alpha Lernen - Deutsch

Literarische Texte Besonderheiten literarischer Texte

Von: Prof. Dr. Volker Frederking

Stand: 07.11.2016

Hier beantworten wir folgende Fragen:

  • Welche besonderen Merkmale weisen literarische Texte auf?
  • Was sind Fiktionssignale?
  • Inwiefern ist Innenperspektive für literarische Texte wichtig?
  • Welche sprachlichen Mittel gelangen in Literatur zum Einsatz?
  • Welche Bedeutung besitzen Bildsprache, Mehrdeutigkeit, Leerstellen und Erwartungsbrüche für literarische Texte?

Literarische Texte weisen oft besondere Merkmale auf. Nachfolgend sind einige von ihnen genannt und erläutert.

Oft signalisieren uns Autorinnen oder Autoren bereits im Untertitel eines von ihnen verfassten Werkes, dass es sich um einen fiktiven literarischen Text handelt. Sie schreiben die spezifische literarische Gattung hinzu, die sie gewählt haben, z. B. Tragödie, Roman, Gedichte, Erzählung:

  • Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil.
  • Max Frisch: Stiller. Roman.
  • Hans Magnus Enzensberger: Gedichte von 1950-2015.
  • Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Erzählung.
  • Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle.

Diese explizite Zuordnung zu einer Gattung oder zu einer Subkategorie wird in der Fachsprache Fiktionssignal genannt. Der Leserin oder dem Leser wird damit einerseits angezeigt: Dies ist ein literarischer Text, das heißt ein Roman, ein Drama, ein Gedicht, eine Erzählung, eine Novelle etc. Andererseits wird signalisiert: Das, was du nachfolgend liest, ist teilweise oder ganz erfunden, zumindest muss es nicht genauso passiert sein.

Ein Sachtext berichtet von einem Geschehen in der Regel von außen. Was jemand denkt oder fühlt, diese Innenperspektive ist meist kennzeichnend für einen literarischen Text.

Zwar gibt es auch Formen von Sachtexten wie die Reportage, bei denen ebenfalls eine subjektive Perspektive einbezogen wird, allerdings erfolgt dies anders als bei einem literarischen Text. Nehmen wir als Beispiel die schriftliche Verarbeitung eines besonderen Ereignisses wie einer Katastrophe. Ein Reporter muss sich auf das beschränken, was er sieht, hört bzw. weiß. Was ein Beteiligter bzw. Betroffener denkt oder fühlt, darüber kann er nur Vermutungen anstellen: 'In den Augen der Menschen war noch die Todesangst zu sehen', 'Das wird den Menschen Mut machen' oder 'Ein Augenzeuge berichtete mir, er habe Menschen weinen sehen vor Glück'.

Ein Dichter bzw. Autor kann da weitergehen. Er benötigt keinen Augenzeugen. Er kann schreiben, wie er sich vorstellt, was ein Mensch, über den er schreibt, in einer Situation fühlt oder denkt - so wie Günter Grass in seinem 2002 erschienenen Roman "Im Krebsgang". In diesem verarbeitet der Autor literarisch den durch sowjetische Torpedos verursachten Untergang des Schiffs Wilhelm Gustloff kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, der zum Tod von fast 10.000 Menschen führte.

Einerseits wird in dem als Novelle ausgewiesenen Text ebenso bewusst wie gekonnt auch mit Elementen eines Berichts gearbeitet – "Ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle zitiert worden ist. [...] Jeder war sich der Nächste" (Grass, 2002, S. 137). Andererseits bedient sich Grass einer doppelten Innenperspektive, wenn er den Erzähler gestehen lässt: "Konnte das nicht mehr mitanhören, wenn sie mir, meistens sonntags, ihre Gustloff-Geschichten zu Klöpsen und Stampfkartoffeln auftischte", um sodann Tulla Pokriefke, die Mutter des Erzählers, zu Wort kommen zu lassen: "Kann man nich vergässen, sowas. Das heert nie auf. Da träum ech nich nur von, wie, als Schluß war, ain ainziger Schrei ieberm Wasser losjing. Ond all die Kinderchen zwischen die Eisschollen ..." (Grass, 2002, S. 57).

