Report München


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Bürokratie-Nation Deutschland So schlimm wie jetzt war es noch nie

Seit Jahrzehnten versprechen Politiker, Bürokratie abzubauen. Der Normenkontrollrat kam nun aber zum Schluss: So hoch wie jetzt waren die Bürokratiekosten noch nie in Deutschland. Bürger verzweifeln an widersinnigen Vorgaben, Unternehmer wissen nicht, wie sie Zusatzkosten noch stemmen sollen. Und die Auflagen nehmen immer weiter zu.

Von: Ulrich Hagmann

Stand: 27.11.2023

Sind diese vorverpackten Weihnachtsplätzchen illegal? Verstoßen sie gar gegen Kennzeichnungspflichten und Verpackungsverordnungen? Das Weihnachtsgeschäft ist für den Münchner Bäckermeister Ludwig Neulinger und sein Team eine bürokratische Gratwanderung.  Den Lieferanten Weihnachtsplätzchen schicken geht leider nicht.

"Wenn wir das jetzt außerhalb jemanden schicken würden, dann wird wieder alles fehlen. Da müssten wir jetzt für eins, zwei, drei, vier, fünf Plätzchen die Inhaltsstoffe draufdrucken. Dann müssten wir für fünf Plätzchen jeweils die Nährwerttabelle draufdrucken und selbstverständlich das Mindesthaltbarkeitsdatum. Das wäre ich denke etwas größer, als diese ganze Packung ist."

 Gabriele Kiesewetter, Betriebswirtin Bäckerei Neulinger

Das Geschäft brummt zu Weihnachten beim Münchner Bäcker mit seinen 100 Angestellten und 5 Filialen. Jetzt ist Hochsaison für Süßes.

Kein Plätzchenverkauf ohne Zutatenliste

Doch das Verpacken ist problematisch geworden, seit Inhaltsangaben auch von Handwerksbetrieben verlangt werden. Vorverpackte Ware darf ohne Angaben über die Theke verkauft werden. Vorrausetzung: Im Laden liegt eine Zutatenliste aus. Diese Liste aktuell zu halten: Eine Herkulesaufgabe im Weihnachtsgeschäft.

"Ich bin tatsächlich erst zu einem Drittel fertig. Wir bemühen uns redlich, aber es ist echt viel Arbeit."

Gabriele Kiesewetter, Betriebswirtin Bäckerei Neulinger

Und sie weiß, die viele Arbeit ist eigentlich überflüssig

"Wer macht sich die Mühe und blättert in 18 Seiten? Und vielleicht ich weiß gar nicht, wie oft die wirklich gebraucht wird. Aber wir müssen sie haben und immer aktuell, immer aktuell."

Gabriele Kiesewetter, Betriebswirtin Bäckerei Neulinger

Sie werden überrollt von immer neuen Vorschriften, Dokumentationspflichten. Alleine in diesem Jahr kamen fünf neue dazu. Der Bäckermeister reagiert mit stoischer Gelassenheit.

"Es gibt keinen Bürokraten, der absichtlich was macht, weil er sagt, dem Handwerker, dem will ich mal ordentlich die Hände binden, damit er nicht übermütig wird. Ich denke, das hat alles einen realen Hintergrund. Aber in der in der Praxis ist es dann so, dass es oft absurd ist."

Ludwig Neulinger, Bäcker- und Konditormeister

Killen die Vorschriften den Karneval? 

Selbst im rheinischen Karneval gibt es Probleme. Die Narren in Mülheim-Kärlich verstehen die Welt nicht mehr. Dieser Karnevalswagen ist bürokratisch betrachtet ein erhebliches Sicherheitsrisiko. Vollbesetzt mit feiernden Narren. Der Karneval sei sehr gefährlich und deswegen müssen Karnevalswagen zum TÜV. Nicht nur einmal, sondern regelmäßig.

