Der russische Präsident verlässt sein Flugzeug
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Putin in Peking

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"Putin hat keine Konkurrenten": Russland zweifelt an Demokratie

Kremlsprecher Peskow stellte klar, dass der russische Präsident bei der nächsten Wahl keinen Wettbewerber fürchten muss, doch damit löste er Entsetzen aus. Der Rat von Wut-Bloggern: "Dann sagen sie die Wahlen ab und errichten sie eine Monarchie."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow ist ganz offenbar kein Fan von Wahlen. Jedenfalls ließ er die Russen schon am 7. Oktober wissen, dass Urnengänge während der "Spezialoperation" in der Ukraine seiner Meinung nach nur Schaden anrichten. Deshalb empfahl er, auf die im März geplante Präsidentschaftswahl zu verzichten: "Es liegt auf der Hand, dass viele unfreundliche Länder, darunter auch der gesamte kollektive Westen, eine solche Großveranstaltung ausnutzen und für Provokationen nutzen werden. Unsere Feinde werden versuchen, die Lage innerhalb des Staates aufzumischen." Es gebe daher nur zwei Möglichkeiten, so Kadyrow: Die Wahl zu verschieben oder sie mit nur einem Kandidaten abzuhalten, nämlich Putin: "Es muss berücksichtigt werden, dass wir keine andere Person haben, die in der modernen Realität Russland schützen kann. Darüber sollte jeder nachdenken."

"Peskow ist eine Art Sabotage verwickelt"

Kremlsprecher Dmitri Peskow nahm sich diesen Rat wohl zu Herzen. Er sagte auf einer seiner Pressekonferenzen: "Präsident Putin ist natürlich der Politiker und Staatsmann Nummer eins in unserem Land. Was meine persönliche Meinung betrifft, obwohl ich kaum das Recht habe, mich zu äußern, kann ich ungeachtet der Regeln sagen, dass er keine Konkurrenten hat und in der Russischen Föderation auch keine haben kann."

Mit dieser Stellungnahme löste Peskow eine erregte Debatte aus, die nicht frei ist von Verschwörungstheorien, Spott und aberwitzigen Spekulationen. Der Polit-Blogger Sergej Udalzow schrieb: "Peskow ist in eine Art Sabotage verwickelt. Wenn es keine Konkurrenten gibt, dann sollten sie die Wahlen absagen und eine Monarchie errichten. Wenn sie aber Wahlen abhalten wollen, dann sollten sie einen Pressesprecher austauschen, der mit seinen nervigen Aussagen absichtlich jedes Interesse der Wähler lähmt, an diesen Wahlen teilzunehmen."

"Als Beispiel könnte man Syrien nehmen"

Blogger und Satiriker Ilja Ananjew war der Meinung, dass Russland einen "langen Weg" in seinem Verhältnis zu Putin hinter sich habe, der in sechs Phasen eingeteilt werden könne: "Stufe 1 – Russland weiß nicht, wer Putin ist. Stufe 2 – Russland lernt ihn kennen. Stufe 3 – Russland verliebt sich in Putin. Stufe 4 – Russland hält ein Leben ohne Putin für unmöglich. Stufe 5 – Russland hat sich an Putin gewöhnt. Stufe 6 – Russland kann sich nicht mehr vorstellen, Putin einem anderen zu überlassen." Der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Sergej Alexaschenko scherzte bitter, es sei in Russland an der Zeit, Wahlen durch Volksabstimmungen zu ersetzen: "Als Beispiel könnte man Syrien nehmen, wo 2007 die Frage wie folgt formuliert wurde: 'Vertrauen Sie Baschar al-Assad, das Land bis 2014 zu regieren?'"

Deutlich ernster urteilte ein Beobachter: "Eine solche Aussage [von Peskow] ist in einem demokratischen politischen System unmöglich. Wenn das so ist, warum dann Wahlen? Dabei geht es nicht mal um Geldverschwendung, sondern um die Sinnlosigkeit des Geschehens und den Zeitverlust. Eine solche Aussage widerspricht jeder formalen Logik. Wenn es heute keine Konkurrenten gibt, heißt das nicht, dass es sie grundsätzlich nicht geben kann."

