90 Prozent ein
Der Unterschied ist gewaltig: Im Zeitraum Januar 2010 bis Februar 2014 – also vor 10H – wurden in Bayern durchschnittlich 22,1 Windenergieanlagen pro Monat beantragt. In der darauffolgenden Zeit, konkret von März 2014 bis März 2021, waren es nur noch 2,6 Anlagen pro Monat. Also: Nach dem 10H-Stichtag sank die Zahl der Anträge für Windräder in Bayern dauerhaft um fast 90 Prozent, wie diese Grafik verdeutlicht:
Welchen Einfluss hatte die Ausschreibungspflicht?
Die Frage ist nun, welche anderen Faktoren möglicherweise zu diesem Rückgang beigetragen haben könnten. Vielleicht die Einführung von Ausschreibungen für Windenergie, wie die CSU argumentiert?
2017 hat die Große Koalition im Bundestag die festen Einspeisevergütungen für Windkraftstrom deutschlandweit abgeschafft. Seitdem muss sich jeder Betreiber, der Windräder bauen will, an Ausschreibungen der Bundesnetzagentur beteiligen. Dabei bekommt den Zuschlag, wer den Strom am billigsten liefert. Durch einen Korrekturfaktor soll dabei die unterschiedliche Windhöffigkeit der verschiedenen Standorte ausgeglichen werden.
Haben Projekte im relativ windarmen Bayern beim Preiswettbewerb trotzdem einfach den Kürzeren gezogen?
Der Einbruch in Bayern kam schon vorher
Dagegen spricht, dass diese Ausschreibungen erst ab dem Jahr 2017 verpflichtend wurden. Der Einbruch bei den Anträgen auf Windkraftanlagen in Bayern zeigte sich jedoch bereits drei Jahre früher, 2014. Zu diesem Zeitpunkt war eine Ausschreibungspflicht noch kein Thema.
Einen weiteren Hinweis darauf, dass es nicht die Ausschreibungspflicht war, die den Windkraftausbau in Bayern so stark gebremst hat, liefert der Blick auf das Jahr 2016. In fast allen anderen Bundesländern herrschte damals bei den Windkraftinvestoren so etwas wie Torschlusspanik: Sie wollten noch möglichst viele Projekte unter der alten Regelung beantragen, bei der das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) für den Windstrom noch eine feste Einspeisevergütung durch die Netzbetreiber garantierte. Im Vergleich zum Schnitt der drei Vorjahre stieg die Zahl der Anträge auf Windräder 2016 laut Fachagentur Windenergie bundesweit um 69 Prozent. In Bayern dagegen sank die Zahl der Anträge, völlig gegen den Trend, um 39 Prozent. Dieses große Minus – und zwar eben, bevor Ausschreibungen Pflicht wurden – zeigt, dass es nicht die Ausschreibungspflicht war, die den Windkraftausbau in Bayern abgebremst hat.
Rheinland-Pfalz hat viermal so viele Windräder genehmigt
Auch in den Jahren danach änderte sich die Situation für die Windkraft in Bayern nicht. Im Freistaat wurden seit 2017 nach Angaben der Fachagentur Windenergie 37 Windräder neu genehmigt. Das kann man mit zwei anderen ebenfalls süddeutschen Bundesländern vergleichen, in denen die Windbedingungen ähnlich sind: In Baden-Württemberg, von der Fläche nur halb so groß wie Bayern, wurden im gleichen Zeitraum 69 Anlagen genehmigt. Rheinland-Pfalz, mit nicht einmal einem Drittel der Fläche Bayerns, genehmigte sogar 147 Windräder.
Wenig Wettbewerb bei Ausschreibungen
Ein weiteres Argument, das dagegenspricht, dass die Ausschreibungen der Grund für den Rückgang beim Windkraftausbau in Bayern sind: Mehr als zwei Drittel aller Ausschreibungsrunden für Windkraft, die seit 2017 stattfanden, waren unterzeichnet. Das heißt: Es wurde weniger Windkraftleistung angeboten, als nachgefragt war. Egal zu welchem Preis der Windstrom angeboten wurde, es bekamen alle Projekte einen Zuschlag, auch die aus Bayern.
Allerdings sind in den vergleichsweise wenigen Ausschreibungen mit wirklichem Wettbewerb durchaus auch bayerische Projekte durchgefallen. Wie aus der Antwort des Wirtschaftsministeriums auf eine Landtagsanfrage des Grünen-Abgeordneten Martin Stümpfig hervorgeht, haben von insgesamt 41 bayerischen Windkraftprojekten, die bisher an Ausschreibungen teilnahmen, 14 keinen Zuschlag bekommen. Zehn der Ablehnungen fallen allerdings ins Anfangsjahr der Ausschreibungen 2017. Damals herrschten Sonderbedingungen, weil auch Interessenten mitbieten durften, die für ihr Windrad noch gar keine Baugenehmigung hatten – viele dieser Projekte wurden in Wirklichkeit nie gebaut. Das wurde danach als Fehler erkannt und abgeschafft. Nach diesem Ausnahmejahr sind bei den Ausschreibungen nur noch wenige bayerische Windkraftprojekte gescheitert.