"So eine Vorführung beim TÜV, die macht man nicht mal gerade nebenbei. Ich muss einen zweiten Mann noch haben. Ich brauche ein Begleitfahrzeug mit einer rundum Lampe hinter mir. Ich brauche die Zugmaschine. Zwei Mann müssen frei machen, weil ich mache das ehrenamtlich, ich kriege dafür keinen Urlaub von meinem Chef."

Uwe Unkelbach, NCV Lahnstein

Sie opfern ihre Freizeit und stöhnen unter verschärften Auflagen. Für den nächsten Umzug hat die Stadt eine Firma beauftragt, ein teures Sicherheitskonzept zu erstellen. Eine Auflage in dem Konzept: Stündliche Wetterbeobachtung. Ein Wetterfrosch.

"Unter anderem ist da auch etwas Lustiges meiner Meinung nach dabei, dass wir einen Wetterfrosch brauchen. Wir haben den so genannt, der gute Mann hat auch ein Kostüm bekommen, genau als Wetterfrosch. Der muss dann wirklich in der Tat einmal in der Stunde das Wetter checken und melden. Es könnte ja zum Beispiel ein Sturm aufkommen oder was weiß ich, ganz widrige Umstände, und das wird ganz engmaschig muss das überprüft werden. Du brauchst für jedes Gewerk brauchst du jemanden."

Martina Niepagen, Möhnen-Club 1950 Mülheim e.V.

Killt die Bürokratie jetzt auch den Karneval? 

Bereits in der letzten Saison haben deswegen viele Vereine auf Umzüge verzichtet. Die Auflagen für Ehrenamtliche kaum zu stemmen und vielerorts fehlt schlicht das Geld.

"Einfach mal locker machen. Ich sag Ihnen eins: Man kann nicht alles ausschließen im Leben. Das geht nicht. Wir können über die Umzüge kein Netz spannen, um dass nichts runterfällt vom Himmel oder was weiß ich. Man kann nicht alles ausschließen."

Martina Niepagen, Möhnen-Club 1950 Mülheim e.V.

"Wir haben noch nie soviel Geld ausgegeben für Bürokratie"

In Krefeld residiert Deutschlands oberster Bürokratiejäger. Lutz Göbel ist Vorsitzender des nationalen Normenkontrollrates. Das Gremium berät die Bundesregierung und ermittelt, wieviel die Bürokratie Privathaushalte, Wirtschaft und Verwaltung jedes Jahr kostet. Der Unternehmer vom Niederrhein präsentierte gerade er erst den neuen Bericht des Normenkontrollrates. Er stellt der Ampelregierung ein miserables Zeugnis aus.

"Wir haben einen neuen Rekord. Wir haben noch nie soviel Geld ausgegeben für Bürokratie, wie in diesem Jahr. Also die absoluten Zahlen sind 23,7 Milliarden Euro ist der gesamte Erfüllungsaufwand in diesem Jahr. Der Treiber dafür ist das Gebäudeenergiegesetz, also ein großer Bürokratietreiber, aber nur einer von vielen..."

Lutz Goebel, Vorsitzender nationaler Normenkontrollrat

In Hannover treibt die Bürokratie in einem anderen Fall Blüten. Seit 8 Jahren beschäftigen diese Bäume Bürokraten in mehreren Ämtern, Politiker und Silvia Maaß. Weil die Bäume nicht gestutzt werden dürfen, kann Silvia Maaß ihren Dachboden nicht zu Studentenwohnungen ausbauen.

"Das große Problem ist, dass das bürokratisch hin und hergeschoben wird. Sie machen Anfragen, dann passiert erst mal wieder drei Monate gar nicht. Dann ist es nicht vollständig, dann müssen Sie noch was schreiben. Dann kriegen Sie wieder was zurück. Und irgendwann kriegen sie dann ein Behördenbescheid geht leider nicht suchen Sie nach einer neuen Lösung. Da vergehen Monate, Jahre."