"Wir brauchen zumindest etwas Bewegung"

Der russische Politologe Alexander Kinew begründete, warum Putin auf keinen Fall ohne Gegenkandidaten antreten kann: "Warum brauchen die Behörden bei den Präsidentschaftswahlen zumindest einige gemäßigte Liberale? Weil Wahlbeteiligung erforderlich ist und es bei einem langweiligen Wahlkampf und fehlender Zuspitzung nicht möglich ist, diese sicherzustellen. Es ist ein Risiko, mehr als üblich zu manipulieren. Auf jeden Fall werden Anomalien bei den Zahlen ans Licht kommen und ohne Beobachter könnten sie die Wahl regelrecht diskreditieren. Hier geht es um den Einsatz des Budgets und die Berichterstattung, nicht um das Vorhandensein von Kandidaten. Wir brauchen zumindest etwas Bewegung, die an das wahre Leben erinnert."

Ein einziger "Liberaler" sei gefährlich, weil er "plötzlich gute Leistungen" zeigen, also Putin in Bedrängnis bringen könnte: "Daher ist es klüger, entweder überhaupt keinen zuzulassen (das heißt, es wird Radau geben, aber niemand anders auf dem Stimmzettel stehen) oder mehrere zuzulassen, damit der Großteil der Zeit mit Scheißkram verschwendet wird."

"Seele des russischen Wählers mysteriös"

Ganz anderer Meinung ist Politikwissenschaftler Konstantin Kalaschew: "Kinew liegt in diesem Fall daneben. Das passt nicht zu den Wahlergebnissen der letzten Jahre. In Russland führen umkämpfte Kommunal- und Regionalwahlen letztendlich zu einer geringen Wahlbeteiligung, bei unumstrittenen Volksabstimmungen ist es genau umgekehrt. Je weniger Konkurrenz, desto höher die Wahlbeteiligung. Hat das irgendeine Logik? Auf den ersten Blick keine. Aber das ist eine Tatsache. In Europa steigern Wettbewerb und Streit die Wahlbeteiligung, hier ist das Gegenteil der Fall. Die Seele des russischen Wählers ist mysteriös."

Gegenüber der "Nesawissamaja Gazeta" spekulierte Kalaschew, der Kreml könne versucht sein, oppositionelle Kandidaten ins Rennen zu schicken, um dem Westen zu demonstrieren, dass es in Russland nur "einen kleinen Prozentsatz" von Menschen gibt, die den Krieg ablehnten.

"Zustand der Hyperfragilität"

Ein weiterer Blogger verwies darauf, dass Russland ein riesiges Land mit Atomwaffen sei: "Unter solchen Bedingungen kann eine Führungsfigur, zu der es keine Alternative gibt, nur auf zwei Grundannahmen beruhen: 1. Das Land erlebt ein derart schnelles, explosionsartiges Wachstum, Geschwindigkeit und Ausmaß des Wandels sind so unerreicht hoch und so abhängig von einem Genie, dass die Gefahr besteht, dass jeder Machtwechsel den Erfolg gefährdet. 2. Das Land hat jedwede Stabilität hinter sich gelassen und ist in einen Zustand der Hyperfragilität eingetreten, in dem die kleinste Neuordnung alles völlig zerstören kann."

Peskows Bemerkung sei "alarmierend" und "verpuppe das politische Systems Russland unnötig", urteilte ein aufgebrachter Kommentator: "Es ist offensichtlich, dass das derzeitige Staatsoberhaupt so lange regieren wird, wie er will und so lange er kann; in Russland gab es lange Zeit keine so komfortablen Bedingungen für die Macht eines nationalen Anführers, nicht einmal bei den Generalsekretären der KPdSU." Damals habe das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei den engsten Führungszirkel, das Politbüro, ständig im Auge gehabt und dort für "Gleichgewicht" gesorgt.

"Wir verrotten im Gefängnis"

Der Moskauer Polit-Stratege Ramil Karisow äußerte achselzuckend, Peskow habe nur eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen: "Es gibt immer Wähler, die unentschlossen sind, aber höchstwahrscheinlich werden sie überhaupt nicht wählen oder bis zum Frühjahr ihre Position aufgrund des Wahlkampfs ändern, aber das ist eine verschwindend geringe Zahl. Wahlen sind ein Instrument der Demokratie. Ja, die Zustimmung für den Präsidenten ist zwar hoch, aber es besteht definitiv keine Notwendigkeit, den Bewohnern des Landes die Demokratie zu nehmen."

