Die Chefin von National Public Radio bei einem Auftritt im November 2019
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Katherine Maher

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"Wahrheitssuche könnte ablenken": US-Rundfunkchefin unter Druck

US-Medienmanagerin und Ex-Wikimedia-Geschäftsführerin Katherine Maher leitet neuerdings das auf Spenden angewiesene National Public Radio. Weil sie grundsätzlich an der Wahrheit zweifelte, werfen ihr Rechtskonservative "liberale Intoleranz" vor.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"In Wahrheit ist diese Woche die Parodie verstorben", ereiferte sich Gerard Baker, ein Kolumnist der ehrwürdigen britischen "Times" [externer Link]. Diese Kunstform habe ohnehin schon seit längerem darnieder gelegen, weil es zunehmend unlustig geworden sei, "extreme Ideologien" zu ironisieren: "Wenn eine Glosse weniger absurd erscheint als die zugrundeliegende Tatsache, ist das Schicksal der Parodie besiegelt." Inzwischen sei sie von ihrem schweren Schicksal "erlöst" worden, zu Tode "geknüppelt" von einer jeder Karikatur spottenden "Radikalen". Von "liberaler Intoleranz" war die Rede.

Gemeint ist Katherine Maher, seit 25. März Chefin von National Public Radio (NPR), dem amerikanischen Rundfunk-Syndikat, das überwiegend von Stiftungsgeldern und Spenden lebt und am ehesten mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Europa vergleichbar ist. Die versierte Netz-Aktivistin war bis April 2021 Geschäftsführerin von Wikimedia, der Stiftung, die Wikipedia verantwortet und arbeitete seitdem für US-Denkfabriken und als Beraterin des Außenministeriums.

"Das Zuverlässigste, das wir wissen"

Bei NPR noch keinen vollen Monat im Amt, muss sich Maher jetzt für bereits mehrere Jahre zurückliegende Äußerungen über die bisweilen mühsame journalistische Wahrheitssuche beschimpfen lassen. Unmittelbarer Anlass dafür: Redakteur Uri Berliner hatte seinem Arbeitgeber NPR öffentlich eine "linke Schlagseite" vorgeworfen, war daraufhin ohne Bezüge fünf Tage vom Dienst suspendiert worden und hatte schließlich von sich aus gekündigt. Rechte Medien sind seitdem aufgebracht, sogar russische Propagandisten ließen es sich nicht nehmen, Katherine Mahers vermeintliche Probleme mit der Wahrheit aufs Korn zu nehmen.

In einem Vortrag über die "Ausbalancierung von Wahrheit und Glauben" [externer Link] hatte die damalige Wikimedia- und jetzige NPR-Chefin im August 2021 darauf verwiesen, dass in politischen und weltanschaulichen Alltagsgesprächen nichts polarisierender sei als die Frage, was wahr sei: "Aber die Leute, die unsere Artikel schreiben, sind nicht auf die Wahrheit konzentriert, sondern auf etwas anderes, nämlich auf das Zuverlässigste, was wir zum aktuellen Zeitpunkt wissen können." Sie sei nach mehreren Jahren bei Wikimedia zum Ergebnis gekommen, dass es in wirklich heiklen Fragen nicht immer empfehlenswert sei, mit der Suche nach der Wahrheit zu beginnen und zu versuchen, andere von der Wahrheit zu überzeugen.

"Unterschiedliche Wahrheiten"

"Sich auf die Wahrheit zu beziehen, könnte ablenken", so Katherine Maher, "und zwar bei dem Bemühen, eine gemeinsame Gesprächsgrundlage zu finden und die Dinge zu erledigen. Das bedeutet keineswegs, dass die Wahrheit nicht existiert oder unwichtig ist. Ganz klar, die Suche nach der Wahrheit hat uns dazu gebracht, großartige Dinge zu tun und zu lernen." Tatsächlich gebe es jedoch "viele verschiedene Wahrheiten". Jeder habe seine eigene, die mit der eines anderen nicht notwendigerweise deckungsgleich sein müsse: "Das liegt daran, dass die Wahrheit für viele davon abhängt, dass sie die Fakten über die Welt mit ihrem Glauben über die Welt abgleichen. Deshalb haben wir unterschiedliche Wahrheiten, die davon abhängen, woher wir stammen, wie wir aufgewachsen sind und wie uns andere wahrnehmen."

Trumps "Truth Social" in Großbuchstaben

Diesen eher philosophischen Exkurs über das Spannungsverhältnis von Glauben und Wissen verkürzten Fox News und andere Medien auf den Satz, Katherine Maher halte die Wahrheitssuche für bloße Ablenkung [externer Link]. Im Übrigen habe sie ein gestörtes Verhältnis zur Meinungsfreiheit, die im ersten Verfassungszusatz verankert ist und in den USA traditionell deutlich großzügiger ausgelegt wird als in Europa. Maher hatte zu bedenken gegeben, dass es dadurch für Netzanbieter schwieriger werde, extremistische Ansichten und Fake News zu unterbinden.

Mahers gesamte Karriere sei ein "wokes Elite-Bingo", wetterte die populistische "New York Post". Selbst wohlmeinende Beobachter schrieben über Mahers Einlassungen [externer Link]: "Wenn man sich das ganze Video ansieht, scheint sie an die Wahrheit zu glauben, aber es fällt ihr wirklich schwer zu erklären, was das ist."

Bemerkenswert ist die hitzige Debatte nicht zuletzt deshalb, weil ausgerechnet Donald Trump das von ihm im Oktober 2020 gegründete Online-Diskussionsforum "Truth Social" nannte, also schon im Titel einen Wahrheitsanspruch äußerte, sogar in Großbuchstaben. Damit stellte er sich, was den Namen betrifft, direkt in die Tradition der sowjetischen "Prawda" (Wahrheit), dem 1912 gegründeten Zentralorgan der Kommunisten.

"Allenfalls so kostbar wie eine Perle"

Dass "Wahrheit" schwer fasslich ist, berichtet schon der in diesem Zusammenhang viel zitierte Verfasser des Johannes-Evangeliums, der Jesus beim Verhör sagen lässt, er lege für die "Wahrheit Zeugnis ab". Doch als der römische Statthalter Pontius Pilatus fragt, was Wahrheit eigentlich sei, bekommt er keine Antwort, worüber zahlreiche Abhandlungen geschrieben wurden, etwa von Francis Bacon ("Essays Of Truth", 1625), der darin die interessante Frage stellte, ob es schlimmer sei, sich selbst oder andere zu belügen. Seine Antwort: Menschen hätten einen natürlichen Hang zur Unaufrichtigkeit.

Originell auch Bacons Bonmot, die Wahrheit könne allenfalls den Preis einer Perle erreichen, die bei Tageslicht am besten zur Geltung komme, niemals jedoch so kostbar werden wie ein Diamant oder ein Rubin, die erst bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen richtig beeindruckten. Wenn man die Menschen von Eitelkeiten, Schmeicheleien, Fehleinschätzungen und ähnlichem "befreie", bleibe womöglich nur noch Melancholie übrig.

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