Telekolleg - Deutsch


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Telekolleg Deutsch - Folge 03 Der Roman im 20. Jahrhundert

Die Romanautoren des vergangenen Jahrhundertes setzten sich mit dem Bruch der Traditionen, dem Schwinden bisher tragender Werte und dem Zweifel an der Verlässlichkeit der gegenwärtigen Welt auseinander. Welche bedeutenden literarischen Werke gingen daraus hervor?

Stand: 07.09.2016 | Archiv

Berlin Alexanderplatz, Schaubühne Berlin | Bild: picture-alliance/dpa

"Die Moderne" ist das Stichwort, das das Selbstverständnis der Prosaautoren im 20. Jahrhundert geprägt hat. Modern bedeutet in diesem Kontext: Bruch mit der Tradition, mit den bisher tragenden Werten, mit den bisherigen Lebensformen, extremer Zweifel an der Verlässlichkeit der gegenwärtigen Welt und damit auch ihrer literarischen Umsetzung. Die Klassenauseinandersetzungen der Weimarer Republik, die grausamen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und Freuds Entdeckung der Psychoanalyse prägen diese Moderne, deren Krisenbewusstsein sich nicht zuletzt in Martin Heideggers Existentialphilosophie niederschlägt.

1. Zauberberg und Alexanderplatz

Franz Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil und Alfred Döblin, die tonangebenden Autoren des beginnenden 20. Jahrhunderts reflektierten die destabilisierenden Welterfahrungen unterschiedlich. Thomas Mann begegnete – wie auf andere Art auch Robert Musil – der bröckelnden Wirklichkeit durch intellektuelle Reflexion und schuf – vor allem mit seinem „Zauberberg“ (erschienen 1924) – einen Jahrhundertroman. Im Zentrum steht Hans Castorp, "ein farbloses Hamburger Patriziersöhnchen" das sieben Jahre an einem entrückten Ort, einem exklusiven Tuberkulose-Sanatorium in der Schweiz, verbringt. Während sich die politischen Ereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts schier überstürzen, setzt sich Castorp an diesem weltabgewandten Ort, wo die Zeit ganz anders tickt, den gegensätzlichen Strömungen und Ideen seiner Zeit aus. Diese werden verkörpert in den beiden Widersachern, dem Aufklärer und Humanisten Settembrini und dem scharfzüngigen Jesuiten Naphta, seinen zwei Lehrmeistern in Sachen Zeit- und Weltgeist.

"Der Zauberberg ist ein Jahrhundertroman in einem mehrfachen Sinne", erläutert der Germanist Prof. Ruprecht Wimmer. Zum einen als Zeitroman, der wie Thomas Mann selbst sagte, "historisch [...] das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht." Zum anderen "als ein Abgesang auf das vorige Jahrhundert" und zum dritten als das literarische Ereignis, das – analog zu Prousts Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – für den modernen Roman in Deutschland steht." "Modern" ist dieser Roman nicht zuletzt durch die Hereinnahme von ungeheuer viel Wissen. Einen „polyhistorischen Roman“ hat Hermann Broch das genannt, wobei "polyhistorisch für Vielwisserei" steht, wie Prof. Wimmer erläutert: für die ungeheure Überfrachtung mit Material, mit Ideen und Stoff und für das ironische Spiel mit diesem Material.

Alfred Döblin

Fünf Jahre nach dem „Zauberberg“ erschien Alfred DöblinsBerlin Alexanderplatz“, noch heute als der unübertroffene deutsche Großstadtroman gefeiert. Der Roman fängt die Atmosphäre der Metropole mitsamt dem Jargon, den Werbeslogans und den Schlagerhits so echt wie expressiv ein. Er spielt im Zentrum Berlins, in einem Milieu, das dem Armenarzt Döblin wohl vertraut war, und dreht sich um Franz Biberkopf, einen kleinen gutwilligen, aber willensschwachen Mann. Biberkopf wird aus dem Gefängnis entlassen und beschließt, nun "anständig zu sein", was ihm im turbulenten Berlin der 20er Jahre zwischen "Schlachthausdunst und Jazzrhythmen, Hurenwinkel und Kaschemmenphilosophie, Zuhälterpack, Flittermoral und strahlendem Lichterglanz" (Kindlers Literaturlexikon) nicht gelingt. Er verlässt sich auf Reinhold, der sich als Freund gibt, aber sich schließlich als skrupelloser Verbrecher entpuppt: Er verwickelt Biberkopf in dunkle Geschäfte, hängt ihm schließlich einen Mord an und bringt ihn in die Irrenanstalt. Erst als Biberkopf freigesprochen und -entlassen wird, begreift er, dass er sich zum willenlosen Werkzeug eines Verbrechers hat machen lassen. Am Schluss steht die Mahnung, die das kommende Grauen der Nazizeit vorausahnt:

"Wach sein. Dem Menschen ist gegeben die Vernunft, die Ochsen bilden stattdessen eine Zunft." (Afred Döblin, zitiert nach Kindler).