Der im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow erinnerte daran, dass der junge Putin sich der Risiken einer Gewaltherrschaft durchaus bewusst gewesen sei. So habe er einst dafür gesorgt, dass Haftbefehle nur noch von Richtern, nicht mehr von Staatsanwälten ausgefertigt werden können. Bei der Gelegenheit habe Putin sinngemäß gesagt: "Wir müssen einsehen, dass wir nicht unser ganzes Leben lang auf unseren Stühlen sitzen werden. Wir müssen früher oder später gehen und bis dahin müssen wir ein System geschaffen haben, das nicht unkontrolliert ist. Denn sonst werden wir ohne Gerichtsverfahren in Zellen geworfen, von Wärtern geschlagen, wir verrotten im Gefängnis."

Putin habe die eigenen Sicherheitskräfte sogar ermahnt, sich an das Schicksal ihrer Vorgänger zu erinnern – der Geheimdienst-Generäle unter Stalin, von denen die meisten ein Opfer der von ihnen selbst geschaffenen Unterdrückungsmaschinerie wurden, etwa die NKWD-Chefs Genrich Jagoda und Nikolai Jeschow.

"Was ist mit Ersatz für Krankheits- oder Urlaubszeiten?"

Russische Leser zeigten sich fassungslos über Peskows Einlassungen: "Es gibt keine Konkurrenten, weil sie die Konkurrenten über Jahrzehnte hinweg ganz und gar beseitigt haben. Das ist sehr schlimm, denn so kommt es zur Revolution und zum blutigen Sturz der Machthaber, der uns für ein weiteres Jahrzehnt gegenüber anderen Ländern zurückwerfen wird. Und die höchsten Autoritäten von heute werden daran die ganze Schuld tragen. Zumindest sind die Voraussetzungen dafür bereits vorhanden: Sie passen die Verfassung ihren Bedürfnissen an." Andere verglichen Putin mit KP-Chef Breschnew, der für Jahre der Stagnation und des Niedergangs steht. Die russische Politik habe eben kein "wettbewerbsorientiertes Umfeld".

Alles halb so dramatisch, meinte ein offenbar leidgeprüfter Zeitgenosse: "Ich bin so alt, dass ich mich an die gleichen Äußerungen im Fernsehen über Jelzin erinnere. Wenn nicht er, wer dann? Er hatte keine Konkurrenten und konnte auch keine haben. Wenn es keinen Jelzin gibt, wird es kein Russland geben; er ist unser einziger Retter. Aber Jelzin ist nicht mehr unter uns, und die Welt ist nicht zusammengebrochen, Russland ist nicht verschwunden." Eher humoristisch dagegen die Bemerkung: "Was, es gibt nicht einmal einen möglichen, hypothetischen Nachfolger? Was ist mit einem Ersatz für Krankheits- oder Urlaubszeiten?"

Nawalny: "Ja, ich bin gegen Putin"

Der inhaftierte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nutzte einen Auftritt vor Gericht zu einer weiteren Abrechnung mit Putin: "Wir haben das Recht, uns politisch zu betätigen, ich habe das Recht, vor diesem Gericht ganz offen zu sagen: Ja, ich bin gegen Wladimir Putin. Ja, ich bin gegen seine Macht und ich werde sie bekämpfen." Seine Anwälte seien festgenommen oder geflohen, so der prominente Dissident, seine gesamte Kommunikation werde überwacht: "Selbst darin sehen die Behörden eine schreckliche Gefahr. Die Gefahr ist so groß, dass bis zu drei Anwälte demonstrativ festgenommen werden mussten. Nun, das ist eine Erschütterung des Systems. Sie haben Angst. Sie sind gar nicht so stark, wie sie denken. Deshalb möchte ich noch einmal alle dazu aufrufen, das zu tun, wozu ich immer alle aufgerufen habe. Handeln, agitieren und stimmen Sie bei jeder Gelegenheit gegen Putin und gegen 'Einiges Russland'."

Bis zum 15. Januar nächsten Jahres will Nawalny nach eigenen Worten seine "Strategie" für die Präsidentschaftswahl bekanntgeben. Er hofft offenbar entgegen der jüngsten Entwicklung darauf, dass sich die liberale russische Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen kann.

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