Kein bayerisches Windkraftprojekt wartet auf einen Zuschlag
Nach Angaben des bayerischen Landesverbands Windenergie wartet derzeit in Bayern kein einziges baureifes Windradprojekt mehr auf einen Zuschlag der Bundesnetzagentur. Demnach würde die CSU-Argumentation, die Konkurrenz in den Ausschreibungen sei der Grund für die bayerische Windkraftflaute, ins Leere laufen.
Das bayerische Wirtschaftsministerium vermutet allerdings, das Risiko der Ausschreibung habe dazu beigetragen, dass Projektentwickler sich an neue Standorte gar nicht erst herangewagt hätten. Zumal an Standorten mit einem niedrigeren Windangebot wie in Bayern. Auf Initiative unter anderem der bayerischen Staatsregierung wird ab 2022 die Ausgangslage für bayerische Standorte bei den Ausschreibungen allerdings weiter verbessert. Dann gilt eine sogenannte Südquote: Ein Anteil von zunächst 15 Prozent der ausgeschriebenen Leistung ist dadurch für Windkraftstandorte in Süddeutschland reserviert.
Besonders viele Windkraft-Klagen in Bayern
Was ist aber mit den weiteren Hindernissen für Windkraft neben 10H, die bundesweit wirken? Das bayerische Wirtschaftsministerium nennt hier Klagen gegen Windkraftanlagen. In Bayern wurden Projekte im Bundesvergleich besonders häufig vor Gericht angefochten, wie aus einer Umfrage der Fachagentur Wind aus dem Jahr 2019 hervorgeht. 42 Prozent der in Bayern geplanten Windräder wurden damals zum Ziel einer Klage, mehr als doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt (20 Prozent). Besonders oft wurden Klagen demnach aufgrund des Artenschutzes angestrengt, weitere wichtige Gründe waren der Lärm- sowie Denkmalschutz. Das zeigt, dass auch rechtliche Hürden den Ausbau der Windkraft bremsten.
Flugverkehr behindert Windkraftausbau bundesweit
Ein weiteres Hindernis für Windenergieprojekte sind Einschränkungen durch den Flugverkehr. Nach Angaben des bayerischen Wirtschaftsministeriums werden derzeit 20 geplante Windkraftanlagen im Freistaat wegen zu großer Nähe zu veralteten Funkfeuern blockiert, diese Situation soll sich – so eine Ministeriumssprecherin - jedoch in absehbarer Zeit durch die Modernisierung dieser Flugzeugnavigationsanlagen verbessern.
Tiefflugkorridore und Wetterradare sind ein weiteres allgemeines Problem, das die Windkraft in Bayern genauso wie im restlichen Bundesgebiet betrifft. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, diese Konflikte möglichst auszuräumen. Auch Artenschutzregeln, die beim Bau von Windrädern beachtet werden müssen und häufig zu Klagen führen, sollen reformiert werden. Außerdem will die Bundesregierung festlegen, dass Erneuerbare-Energien-Anlagen "im öffentlichen Interesse" sind, da sie der Versorgungssicherheit dienen. Das soll deren Genehmigung erleichtern.
Wirtschaftsministerium bezahlt "Windkümmerer"
In Bayern soll ein seit Ende 2019 laufendes Unterstützungsprogramm des bayerischen Wirtschaftsministeriums die Situation der Windkraft verbessern. Dabei sollen sogenannte Windkümmerer Kommunen darin unterstützen, das durch 10H kompliziertere Genehmigungsverfahren für Windräder zu bewältigen. 40 Projekte nehmen daran teil. Vollendet ist bisher keines davon.
Außerhalb Bayerns erholt sich die Windkraft bereits
Von einem Aufholen des Windkraftausbaus in Bayern gegenüber dem Rest des Bundesgebiets kann jedoch bisher keine Rede sein. Im Gegenteil: Bundesweit hat der Windkraft-Ausbau zuletzt an Fahrt aufgenommen, die Zubau- und Genehmigungszahlen sind gestiegen. Der Anteil Bayerns daran ist jedoch sehr gering: In den ersten drei Quartalen 2021 wurden in Deutschland 638 Windräder genehmigt, davon sechs in Bayern. Abgesehen von den Stadtstaaten liegt Bayern damit in der Statistik ganz hinten, obwohl es das größte Bundesland ist. Selbst das kleine Saarland verzeichnet mehr Genehmigungen, nämlich sieben.
Fazit
Es spricht sehr viel dafür, dass die 10H-Regel die wichtigste Ursache für den Zusammenbruch des Windenergie-Zubaus in Bayern ist. Zwar gibt es auch weitere, bundesweit wirksame Hemmnisse, etwa rechtliche Auflagen. Sie haben dazu geführt, dass auch deutschlandweit weniger Windräder neu gebaut wurden. Der starke Rückgang von Windkraft-Anträgen im Freistaat fällt jedoch zeitlich genau mit der Einführung der Mindestabstandsregel zusammen. Er kam früher und fiel stärker aus als im restlichen Bundesgebiet. Und die jüngste Erholung des Windkraft-Ausbaus geht bisher an Bayern vorbei. Der Rückgang des Windkraft-Ausbaus in Bayern beginnt mit Einführung der 10H-Regel. Der Schluss liegt nahe, dass dieser zeitliche Zusammenhang zugleich ein kausaler ist.
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