Die Vorwürfe haben es in sich: Es sei skandalös, was gerade landauf, landab mit der Bildung unserer Kinder passiere, heißt es in einem Brandbrief. "Unausgebildete Amateure überfluten die vorschulischen Bildungseinrichtungen." Jetzt sei es für diejenigen, die sich um das Wohl des Kindes sorgen, an der Zeit, aufzustehen und zu sagen: "So geht's nicht!", findet Timo Meister, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft katholischer Erziehungsstätten und Initiator des Brandbriefs.
Qualität bei der Kinderbetreuung sinkt noch weiter
Doch was ist es, was die Gemüter der Fachakademien und Berufsfachschulen dermaßen erhitzt? Es ist die vom bayerischen Sozialministerium ins Leben gerufene sogenannte modulare Weiterbildung für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger. In drei Modulen kombiniert mit Praxisstunden können sich Interessierte seit Herbst 2022 zu sogenannten Assistenz-, Ergänzungs- und schließlich Fachkräften in Kindertagesstätten weiterbilden. BR24 hatte kürzlich darüber berichtet, dass diese Weiterbildung gut angenommen wird und beispielsweise bei der Diakonie Rosenheim eine große Nachfrage besteht.
Doch die Kritik an der Weiterbildung wird immer lauter. Die Kritikpunkte im Brandbrief der Fachakademien sind vielfältig. Die vom bayerischen Sozialministerium entwickelte Weiterbildung für Quereinsteiger sei viel zu kurz, inhaltlich zu abgespeckt und zu schwach. Die Quereinsteiger könnten in dieser Zeit nicht die erforderlichen Qualifikationen und Erfahrungen erwerben.
Die Kinder würden in den Kitas dann nur noch betreut und aufbewahrt, nicht aber erzogen und gebildet, heißt es beispielsweise in dem offenen Brief, der auch an die bayerische Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) adressiert ist.
Das Niveau in bayerischen Kitas sei jetzt schon das niedrigste in ganz Deutschland, kritisiert Mario Schwandt, Gewerkschaftssekretär bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayern (GEW), die sich auch am Brandbrief beteiligt hat. Es sei absurd, als Schlusslicht in Deutschland jetzt noch eine Weiterbildung für Quereinsteiger zu machen, bei der "dann die Assistenzen der Assistenzen ausgebildet werden", empört sich Schwandt im Interview mit BR24.
Fachleute monieren: Expertise werde nicht berücksichtigt
Die Fachakademien und Berufsfachschulen fühlen sich zudem vom Sozialministerium übergangen. Ihre Expertise wurde und werde nicht gehört, finden sie. Die Weiterbildungskurse werden von sogenannten Multiplikatoren geleitet, die extra dafür vom Sozialministerium ausgebildet werden.
Ein weiterer Kritikpunkt: Bei den drei Modulen der Weiterbildung finden keine zentralen Prüfungen nach verbindlichen Standards statt. Die Multiplikatoren, die ihre Kurse gegen Bezahlung anbieten, sind gleichzeitig auch diejenigen, die die Prüfungen abnehmen. Mario Schwandt von der GEW hofft wie all die anderen Unterzeichner des Briefes, dass das Sozialministerium die modulare Weiterbildung verbessert und die Kritik ernst nimmt.
Sozialministerin Scharf will Kritik ausräumen
Ernst nehmen will die bayerische Sozialministerin Ulrike Scharf die Kritik freilich schon. Sie möchte aber auch Vorwürfe ausräumen. Denn für sie, so erklärt sie im Interview mit BR24, sei vieles an der Kritik fachlich falsch und lasse auf Unwissenheit schließen. Die Qualität in der Kinderbetreuung habe für sie selbstverständlich oberste Priorität. Ulrike Scharf findet aber, die modulare Weiterbildung sei ein großer Erfolg, denn mehr als 5.600 zusätzliche Kräfte seien dadurch schon für die bayerischen Kitas gewonnen worden. Die scharfe Kritik der klassischen Ausbildungsstätten weist die Sozialministerin zurück:
"Ich glaube, man muss hier ganz klar differenzieren. Dieses Gesamtkonzept ist eine Weiterbildung, es handelt sich nicht um eine Erstausbildung. (...) Wer nach einem Schulabschluss meist mit 16, 17 Jahren eine Erstausbildung macht, ist ein anderer Personenkreis, als diejenigen, die bereits nach einer Ausbildung, vielleicht auch nach einer Familienphase oder auch nach dem Wunsch, sich umorientieren zu wollen, in die Weiterbildung einsteigen." Ulrike Scharf, Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales
Die Kritik, die Weiterbildung sei eine reine Sparmaßnahme, um die Fehler der Vergangenheit wenigstens einigermaßen auszubügeln, hält Scharf für "total unbegründet". Auch bei der klassischen Ausbildung habe sich viel getan, sagt sie. Beispielsweise seien die Fachakademien in Bayern von 49 auf 73 angewachsen.
Diakonie-Vorstand verweist auf enormen Bedarf an Fachkräften
Dennoch reichen die Absolventen der klassischen Ausbildung bei Weitem nicht aus. Das stellt auch Andreas Dexheimer, Vorstand der Diakonie Rosenheim, fest. Seine Einrichtung bietet die Weiterbildung für Quereinsteigerinnen an und stellt in ihren Kitas auch Absolventen dieser Kurse ein. Dexheimer kann die Kritik im Brandbrief nicht nachvollziehen. Es gebe einen riesigen Bedarf an Personal für Kitas, der durch die klassischen Ausbildungsstätten nicht gedeckt werden könne.
Dexheimer findet es schade, dass Ausbildungen gegeneinander ausgespielt und Konkurrenzen aufgebaut werden, die seiner Meinung nach überhaupt nicht notwendig sind. Er scheue sich davor, von besser oder schlechter qualifizierten Kita-Kräften zu sprechen, betont er.
Die Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger bekommen seiner Meinung nach bei der Weiterbildung eine fundierte theoretische Ausbildung. Und sie bringen bereits Wissen aus ihrer ersten Ausbildung mit, haben einiges an Lebenserfahrung gesammelt. Dexheimer findet, dass die Weiterbildung nicht schlechter sei – nur eine andere Form der Ausbildung. Und er spricht aus seiner täglichen Erfahrung, was die Kräfte in den Kitas angeht: "Brauchen tun wir sie wirklich alle."
Weiterbildung wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert
Ulrike Scharf will den Brandbrief der Fachakademien beantworten und sich die modulare Weiterbildung "nicht schlechtreden" lassen. Im Interview mit BR24 weist sie auch darauf hin, dass das Gesamtkonzept engmaschig wissenschaftlich begleitet und evaluiert werde. Mit all diesen Daten sei das Ministerium "immer offen und bereit dazu", sich weiterzuentwickeln.
Das würde die klassischen Ausbildungsstätten sicherlich freuen. Denn auch sie betonen, sie seien weiterhin offen, ihre Expertise einzubringen. Und so – da sind sich Timo Meister und Mario Schwandt einig – gemeinsam mit dem Sozialministerium die dringend notwendigen Kräfte für Kindertagesstätten aus- und weiterzubilden.
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