2. Exilliteratur – "Innere Emigration"

Mit der Machtergreifung Hitlers spaltet sich auch die deutsche Literatur: In die Literatur des Exils einerseits und die der "inneren Emigration" andererseits. Ernst Jünger, Walter von Molo, Frank Thiess, Hans Carossa und Werner Bergengruen z.B. blieben in Deutschland, die Brüder Mann, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers und Hermann Broch gingen ins Exil.

"Es ist schwer, beiden Gruppen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie hatten schon Schwierigkeiten während des Krieges und nach dem Krieg besonders", erklärt Professor Wimmer: Die Exilautoren meinten oft, sie würden das wahre Deutschland verkörpern. Nach dem so stolzen wie verletzenden Wort von Thomas Mann: "Wo ich bin, ist die deutsche Kultur". Die Zuhausegebliebenen forderten für sich Respekt ein, weil sie oft auch materiell nicht in der Lage waren zu emigrieren. Böse Zungen würden sagen: Die besseren, und modernen Autoren gingen und die schlechteren und konventionelleren blieben."

Auch nach dem Krieg fanden diejenigen, die – zumindest zeitweise – aus dem Exil zurückkehrten, wie Alfred Döblin und Thomas Mann, nur schwer wieder Anknüpfungspunkte. In der BRD begann eine Gruppe von jungen, in den 20er Jahren geborenen Schriftstellern das literarische Leben zu prägen: die Gruppe 47.

3. Die Gruppe 47

Hans Werner Richter wurde wegen seiner unausgesetzten Polemik gegen die Re-Education-Bemühungen der Besatzungsmächte als Redakteur der Kriegsheimkehrer-Zeitung „Der Ruf“ entlassen und gründete daraufhin im September 1947 die Gruppe 47. Sie wurde die einflussreichste literarische Gruppierung der Nachkriegszeit, die erst im Zuge der Politisierung der Literatur Ende der 60er Jahre an Bedeutung verlor. Die Gruppe 47 war ein loser Zusammenschluss von Autoren, Verlegern und Kritikern, die von dem Pathos getragen wurden, einen neuen Anfang setzen und für ein demokratisches Deutschland sorgen zu wollen.

Wer bei den Treffen der Gruppe teilnehmen durfte und wer nicht, das entschied Hans Werner Richter: Er lud ein bis höchstens zwei Mal jährlich zu Tagungen ein, die meist an recht malerischen Orten stattfanden. Autoren lasen unveröffentlichte Texte vor, die dann in recht lebhaften Diskussionen einer Stegreifkritik unterzogen wurden. Alfred Andersch, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Günter Eich, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel und Martin Walser gehörten zu den Autoren, die ziemlich regelmäßig von Richter in den erlauchten Kreis eingeladen wurden – die meisten von ihnen wurden dadurch allererst berühmt.

"Die Treffen der Gruppe 47 nahmen bald eine Wende, die das Ende ahnen ließen", erklärt Prof. Wimmer: "Aus einer Diskussionsrunde wurde eine Literaturbörse." Je attraktiver die Treffen für Verleger, Medien und Kritiker wurden, desto entschiedener regierten die Prinzipien des Marktes. Bald wurde aus der Gruppe, wie Dieter Wellershoff kommentiert, "ein Institut der literarischen Marktprognose und vorausschauenden Marktdetermination" (zitiert nach Best)

