Update: 11.07. 11:45: Dieser Artikel wurde im Januar 2024 veröffentlicht. Inzwischen hat sich die Lage geändert. Wie BR24 am 10.07. berichtete, wollen die USA ab 2026 zeitweilig weitreichende Waffensysteme in Deutschland stationieren. Wo genau ist noch nicht bekannt. Die Rede ist von Marschflugkörpern des Typs Tomahawk, in Entwicklung befindlichen Überschall-Waffen und sogenannten SM-6-Raketen.
Darum geht’s:
- In sozialen Netzwerken verbreitet sich die Behauptung, die US-Streitkräfte wollten auf dem US-Truppenübungsplatz Grafenwöhr "Hyperschallraketen" installieren. Zugleich ist auch von "Tomahawks" die Rede.
- Diese könnten angeblich binnen zehn Minuten Moskau erreichen. Dadurch gerate Deutschland in den Fokus des russischen Militärs.
- Das verneinen Sprecher der US-Streitkräfte und der Bundeswehr. Auch Militärexperten halten das für unrealistisch. Denn die USA sind nach allem, was man weiß, bisher nicht im Besitz von neuen Hyperschallwaffen. Tomahawk hingegen sind gar keine Hyperschallwaffen.
Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine diskutiert Deutschland darüber, ob und welche Waffen die Bundesrepublik der Ukraine liefern soll. In der Debatte kommt immer wieder eine Befürchtung auf: Dass Deutschland durch die Waffenlieferung an die Ukraine selbst zur Kriegspartei werden könne.
Diese Sorge wird regelmäßig durch Falschbehauptungen genährt. Seit Ende Januar verbreitet sich eine solche zum Nato-Truppenübungsplatz in Grafenwöhr: Angeblich wolle das US-Militär dort neuartige Waffen stationieren, die Deutschland in den Fokus des russischen Militärs rücken lassen. Weil der Übungsplatz von der US-Armee verwaltet wird und als militärisches Sperrgebiet nicht öffentlich zugänglich ist, werde er leicht zum Gegenstand von Verschwörungserzählungen, sagt der Fachjournalist Thomas Wiegold, der auf seinem preisgekrönten Blog augengeradeaus.net über Verteidigungs- und Sicherheitspolitik schreibt.
Auf X und Instagram kursiert seit mindestens dem 22. Januar eine Video-Montage, in der zunächst Archivbilder von einem Flugkörper zu sehen sind. In der Tonspur behauptet eine automatische Stimme, dass in Grafenwöhr in der Oberpfalz amerikanische "Überschallraketen" stationiert werden sollen. Dann spricht ein ehemaliger Bundestags-Abgeordneter der Linken. Er behauptet, der Truppenübungsplatz in Grafenwöhr werde "aus der deutschen Gesetzlichkeit ausgegliedert und den USA sozusagen als exterritoriales Gebiet überstellt (...)". Nun sollten dort angeblich "Hyperschallraketen" - "zwölffach schneller als der Schall" - stationiert und nach Moskau ausgerichtet werden. Diese Waffen, die der ehemalige Abgeordnete dann als "Tomahawk" beschreibt, könnten in zehn Minuten Moskau erreichen. Deutschland werde so zum Ziel der russischen Luftabwehr.
Das Video enthält mehrere Falschaussagen. Der #Faktenfuchs hat diese im Gespräch mit der US-Armee in Grafenwöhr und der Bundeswehr sowie dem Militärexperten Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr München, dem unabhängigen Fachjournalisten Thomas Wiegold und dem Völkerrechtler Maximilian Bertamini überprüft.
Zu welchem Staatsgebiet gehört der Truppenübungsplatz Grafenwöhr?
Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr ist eindeutig deutsches Staatsgebiet. Er wird zwar von der US-Armee verwaltet, Grund und Boden sind trotzdem deutsch. In Grafenwöhr bildet übrigens nicht nur das US-amerikanische Militär Soldaten aus - auch die Bundeswehr und andere Nato-Staaten trainieren hier an verschiedenen Waffensystemen.
Oberstleutnant Florian Rommel, Deutscher Militärischer Vertreter der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr, erklärt die rechtlichen Rahmenbedingungen per Mail: "Der Übungsplatz ist den US-Streitkräften zur ausschließlichen Nutzung überlassen, es gelten die Regeln des Nato-Truppenstatuts mit seinen Zusatzabkommen (die aber auch für die Bundeswehr gelten, wenn sie in anderen Nato-Ländern stationiert ist). Gemäß diesem Statut haben die US-Streitkräfte deutsches Recht zu achten."
