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Literarische Texte Wozu brauchen wir Literatur?

Von: Prof. Dr. Volker Frederking

Stand: 07.11.2016

Hier beantworten wir folgende Fragen:

  • Seit wann gibt es Literatur?
  • Seit wann wird Literatur gelesen?
  • Welche Bedeutung hatte die Erfindung des Buchdrucks für die Verbreitung von Literatur?
  • Aus welcher Motivation heraus schreiben Menschen Literatur?

Seit Jahrtausenden fühlen sich Menschen durch Geschichten und deren Bedeutung auf ganz besondere Weise angesprochen und im Innersten verstanden.

"Sein oder Nichtsein": Shakespeares Drama "Hamlet"

Schon immer haben Menschen Geschichten genutzt, um ihre Wirklichkeit für sich fassbarer und begreifbarer zu machen: ob in Märchen oder Sagen, Erzählungen oder Gedichten, Theaterstücken oder Romanen.

Lange bevor die Schrift erfunden wurde, gab es Geschichten, die die Menschen in ihren Bann gezogen haben. Erzähler trugen sie mündlich einer gespannt lauschenden Zuhörerschaft vor. Von Generation zu Generation wurden solche Geschichten weitergetragen – bis mit der Erfindung der Schrift das erste Speichermedium medienkulturgeschichtlich in Erscheinung trat. Die Schrift machte es endlich möglich, Geschichten aufzuschreiben und damit dauerhaft allen Menschen zugänglich zu machen – vorausgesetzt, sie konnten lesen.

Phasen, in denen viel und gern Literatur gelesen wurde, gab es schon in der griechischen und römischen Antike. Lesen und Schreiben wurden hier zu den bestimmenden Kulturtechniken. Doch erst die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg im Jahr 1450 leitete jene Medienrevolution ein, durch die Bücher und Literatur für ein Massenpublikum zugänglich wurden.

Setzkasten mit Bleibuchstaben

Tatsächlich hat der Buchdruck in den folgenden Jahrhunderten einen Literaturboom ausgelöst, der bis in unsere Gegenwart hinein anhält. Zwar begegnet uns Literatur heute nicht mehr nur in geschriebener beziehungsweise gedruckter Form. Auch als Hörtext, als Literaturverfilmung oder als E-Book steht uns Literatur zur Verfügung. Aber selbst der Film und das Fernsehen sowie der Siegeszug von Computer und Internet konnten nichts daran ändern, dass Literatur in Buchform immer noch ein Massenpublikum zu begeistern vermag.

Dies hat Joanne K. Rowlings literarischer Welterfolg über Harry Potter, einen kleinen Jungen aus England mit außerordentlichen Zauberkräften, eindrucksvoll bewiesen. Als dieser Ende des letzten Jahrhunderts die literarische Weltbühne betrat, setzte ein nie dagewesener Leseboom ein, der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gleichermaßen erfasste. Denn mit Harry Potter konnten Leserinnen und Leser in das literarisch erschaffene Hogwarts-Universum eintauchen und in neuer Form erleben, was Literatur so faszinierend macht: Spannung, Gefahren, Fantasie, Helden, Liebe und Freundschaft.

Schreiben von Literatur kann dem Wunsch entspringen, der Fantasie freien Lauf zu lassen. So äußert Joanne K. Rowling auf die Frage, ob sie sich beim Schreiben der ersten vier Harry-Potter-Romane alles vorher genau ausgedacht hat:

"Ich hatte immer schon eine Grundgeschichte stehen, aber ich mag es, die Dinge zu entscheiden, während ich schreibe. Es macht mehr Spaß."

(aus: Joanne K. Rowling's Live Interview on Scholastic.com, 03.02.2000)

Manchmal ist es aber eine unglückliche Liebe, die einen Menschen zum Schreiben bringt. So war das bei Johann Wolfgang von Goethe. Seine unglückliche Liebe zu einer verlobten Frau, Charlotte Buff, hat er in seinem berühmten Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" 1774 literarisch verarbeitet:

"Unter solchen Umständen […] schrieb ich den 'Werther' in vier Wochen, ohne dass ein Schema des Ganzen, oder die Behandlung eines Teils irgend vorher wäre zu Papier gebracht worden. […] Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt."

(aus: Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, Dreizehntes Buch, in: Ebd.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 9. Autobiografische Schriften I, München 1988, S. 587f.)

Vielen Autoren gibt Literatur aber auch die Möglichkeit, sich persönliche Dinge von der Seele zu schreiben oder sich Klarheit über existenzielle Fragen zu verschaffen. So bekannte Hans Magnus Enzensberger in einem in der ZEIT am 20. Januar 1995 erschienenen Interview:

"Die Poesie ist eine Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, über die man eigentlich nicht sprechen kann. […] In den Gedichten ist mein Privates gut aufgehoben. Sie zu schreiben, entlastet mich. Das ist nicht aufdringlich. Das bleibt diskret. Ich bin gern unauffällig."