In literarischen Texten kommen oft spezifische sprachliche Mittel zum Einsatz, um eine bestimmte Wirkung beim Leser zu erzielen. Solche sprachlichen Mittel haben eine besondere ästhetische Funktion. Wenn z. B. in einem literarischen Text mit besonders vielen Attributen gearbeitet wird – er hatte große, braungebrannte, fast ledern wirkende Hände –, soll das Dargestellte für den Leser anschaulicher werden. Manchmal werden z. B. aber auch Satzanfänge wiederholt: Ich hielt inne, ich dachte nach, ich kam zu einem Entschluss. Man spricht von einer Anapher. Ihre ästhetische Funktion: Spannung erzeugen, Gefühle vermitteln oder entstehen lassen, eine Wirkung verstärken, Aufmerksamkeit erhöhen, Verständnis wecken. In Goethes berühmtem Gedicht "Ein Gleiches" (1780) bilden die Grenzen des ersten und des dritten Verses nicht das Ende des ersten bzw. zweiten Teilsatzes, diese enden vielmehr in Vers 2 bzw. 5.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
[...]

Dieses sprachliche Mittel wird Zeilensprung oder Enjambement genannt; die Funktion: Rhythmisierung und Aufmerksamkeit für die einzelnen Worte bzw. Aspekte erzeugen - unter Wahrung der Einheit des Satzes. Eine Liste weiterer sprachlicher Mittel findet sich hier:

Ein besonderes sprachliches Mittel ist das Sprechen in Bildern – in der Literaturwissenschaft ist von metaphorischer Sprache die Rede – und der Gebrauch sprachlicher Bilder, so genannter Metaphern. Beide finden in literarischen Texten oft Anwendung, um Gefühle, Gedanken oder Assoziationen zu veranschaulichen und Mehrdeutigkeit zu erzeugen.

Wenn es in dem berühmten Lied der Mignon zu Beginn des 3. Buches in Goethes Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795/1796, S. 145) heißt "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn", dann wird in diesem Vers die tiefe Sehnsucht nach einem südlichen Arkadien, einem idealen Ort im mediterranen Licht und ewigen Frühling in bildlicher Sprache zum Ausdruck gebracht.

Allerdings haben Metaphern auch in die Alltagssprache Einzug gehalten: Wenn es heißt, die Hoffnung verlieh ihm Flügel, dann ist mit dieser Metapher natürlich nicht gemeint, dass jemandem tatsächlich Flügel wachsen (es sei denn, es handelt sich um einen Fantasy-Roman). Vielmehr soll dieser bildhafte Ausdruck verdeutlichen, dass ein Mensch sich durch die Hoffnung wie befreit fühlt, so frei wie ein Vogel, der einfach davonfliegt.

Mehrdeutigkeit ist ein weiteres Merkmal vieler literarischer Texte. In diesen werden Leserinnen und Leser vorübergehend oder dauerhaft bewusst im Unklaren darüber gelassen, wie eine bestimmte Situation zu deuten ist. Damit ziehen sie uns noch tiefer mit unseren Gedanken oder Gefühlen in das Geschehen hinein.

Wenn es zum Beispiel in Kafkas Parabel "Gibs auf" heißt "Von mir willst du den Weg erfahren" (Kafka, 1922, S. 358), dann ist hier nicht nur ein konkreter Weg gemeint, der zurückzulegen ist, sondern auch der Weg im übertragenen, bildhaften Sinn – als Lebensweg. Was tatsächlich gemeint ist und welche Deutungen auf dieser Basis plausibel sind, klärt sich manchmal im Verlauf des weiteren Lesens ziemlich rasch, manchmal – wie in Kafkas Parabel – bleibt die Frage aber auch nach der Lektüre des gesamten Textes teilweise noch offen.

