TV & Serie // “Wermut” Diese Serie stellt das Doku-Genre auf den Kopf

1953 stürzt Frank Olsen aus dem Fenster eines Hotelzimmers. Ist es Selbstmord – oder wurde er gestoßen? Diese Frage treibt seinen Sohn bis heute um. Filmemacher Errol Morris hat daraus eine packende Doku-Fiction-Serie gemacht.

Von: Vanessa Schneider

Stand: 19.12.2017 | Archiv

Ein älterer Mann am Laptop spricht in ein Mikrofon | Bild: Mark Schafer/Netflix;

Schon mal von MK ULTRA gehört? Das war im Kalten Krieg ein ultrageheimes Forschungsprojekt der CIA, mit dem Feinde und Mitarbeiter gefügig gemacht werden sollten: Gehirnwäsche, Bewusstseinskontrolle, Drogenexperimente.

Was sich heute wie die schlimmste Fantasie eines Paranoikers anhört, hat sich in den 70er-Jahren als Wahrheit herausgestellt. So erfuhr auch der junge Psychologe Eric Olsen, dass der vermeintliche Selbstmord seines Vaters Frank Olsen doch keiner war.

Unfall, Selbstmord – oder doch ein Mord?

Frank Olsen, ein CIA-Mitarbeiter und Bakteriologe, starb am 28.November 1953. Er war aus dem Fenster seine Hotelzimmers 13 Stockwerke tief gestürzt. Wurde er geschubst? Sprang er? Oder war es ein tragischer Unfall? Mitte der 70er scheint die Antwort gefunden. Durch einen LSD-Versuch der CIA sei Frank Olsen paranoid und labil geworden und habe sich aus dem Fenster gestürzt. Von diesem Experiment wusste Frank Olsen nichts. Die Familie erhält Schmerzensgeld, die Regierung entschuldigt sich – Akte zu.

Als wäre diese Enthüllung nicht schon brisant genug, stößt Olsens Sohn Eric Jahre später auf Indizien, die drauf hinweisen, dass das noch längst nicht alles war. Eric vermutet: Die CIA wollte seinen Vater gezielt loswerden, weil der sich geweigert hatte, an biologischen Waffen zu arbeiten. Der Investigativ-Journalist Seymore Hersh hat eigene Untersuchungen angestellt und gibt Eric Olsen recht. Hersh hatte den CIA-Skandal in den 70ern aufgedeckt, kann aber mit seinem Wissen nicht an die Öffentlichkeit gehen, weil er seine Quellen schützen muss.

Zwischen klassischer Doku und Hochglanz-Krimi

"Wermut" erzählt die ganze haarsträubende Geschichte von Frank Olsens Tod und der Wahrheitssuche seines Sohns nach. In klassischen Interviewsequenzen berichtet ein gebrochener, resignierter Eric Olsen. Archivbilder, Fernsehberichte und CIA-Dokumente illustrieren seine Recherchen. Und dann stellt die Serie das Genre Dokumentation auf den Kopf: Filmemacher Errol Morris rekonstruiert die letzten neun Tage von Frank Olsen bis zu dessen Tod nach, in Filmszenen wie in einem Hochglanz-Krimi.

Diese stylishen, noir-mäßigen Szenen mit langen Kamerafahrten und dramatischem Licht könnten genauso auch aus der Serie "Twin Peaks" stammen. "Wermut" ist wirklich Filmkunst: Die Einstellungen und Montagen sind oft geradezu trippy. Da gibt es kaleidoskopische Split Screens, Kameras lugen aus krummen, schiefen Winkeln – und die Musik schlägt Kapriolen. Das ist nicht nur wahnsinnig spannend, das sieht anders als bei den Doku-Serien "The Jinx" oder "Making A Murderer" auch filmisch fantastisch aus.

Filmkunst, die Genregrenzen sprengt

Im Gegensatz zu vielen anderen True-Crime-Chronisten will der vielfach preisgekrönte Dokumentarfilmer Errol Morris mit "Wermut" keine neue Untersuchung provozieren. Als Zuschauer sitzt man am Ende da und denkt sich: Fuck. Hat die CIA echt unliebsame Mitarbeiter ermordet und dann ein irres Ablenkungsmanöver inszeniert? Haben die Spinner am Ende etwa doch recht? Morris wagt es nicht, diese Fragen abschließend zu beantworten.

Stattdessen hat er ein Kunststück vollbracht: Morris porträtiert den Sohn, der immer noch vom Geist seines Vater heimgesucht wird – gleichzeitig setzt er dessen Recherchen geschickt zu einer tragischen Geschichte von shakespeare‘schen Ausmaßen zusammen. Errol Morris versetzt uns Zuschauer in die Lage von Eric Olsen. Er lässt uns teilhaben am Leid und an der Verunsicherung eines Mannes, der nicht loslassen kann.

"Wermut"  ist bei Netflix abrufbar.

Sendung: Hochfahren vom 20. Dezember 2017 ab 7 Uhr