Silvia Maaß, Hauseigentümerin

Bäume beschäftigen Bürokraten - seit 8 Jahren

Bereits 2015 stellt sie die erste Bauvoranfrage. Sie will alles richtig machen fragt beim Bauamt, beim Grünflächenamt und bei der Feuerwehr nach. Doch die Behörden widersprechen sich.

Das Problem: Für den Dachausbau braucht sie einen zweiten Rettungsweg. Die Feuerwehr. schlägt vor, die Bäume zu beschneiden entlang der roten Linien in den Fotos. Das würde genügen, um mit dem Rettungskorb zum Dachgeschoß zu kommen.

"Das Grünflächenamt hat aber dann entschieden, dass die Bäume nicht beschnitten werden dürfen, weil sie nach Baumschutz Satzung, dass wäre den Baum nicht gemäß."

Silvia Maaß, Hauseigentümerin

Dann stirbt einer der Bäume ab, wird abgesägt. Silvia Maaß schöpft Hoffnung aber vergebens. Auch die erneute Anfrage wird abgelehnt.

"Also ich bin verzweifelt, weil man kämpft gegen Windmühlen. Also ich meine, dort entsteht eine Lücke. Das wäre die Möglichkeit gewesen, Anleitern zu können. Das ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bauvoranfrage beziehungsweise Bauantrag. Dann sagt das Grünflächenamt nee da pflanzen wir wieder an, da können Sie nicht mit rechnen."

Silvia Maaß, Hauseigentümerin

Mit dem Brandschutzsachverständigen und Architekten Ralf Abraham will sie heute ausloten, welche Chancen ein neuer Antrag haben könnte.

"In Hannover, glaube ich, 20 Prozent aller Straßen sind mit Bäumen bestanden, und bis dato gab es kein Problem, dass man irgendwie retten kann. In dem Moment, wo jemand ein Dachgeschoss ausbauen will, geht das auf einmal nicht. Und das ist etwas, was eine Bauherrin, jetzt Frau Maaß, gar nicht lösen kann, weil das Problem ist ja von der Stadt erzeugt."

Ralf Abraham, Sachverständiger für Brandschutz

Doch die Stadt Hannover bleibt bei Ihrer Haltung: Auf Nachfrage teilt das Büro des Oberbürgermeisters mit. "Die Straßenbäume sind ortsbildendprägend und gestalten den öffentlichen Raum. Gerade innerstädtisch ist jeder Baumstandort unbedingt zu erhalten und zu schützen."

Dabei es geht doch nur um ein paar Äste, die abgeschnitten werden sollen.

Können wir uns die Bürokratie noch leisten?

"Also wir können es uns nicht mehr leisten. Aus zwei Gründen Einerseits wir haben gar nicht die Leute, wir haben ja Fach- und Arbeitskräftemangel. Und das Zweite ist, wir haben, wir stellen momentan fest, dass wir auch nicht genug Geld haben und es kann im Detail nicht alles so geregelt werden. Also so ein Bäcker, der hat so einen Bäckermeister, der hat 40 % seiner Zeit, beschäftigt sich nur mit Auflagen und Bürokratie. Viele Dinge kennt er gar nicht, die er umsetzen muss und steht damit vielleicht sogar mit einem Bein im Gefängnis."

Lutz Goebel, Vorsitzender nationaler Normenkontrollrat

Mit einem Bein im Gefängnis? Eine gruselige Vorstellung für Bäckermeister Ludwig Neulinger Jetzt mitten im Weihnachtsgeschäft.  

"Da wird es auch wohl so sein, auch bei mir im Betrieb, dass wir irgendwelche Sachen vielleicht auch falsch machen. Ich glaube, wir bemühen uns schon natürlich, dass man es nicht falsch machen, weil es ja auch gegebenenfalls teuer was falsch macht. Aber alles werden wir sicher nicht richtig machen. Wäre verblüffend..."

Ludwig Neulinger, Bäcker- und Konditormeister

Zwar plant die Bundesregierung eine umfassende Bürokratiereform, aber Ludwig Neulinger glaubt nicht, dass es bald weniger Bürokratie in seinem Betrieb gibt.