Auch wenn das Gebiet zur "ausschließlichen Nutzung" überlassen wurde, haben die USA gemäß einer Verwaltungsvereinbarung aus dem Jahr 1993 das Recht, auch Streitkräften aus Partnerstaaten die Nutzung des Übungsplatzes zu erlauben - wovon sie wie oben geschildert auch Gebrauch machen.
Dass der Truppenübungsplatz deutsches Staatsgebiet ist, bestätigt auch Maximilian Bertamini, Völkerrechtler an der Ruhr-Universität Bochum. Die Nutzung durch die US-Streitkräfte sei nur solange und soweit zulässig, wie Deutschland damit einverstanden ist. Ein "Quäntchen Wahrheit" stecke jedoch in dem Video, sagt Bertamini: Auf dem Truppenübungsplatz gelte zwar grundsätzlich deutsches Recht. Üblicherweise verzichte der Empfangsstaat (d.h. Deutschland) bei solchen Überlassungen aber darauf, seine Hoheitsgewalt auch auszuüben. Das sei auch so, wenn die Bundeswehr Soldaten im Ausland stationiert. Es gibt in Grafenwöhr deshalb auch eine eigene Militärpolizei der Amerikaner, die etwa eingreift, wenn ein Soldat betrunken Auto fährt.
Sollen in Grafenwöhr Hyperschallwaffen stationiert werden?
Auf Nachfrage von BR24 erklärt ein Sprecher der Bundeswehr, dass in Grafenwöhr überhaupt keine Systeme stationiert seien, die andere Länder erreichen können. Auch der Sprecher der US-Armee bekräftigt, dass weder "Tomahawk" noch Über- oder Hyperschallwaffen auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr stationiert sind. Beides sei auch nicht geplant. Und: "Bei einer Aufstellung solcher Waffensysteme in Deutschland müsste die Bundesregierung zustimmen."
Die Begrifflichkeiten gehen in dem Video allerdings wild durcheinander. Denn der Ex-Abgeordnete spricht zwar von "Hyperschallraketen" - der Begriff wird im öffentlichen Diskurs aber häufig ungenau verwendet. Das war auch schon so, als Russland im Ukraine-Krieg mit der "Kinschal" eine angebliche "Hyperschall-Rakete" einsetzte. Der Begriff "Hyperschall-Raketen" ist verwirrend, denn auch herkömmliche Raketen erreichen über kurze Strecken Hyperschallgeschwindigkeit, wenn sie am Ende ihrer parabelförmigen Flugbahn auf ihr Ziel zufliegen.
Daneben wird seit einigen Jahren viel über neue Hyperschallwaffen diskutiert, die aus eigenem Antrieb über längere Strecken mit Hyperschall-Geschwindigkeit fliegen können - sogenannte Hyperschall-Gleitflugkörper und Hyperschall-Marschflugkörper (zu den Unterschieden gleich mehr). Auf diese neuartigen Waffen scheint sich der Ex-Politiker im Video zu beziehen. Nach Kenntnisstand der Experten arbeiten die USA an der Entwicklung solcher Waffen, verfügen aber - anders als etwa die Russen - bisher nicht über ein einsatzfähiges Modell: Erst im September 2023 mussten die US-Streitkräfte einen Test der Hyperschallwaffe "Dark Eagle" erfolglos abbrechen. Russland dagegen hat schon Ende 2019 bekannt gegeben, mit dem "Avangard" über einen einsatzfähigen Hyperschall-Gleitflugkörper zu verfügen.
Schließlich ist im Video auch noch von "Tomahawk" die Rede. Diese herkömmlichen Marschflugkörper fliegen nicht einmal mit Schallgeschwindigkeit und erreichen in den von den Amerikanern genutzten Varianten gar nicht die Distanz, um von Grafenwöhr nach Moskau zu fliegen, wie Frank Sauer, Privatdozent an der Bundeswehruniversität München, dem #Faktenfuchs am Telefon erläutert. Auch Thomas Wiegold sagt: "In Bayern Marschflugkörper hinzustellen, die Polen und vielleicht dann noch ein bisschen von Belarus erreichen können, das ist relativ unsinnig."