In vielen literarischen Texten wird bewusst etwas weggelassen, nicht so genau beschrieben, nur angedeutet etc., damit wir uns als Leser das Ausgesparte – der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser prägte hierfür den Begriff "Leerstelle" – selbst genauer ausmalen. Leerstellen regen mit anderen Worten unsere Fantasie an, unser Vorstellungsvermögen, unsere Imagination. Ein gutes Beispiel ist eine berühmte Passage aus Goethes "Römische Elegien" (1789, S. 160), in denen es heißt: "[...] Oftmals hab' ich auch schon in ihren Armen gedichtet / Und des Hexameters Maß, leise mit fingernder Hand / Ihr auf den Rücken gezählt".  Hier wird viel gesagt und ebenso viel angedeutet. Es bleiben mithin Leerstellen, die die Leser und Leserinnen mit ihrer Fantasie füllen können.

Erwartungsbrüche – und das Spiel mit ihnen – sind ein Mittel, das in literarischen Texten oft zum Einsatz kommt. Das können überraschende Wendungen im Handlungsgeschehen sein, unerwartete Verhaltensweisen von Figuren oder Perspektivwechsel. Wenn es zum Beispiel in einem literarischen Text heißt "Dies alles deutete auf einen friedlichen Ausgang hin, wäre da nicht dieses ungewöhnliche Geräusch gewesen", so wird vermittelt, dass die Idylle täuscht und Unheil droht.

Eine besondere Form von Erwartungsbruch hat Friedrich Christian Delius in seiner Erzählung "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus" (2005) verarbeitet, einer Geschichte über einen systemkritischen DDR-Bürger, Paul Gompitz, Kellner aus Rostock, der im Sommer 1981 beschließt, sich die Freiheit zu nehmen, die ihm sein Land, die DDR, verweigert – eine Reise nach Sizilien. Sieben Jahre später gelingt ihm ein kühner Ausbruch über die Ostsee, um auf den Spuren seines berühmten Vorbilds Seume endlich die lang ersehnte Reise nach Italien zu wagen. Doch statt die neu gewonnene Freiheit zu nutzen, um im Westen zu bleiben, kehrt Gompitz von Syrakus nach Ostdeutschland zurück, aus freien Stücken. Das ist ohne Frage ein Erwartungsbruch besonderer Art. Dass sich all dieses wirklich ereignet hat, von dem Delius in seiner Geschichte erzählt (Spaziergang nach Syrakus: Der Spiegel 24.9.1995) zeigt nur, dass  auch das Leben den einen oder anderen Erwartungsbruch bereithalten kann.

Fiktionssignale, Innenperspektive, sprachliche Mittel, Bildsprache, Mehrdeutigkeit, Leerstellen, Erwartungsbrüche – dies alles sind Gestaltungselemente, die für literarische Texte typisch sind. Aber Vorsicht: Es werden selten alle Merkmale in einem literarischen Text zugleich auftreten. Überdies haben die Beispiele gezeigt: Das Vorhandensein einiger der genannten Merkmale stellt nicht sicher, dass es sich in jedem Fall um einen literarischen Text handelt. Auch in Reportagen, Werbung oder politischen Reden können manche der genannten Merkmale Verwendung finden.

1.

Anzunehmen, dass in einem literarischen Text alle genannten Merkmale zugleich auftreten müssen.

2.

Wenn in einem Text einige der genannten Merkmale aufzufinden sind, ist noch keinesfalls sichergestellt, dass es sich auch um einen literarischen Text handelt. Denn Leerstellen, sprachliche Mittel, Bildsprache, Mehrdeutigkeit etc. werden auch in Reportagen, in Werbung oder in politischer Rede verwendet.

In literarischen Texten finden sich z. B. folgende Merkmale:

  • Fiktionssignale
  • Innenperspektive
  • Sprachliche Mittel
  • Bildsprache
  • Leerstellen
  • Mehrdeutigkeit
  • Erwartungsbrüche

Johann Wolfgang von Goethe (1780): Ein Gleiches, in: Ebd.: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band I. Gedichte und Epen I, München 1988, S. 142.
Johann Wolfgang von Goethe (1789): Römische Elegien, in: Ebd.: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band I. Gedichte und Epen I, München 1988, S. 157-173.
Johann Wolfgang von Goethe (1795/96): Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Ebd.: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 7. Romane und Novellen II, München 1988.
Günter Grass (2002): Im Krebsgang. Eine Novelle, 11. Auflage, München 2015.
Franz Kafka (1922): Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/M. 1970, S. 358.