Am 6. Juli bei einem Treffen in der Regierungszentrale
Bildrechte: Alexander Kazakov/Picture Alliance

Nachdenkliche Pose: Wladimir Putin im Kreml

Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

"Völlige Ohnmacht": Merkt Putin Verfall seiner Macht nicht?

Kreml-Mitarbeiter zeigen sich verwundert, dass der Präsident nicht gegen Söldner-Rebell Prigoschin vorgeht. Verteidigungsminister Schoigu soll sogar vor seiner Ablösung stehen: "Das System ist mittlerweile so schwach, dass alles tödlich enden kann."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die britische "Financial Times" sorgt mit einer Analyse über Putins angeblich ausgehöhlte Machtposition für Aufsehen. Demnach sprach ein "hochrangiger" Kreml-Mitarbeiter von "völliger Ohnmacht" des Präsidenten und ergänzte: "Putin merkt einfach nicht, dass wir uns in eine Bananenrepublik ohne Bananen verwandeln." Ein Oligarch beklagte im selben Artikel, keiner wolle Verantwortung übernehmen, solange Putin noch amtiere: "Warum die Mühe? Man holt sich nur einen Satz heiße Ohren, das ist das Einzige, das passieren wird." Im Übrigen fühle sich Putin nach wie vor "ungeschriebenen Vereinbarungen" verpflichtet: "Für einen russischen Zaren ist er gewissermaßen sogar menschlich. Er ist nicht Gandhi, aber im Vergleich zu Stalin behandelt er die Menschen recht zuvorkommend."

In russischen Blogs allerdings ist schon von einer "bipolaren Störung" des Kremls die Rede, vor allem unter den Ultrapatrioten: Sie werden nach eigenen Worten irre an Putins Gebaren, der den Söldnerführer Prigoschin einerseits in der Propaganda schmähen lässt, andererseits in keiner Weise behelligt, obwohl er von "Verrat" gesprochen hatte, den es zu bestrafen gelte. Außerdem sind die Patrioten irritiert, dass der russische Finanzminister Anton Siljanow immer verzweifelter über seine Haushaltslöcher jammert, während Putin behauptet, Wirtschaft und Staat gehe es hervorragend. Ähnliches gilt für den Absturz des Rubels, der in der Propaganda schön geredet wird. Beides spricht für Realitätsverweigerung bei Putin.

"Weitere Überraschungen sind möglich"

Der im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow schreibt in seinem Blog, Putin sei anders als einst Stalin längst dem "schönen Schein" erlegen und habe sich in den eigenen Schlingen gefangen: "Alle Ereignisse rundherum – von der Lage an der Front bis zum Putsch Prigoschins – deuten darauf hin, dass der Präsident verzweifelt schwächelt." Gegenüber der "Financial Times" bekräftigte er seine Meinung: "Das System ist mittlerweile so schwach, dass alles tödlich enden kann." Als Beispiel für Putins erschütterte Autorität nennt Galljamow die oben erwähnte jüngste Volte der TV-Propaganda.

Kameras zeigten den Prunk in der Villa von Privatarmee-Oligarch Prigoschin, um ihn als raffgierig zu brandmarken, aber insgeheim bekam der Rebell beschlagnahmte Gegenstände zurück, sogar seinen gravierten Glock-Revolver. Also sei die "Durchsuchungsaktion" nur Show gewesen, um die Bevölkerung zu beruhigen, so Galljamow. Tatsächlich habe es einen Deal gegeben, wonach Prigoschin weiterhin unbehelligt seinen Geschäften nachgehen könne: "Gleichzeitig trauen sich alle gegenseitig nicht über den Wege und verdächtigen sich. Es sind also weitere Überraschungen möglich."

Prigoschins Fans machen sich derweil mit unfreiwillig komischen, aber vielsagenden Elogen auf den umtriebigen Oligarchen bemerkbar: Die Goldbarren, die er gehortet habe, seien als Rohmaterial zum Prägen von "Verdienstorden" seiner Kämpfer vorgesehen gewesen, und der Vorwurf aus dem Kreml, Prigoschin habe die Barren "illegal aus Afrika" importiert, könne schon deshalb nicht stimmen, weil alle einen russischen Prägestempel trügen.

Macht Schoigu elf Jahre Amtszeit "rund"?

Bemerkenswert sind Spekulationen, wonach Verteidigungsminister Sergej Schoigu vor seiner Ablösung stehe. Sollte er tatsächlich gehen müssen, wäre Putin in der Tat schwer angeschlagen, denn Prigoschin hatte seinen Aufstand damit begründet, es gehe ihm um eine personelle Neuordnung an der Armeespitze. Seit Monaten beschimpft er Oligarch Schoigu und dessen Generalstabschef Gerassimow als gleichermaßen unfähig. Ultrapatriotische Blogger wie Igor Strelkow stimmten in diese Hassgesänge ein und reden nur noch von "alten Elefanten und Einhörnern", wenn sie Putin und Schoigu meinen: "Sich von Illusionen zu verabschieden bedeutet, den schönen, komfortablen rosa Planeten zu verlassen und in die grausame und raue reale Welt zu wechseln. Wo etwas getan werden muss. Bei Ponys geht es eher darum, das Leben zu genießen und sich wohl zu fühlen. Arbeit ist nichts für sie."

Jetzt war in einflussreichen russischen Blogs zu lesen, Schoigu wolle zwar gern bis November im Amt bleiben, um elf Jahre an der Ministeriumsspitze rund zu machen und damit der am zweitlängsten amtierende Chef in der jüngeren russischen Geschichte zu werden, doch diesen Wunsch werde ihm der Kreml wohl nicht erfüllen. "Nach dem Krieg wird die russische Gesellschaft sicherlich Rechenschaft von den Behörden verlangen. Der Widerstand gegen einen äußeren Feind wird durch den Wunsch nach Reformen und Veränderungen ersetzt", mutmaßte Blogger Nikolai Kolosow: "Und der verspätete Rücktritt Schoigus wird offensichtlich niemanden zufriedenstellen."