(aus: Hans Magnus Enzensberger: Ich will nicht der Lappen sein, mit dem man die Welt putzt. Interview in DIE ZEIT Archiv. Ausgabe 04, Jg. 1995, S. 25)

Schreiben von Literatur kann aber auch politisch motiviert sein. Bertolt Brecht bekannte 1938 im Pariser Exil, in das er vor den Nationalsozialisten geflohen war:

"Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten."

(aus: Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: Ebd.: Gesammelte Werke, Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst, Frankfurt/M. 1990, S. 222)

Allerdings müssen es keinesfalls immer außergewöhnliche Umstände sein, die einen Autor zum Schreiben eines literarischen Werkes veranlassen. Manchmal gibt es auch ganz profane Gründe: Er muss Geld verdienen. Bei Autoren, die sich stark am Publikumsgeschmack orientieren, liegt diese Vermutung natürlich besonders nahe. Aber auch sehr anspruchsvolle Autoren geraten zuweilen in die Lage, zu schreiben, nicht nur weil die Schreiblust sie drängt, sondern weil finanzielle Probleme sie plagen.

So ist z. B. von Gotthold Ephraim Lessing bekannt, dass sein berühmtestes Drama, "Nathan der Weise", seine unmittelbare Entstehung nicht zuletzt akuten Geldsorgen des Autors verdankt. Gleichwohl hat Lessing ein Werk geschaffen, das ganz mustergültig die Idee der Toleranz einlöste und zeigte, dass Literatur eine moralische Aufgabe haben kann.

Ein anderes Ziel verfolgte ein Autor wie Robert Gernhardt. Er verband in seinen Texten zeitlebens die Lust am literarischen Spiel mit dem Wunsch, dies in humorvoller Weise zu tun und seine Leserinnen und Leser zu erfreuen. Heitere Gedichte sind deshalb Gernhardts Markenzeichen.

Es kann aber auch gut sein, dass Autoren und Autorinnen gar nicht immer so richtig bewusst ist, was sie zum Schreiben antreibt. Der berühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud jedenfalls hat eine ganz eigene Theorie darüber entwickelt, warum Dichter schreiben.

"Der Dichter tut dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert. Und die Sprache hat diese Verwandtschaft von Kinderspiel und poetischem Schaffen festgehalten, indem sie solche Veranstaltungen des Dichters […] als Spiele: Lustspiel, Trauerspiel, und die Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet. Aus der Unwirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber sehr wichtige Folgen für die künstlerische Technik, denn vieles, was als real nicht Genuß bereiten könnte, kann dies doch im Spiel der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden."

(aus: Sigmund Freud: 'Der Dichter und das Phantasieren'. Schriften zur Kunst und Kultur. Hrsg. von Oliver Jahraus. Stuttgart 2010, S. 102)

Dichtung entsteht nach Freud also aus dem Spiel der Fantasie, das einen Dichter antreibt, aus der Lust, neue Dinge zu erfinden. Literatur lässt sich in diesem Sinne als Einladung verstehen, an dem literarischen Spiel eines Autors als Leser teilzuhaben und ihn auf einer Reise zu begleiten, deren Anfang und Ende im Reich der Fantasie angesiedelt ist. Kehren wir als Leser zurück aus jener Welt, in die uns ein Autor entführt hat, sind wir zumeist Andere geworden, reicher an Erfahrungen, irritiert oder angeregt durch neue Sichtweisen, erstaunt über das, was jenseits unserer eigenen Welt alles möglich zu sein scheint. Und damit haben wir eine Erfahrung gemacht, die wir mit unzähligen Menschen vor uns teilen: Literatur ist faszinierend.

1.

Zu viel Ehrfurcht: So berühmte Dichter, da komme ich nicht ran, die verstehe ich nicht.

2.

Vorurteile zu haben: Goethe, Schiller, Brecht, Frisch usw. - alle veraltet.

3.

Für mich ist das Lesen bzw. Schreiben von Literatur nichts. Das passt nicht zu mir.

1.

Literatur hat Menschen schon in der Frühzeit fasziniert. Sie wurde mündlich vorgetragen und von Generation zu Generation weitergegeben.

2.

Mit der Erfindung der Schrift konnten Geschichten aufgeschrieben und so dauerhaft anderen Menschen zugänglich gemacht werden.

3.

Durch den Buchdruck erlangte ein Massenpublikum Zugang zur Welt des Buches.

4.

Gründe zum Schreiben von Literatur gibt es viele: z. B. Freude am Erschaffen von Neuem, eine unglückliche Liebe, existenzielle Fragen, politische Motive, Weltverbesserung, Geldsorgen oder die Freude am humorvollen Selbstausdruck.

Wolfgang Steinig: Als die Wörter tanzen lernten. Ursprung und Gegenwart von Sprache, Heidelberg 2006.
Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 2002.
Roger Chartier & Cavallo Guglielmo (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt/M., New York 1995.