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Kommentieren

Rudi, Freitag, 01.Dezember 2023, 13:58 Uhr

2. Entbürokratisierung ist undenkbar, unmöglich oder aussichtslos

Wie bitte soll das denn gehen? Das würde bedeuten, dass sich der Staat oder Unternehmer angreifbar machen würde. Da wir bekanntlich viele streitbare Wutbürger haben und immer irgendwie jemand Schuld sein muss, der dann auch seine Rechte einklagen will, der muss mit der Bürokratie leben.
Alleine in der Justiz, gibt es ausufernde Verfahren bis in die höchsten Instanzen, ob ein Messgerät korrekt gearbeitet hat. Oder ob, es bewusste oder unbewusste Fahrlässigkeit war. Nachbarschaftsrecht, Erbrecht, Verkehrssachen, Reiserecht usw. und so fort: jeder will Recht haben! Also muss es geregelt werden. Total umweltschädlich und aufwendig. Und das ist jetzt nur die Justiz.

Baurecht und Bauordnungen, Föderalismus-Problematik, Versicherungsrecht, Umweltrecht, Polizeirecht - jeder will "sein" Recht. Und wehe es ist nichts geregelt. Ein Bürger oder Unternehmer findet die Exploits, um sie auszunutzen.

Flexibilität ist in Deutschland nicht möglich. Denn man wird ja wohl noch klagen dürfen ;-)

  • Antwort von Hinrichs, Dienstag, 05.Dezember, 13:17 Uhr

    Bestes Beispiel für Ungerechtigkeiten sind Streitigkeiten mit Versicherungen. Selbst ein im Recht befindlicher kleiner Versicherungsnehmer muss ggfs. jahrelang prozessieren, weil das Prozesskostenrisiko in deutlicher Ungleichheit für einen kleinen Versicherungsnehmer steht. Würde das Prozessrisiko wegen der Größe eines Versicherungskonzerns um z.B. den Faktor 1000 steigen, würden die Risiken für solche Goliathunternehmen steigen und eher zu gütlichen Vereinbarungen führen.

    Bei Strafprozessen wird nach Tagessätzen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die Höhe des Tagessatzes bemessen. Wieso regelt man diesen Ansatz nicht auch bei Zivilprozessen?

    Trotz immenser Bürokratie bleiben haarsträubende Ungerechtigkeiten!

    Mehrere Gewerkschaften in einem Unternehmen sind bürokratisch, der nicht eingehaltene Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ist bürokratisch, die Verwaltung ist zu bürokratisch, die Klagemöglichkeiten der Bürger und vieles andere mehr.

Rudi, Freitag, 01.Dezember 2023, 00:07 Uhr

1. Sehr guter Beitrag zur Bürokratie in Deutschland

Wer ist dafür ursächlich?

Ich komme auf mindestens zwei Kategorien:

1. Die Politik in ihrer Gesamtheit von Kommune bis zur EU

2. Die Bürger - alle!

Die Politik ist der Hauptakteur der Bürokratie. Aus eigenem Gestaltungswillen oder aber aus öffentlichem Druck der Bürger. Wenn irgendwo etwas gebaut, gearbeitet oder unternommen werden soll, dann muss der Staat den Rahmen schaffen. Gesetze und viele Vorschriften regeln das. Das mag sinnvoll sein. Eine "Kugelschreiber und Bleistifteanwendungsverordnung (KuBlaVO) muss vorhanden sein, da sonst ein Verwaltungsbeamter keinen Federstrich macht. Kann und darf er auch nicht. Denn ein Schlaumeierbürger könnte dagegen klagen, dass es zu einer Verschwendung von Steuermitteln kommt. Der Wettstreit zwischen Regulierung und der Suche nach Schlupflöchern reicht bis zu cum-ex Geschäften. Absicherung ist das halbe Leben. Aber Bürokratie entsteht unabhängig davon auch durch Statistikleidenschaft. Zahlen brauchen wir aber auch.

Mitschuld?