Und: Es gebe gar keinen Grund für die Amerikaner, entgegen den Absprachen dort heimlich Waffen zu stationieren, die Russland erreichen können, sagt der Militärexperte Frank Sauer. Denn die US-Armee verfüge auch jetzt schon über viele andere Waffensysteme, mit denen sie Moskau jederzeit bombardieren könnten.
💡 Überblick verschiedene Waffensysteme
Überschall- oder Hyperschallraketen: Fast alle ballistischen Raketen, die seit dem Zweiten Weltkrieg im Einsatz sind, erreichen Über- bzw. Hyperschall-Geschwindigkeit. "Ballistische Raketen" sind Raketen, die Sprengköpfe transportieren und deren Flugbahn im Wesentlichen einer Wurfparabel folgt. Von "Überschall" spricht man, wenn sich ein Objekt etwa ein-, zwei- bis fünfmal schneller als der Schall bewegt (mit 1.482 bis 6.174 Kilometern pro Stunde). "Hyperschall-Geschwindigkeit" ist noch schneller, nämlich mehr als das fünffache der Schallgeschwindigkeit.
Hyperschallwaffen: Daneben wird seit einiger Zeit über neuartige Hyperschallwaffen diskutiert. Sie gliedern sich in zwei Typen:
- Sogenannte Hyperschall-Gleitflugkörper werden von einer Rakete in der Luft abgesetzt. Der Flugkörper gleitet dann durch aerodynamischen Auftrieb mit dem Zwanzigfachen der Schallgeschwindigkeit zum Ziel.
- "Hyperschall-Marschflugkörper": Als "Marschflugkörper" werden Waffen bezeichnet, die über einen eigenen Antrieb verfügen. Im Gegensatz zu Raketen fliegen sie sehr viel niedriger, können genauer auf ein Ziel zusteuern und ihre Richtung im Flug ändern. Um als zu gelten, müssten die Marschflugkörper über einen längeren Zeitraum mit Hyperschall-Geschwindigkeit fliegen können.
Tomahawk sind herkömmliche Marschflugkörper der US-Streitkräfte, die vom Boden, von der See oder aus der Luft abgefeuert werden können. Tomahawks kann man sich wie kleine unbemannte Flugzeuge vorstellen. Sie können Hindernissen eigenständig ausweichen und im Flug die Zielrichtung ändern. Meist fliegen sie in niedrigen Höhen von nicht mehr als 100 Metern und sind deshalb schwer zu orten. Sie fliegen allerdings nicht schneller als ein Verkehrsflugzeug - also nicht einmal annähernd mit Schallgeschwindigkeit.
Rückt Deutschland in den Fokus des russischen Militärs?
Die Raketen in Grafenwöhr gibt es also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Insofern rückt Deutschland dadurch auch nicht verstärkt in den Fokus der russischen Streitkräfte. Eine faktische Bedrohungslage durch Russland gebe es in Deutschland aber ohnehin schon länger, betonen die Experten. Denn schon 2018 wurde bekannt, dass Russland Iskandar-Raketen in der Exklave Kaliningrad stationiert hat. Diese könnten, so Wiegold, Berlin in vier Minuten erreichen. Sauer spricht von sieben Minuten, weist aber ebenfalls darauf hin.
Das Fazit
Es gibt keinerlei Belege dafür, dass auf dem Truppenübungsplatz in Grafenwöhr Hyperschallwaffen oder sogenannte Tomahawk-Marschflugkörper stationiert werden sollen. Das dementieren sowohl ein Sprecher der US-Armee als auch sein Kollege von der Bundeswehr in Grafenwöhr. Auch ein Militärexperte und ein unabhängiger Fachjournalist halten das für höchst unwahrscheinlich. Denn: Die USA verfügen gar nicht über die Hyperschallwaffen, die der Sprecher im Video beschreibt. Marschflugkörper vom Typ "Tomahawk" wiederum könnten Moskau in den von den USA genutzten Varianten gar nicht erreichen und flögen nicht einmal mit Schallgeschwindigkeit. Laut dem Militärexperten könnten die USA Moskau außerdem jederzeit mit anderen Waffen erreichen. Dafür müssten keine Waffen heimlich und entgegen geltenden Verträgen nach Grafenwöhr verlegt werden.
Transparenzhinweis, 31.01.2024, 13.50 Uhr: In einer ersten Version des Artikels stand, dass ballistische Raketen keinen eigenen Antrieb haben. Das ist falsch. Wir haben den Fehler korrigiert.
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