"Dort kann er seinen Traum verwirklichen"

Mit Ministerpräsident Mischustin habe Putin schon die weitere Zukunft Schoigus besprochen, hieß es in Debattenforen: Der Mann solle sich künftig um Sibirien kümmern, seine Heimat, wo er aufwändige Bauprojekte betreuen soll: "Dort kann er seinen alten Traum verwirklichen." Dafür sollten ihm die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Der bisherige stellvertretende Ministerpräsident Dmitri Tschernyschenko sei als Nachfolger ausgewählt worden. Er sei "nicht in Korruptionsskandale verstrickt" und ein guter Manager. Traditionell bereichern sich im Verteidigungsministerium, wo es um viel Geld geht, besonders viele Mitarbeiter. Als Hinweis auf Schoigus sinkenden Stern wurde darauf verwiesen, dass der Minister neuerdings in zivil auftrete.

Politologe Andrej Gusij schrieb dazu: "Sollte das innerhalb des nächsten Monats geschehen, wäre es das erste Mal, dass der russische Präsident Wladimir Putin unter Druck, in diesem Fall eines Aufstands, die Entscheidung für einen Rauswurf trifft. Das passiert in der Regel nicht und ein Eingreifen Dritter nimmt ihm die Entscheidung aus den Händen, auch wenn sie naheliegend ist." Es sei generell nicht "logisch", während eines Krieges den Verteidigungsminister zu ersetzen, denn es werde automatisch auf allen Ebenen das Gerangel um neue Loyalitäten beginnen. Sinnvoller sei es allemal, Schoigu nach der Präsidentschaftswahl im März 2024 in die Wüste zu schicken.

"Heiligkeit" der Macht bedroht?

Andere Beobachter sehen durch die Vorkommnisse um Prigoschin das "mystische" Element von Putins Herrschaft in Gefahr: "Das Konzept der Einheit von Machthabern und Volk ist für die russische Regierung von grundlegender Bedeutung. Das Hauptmerkmal der Macht in Russland ist ihre Heiligkeit. Die Menschen müssen sich mit den Behörden identifizieren können. Prigoschins Rebellion versetzte nicht so sehr der Macht selbst einen Schlag, sondern vielmehr ihrer Heiligkeit."

Schriftsteller German Sadulajew glaubt, dass das (ältere) russische TV-Publikum Putin weiterhin die Macht sichern werde, schließlich sei es gegenüber den Netz-Aktivisten in der Mehrheit: "Wir anderen haben verstanden, dass diese Regierung eher problematisch ist und über eher begrenzte Managementfähigkeiten verfügt. Und wir haben verstanden, dass diese Kraft in einem Notfall möglicherweise nicht ausreicht, um zu überleben. Wir sahen, dass sie praktisch keinen Bestand hatte. Dabei half ihr nur die Unterstützung von außen, in Form von Lukaschenko."

Bei der Mehrheit der Russen habe Putins Ansehen gleichwohl nicht gelitten, behauptet der russische Meinungsforscher Denis Wolkow. Der Präsident habe aus deren Sicht "alles richtig" gemacht und die Rebellion sei zu schnell beendet gewesen, als dass normale Bürger Zeit gehabt hätten, sich zu ängstigen: "Er hielt zügig eine Ansprache und bewies mehrmals, dass er Bescheid wusste. Er gab Einschätzungen ab, trat an die Seite der Armee und des Staates und verurteilte die Rebellen. Und das hat für viele Menschen immer einen gewissen symbolischen Wert. Aus Sicht seiner Anhänger hat Putin getan, was von ihm erwartet wird."

"Putin steht vor einem Dilemma"

Das US-Fachblatt "Foreign Affairs" will die "wahre Sicherheitskrise" Putins in seinen eigenen Geheimdiensten erkennen: Sie hätten ihn nachweislich falsch informiert, was natürlich ein Grund für die Desorientierung des Präsidenten sein könnte: "Nach der Prigoschin-Krise steht der russische Präsident Wladimir Putin vor einem Dilemma. Es ist klar geworden, dass die größere Bedrohung für sein Regime möglicherweise nicht die Meuterei Prigoschins selbst war, sondern die Reaktion des Militärs und der Sicherheitsdienste auf diese Meuterei. Jetzt muss er einen Weg finden, mit diesem Geheimdienst- und Sicherheitsversagen umzugehen, ohne neue Unsicherheit über seine Machtposition zu schaffen. Und anders als in früheren Krisen kann er sich möglicherweise nicht mehr auf die Sicherheitsbehörden verlassen, mit denen er seit langem für politische Stabilität sorgt."

Die Lethargie Putins werde auf die Stimmungslage in Russland fatale Auswirkungen haben: "Die militärische Moral ist nur eines der Dinge, über die sich Putin Sorgen machen muss. Sein Umgang mit den Sicherheitsdiensten nach der Krise könnte seine Machterhaltung noch stärker gefährden. Bis jetzt hat er einfach daneben gestanden. Obwohl in Moskau viel über Repressionen nach dem Aufstand geredet wurde, betreffen diese Gerüchte einstweilen nur das Militär." Den Geheimdienst FSB und die Nationalgarde habe der Präsident erstaunlicherweise völlig "unangetastet" gelassen, was auch deshalb bemerkenswert ist, weil die Gerüchte wollen, dass Prigoschin mit dem FSB bestens "könne", ganz im Gegensatz zur Armeeführung.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!