4. Günter Grass: Von der Blechtrommel bis zum Weiten Feld

Im restaurativen Klima der Adenauerzeit löste der 1959 erschienene Roman Die Blechtrommel von Günter Grass einen regelrechten Skandal aus. Pornographie, Obszönität und Nihilismus warfen einige Kritiker diesem opulenten Opus vor. Die Geschichte des kleinwüchsigen Trommlers Oskar Matzerath, der aus dem vogelfreien Abseits einer Heil- und Pfleganstalt die Geschichte seiner Familie erzählt, hält der ersten Hälfte des blutigen zwanzigsten Jahrhunderts einen so kühnen wie kritischen Spiegel vor. Der Erfolg dieses –zuerst in der Gruppe 47 vorgestellten – Romans blieb nicht aus: Grass wurde bald international als der Repräsentant der deutschen Nachkriegsliteratur gefeiert, 1999 erhielt er – vor allem wegen der "Blechtrommel" – den Nobelpreis für Literatur. Später bezeichnete Günter GrassDie Blechtrommel“ als den ersten Teil seiner Danziger Trilogie, zu der die Novelle "Katz und Maus" (1961) und der Roman "Hundejahre" (1963) gehören. "Die Einflüsse von Hitler und der Nazizeit saßen auch in der Nachkriegszeit noch tief, sie waren nicht einfach wegzuwischen, man musste sie wegarbeiten." Dabei halfen ihm die Bücher und der Schreibprozess, wie Grass in einem Interview sagte.

"Die Danziger Trilogie war nicht als Trilogie auf dem Reißbrett angelegt. Aber die spätere Bezeichnung ist gerechtfertigt, denn Grass nimmt hier seine Herkunft – alle drei Bücher spielen in Danzig und Umgebung – in drei Anläufen ins Visier. Das ist ein typisches Erzählverfahren der Moderne: Etwas schwer Erzähl- und Fassbares wird von verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichem Personal aus angegangen", erklärt Prof. Wimmer.

Schon mit dem 1977 erschienenen „Butt“, der Geschichte des ewig unzufriedenen Fischers und seiner Frau Ilsebill, die Grass als Parabel auf den nimmersatten Wohlstandsbürger der BRD gestaltete, erntete Grass nicht mehr die Leseerfolge wie mit der „Blechtrommel“. Endgültig geriet er ins Kreuzfeuer der Kritik, als er 1995 den Roman „Ein Weites Feld“ veröffentlichte: Es hieß, seine Romane hätten keinen epischen Atem mehr, sie seien unlesbar, Günter Grass produziere "Schulfunkprosa". So wurde Grass schließlich zum Repräsentanten der "Erzählschlappe" deklariert, die der deutschen Literatur der 70er und 80er Jahre nachgesagt wurde. Zuletzt löste der provokante Autor mit seinem 2012 veröffentlichen Gedicht „Was gesagt werden musste“ heftige Debatten aus. Seine darin geäußerte Kritik an Israel führt zu einem Einreiseverbot, er wird von Israels Innenminister zur „unerwünschten“ Person erklärt. Dreimal wurde Günter Grass bisher die Einreise in ein Land verboten. Den Anfang machte die ehemalige DDR und im Jahr 1986 wurde ihm die Einreise nach Birma verweigert. In der Süddeutschen Zeitung (April 2012) sagt er dazu: „Die DDR gibt es nicht mehr. Aber als Atommacht von unkontrolliertem Ausmaß begreift sich die israelische Regierung als eigenmächtig und ist bislang keiner Ermahnung zugänglich. - Allein Birma lässt kleine Hoffnung keimen.“ (SZ April 2012)

5. Tendenzen des Romans seit den 50er Jahren

Zusammenfassend umreißt Prof. Ruprecht Wimmer die Entwicklung des Romans in diesem Jahrhundert in groben Zügen: Seit der großen Romantheorie von Georg Lukács gilt der Roman als die literarische Gattung, die die nicht mehr vorhandene Deutbarkeit der Wirklichkeit nachvollzieht und widerspiegelt. Seit den 50er Jahren haben sich verschiedene Tendenzen herausgebildet:

Die erzählerische Prozedur verkompliziert sich, sie wird immer facetten- und spiegelungsreicher. Als Reaktion darauf fielen andere Autoren in das herkömmliche Erzählen zurück, z.B. Patrick Süskind mit seinem Roman „Das Parfum“.

Neben diesen beiden Widersachern gab es immer den Zeitroman, der sich das komplizierte Erzählen gar nicht leisten konnte, und schließlich die große erzählerische Herausforderung der Wiedervereinigung, die außer von Grass nur von wenigen, wie Ingo Schulze, angenommen wurde."

Quellen:

  • Kindlers Literaturlexikon (umfangreiches Literaturlexikon zur Weltliteratur in mehreren Bänden, z.B. bei J. B. Metzler Verlag mit Online Datenbank)
  • Otto F. Best. Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. Frankfurt a.M. 2000 (5. Aufl.)

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