Wer den Weg der Kontemplation geht, macht oft relativ bald tiefgreifende Erfahrungen: die Einheit von allem mit allem, Glückseligkeit, Erleuchtung. Alle Mystikerinnen und Mystiker der verschiedenen Religionen warnen aber davor, sich an diese Erfahrungen zu klammern und sie festhalten zu wollen. Die beseligenden Erfahrungen müssen links liegen gelassen werden. Auf dem Weg zur "Unio mystica", der Einheits- oder Erleuchtungserfahrung liegen noch ganz andere Abschnitte, etwa das, was Johannes vom Kreuz als "die dunkle Nacht der Seele" beschreibt. (…) Zudem ist das Festhalten-Wollen an der seligen Verzückung eine eher egozentrische Angelegenheit. Kein Geringerer als der große Mystiker Meister Eckhart schrieb: "Wäre der Mensch so hoch in Verzückung wie ehedem Sankt Paulus, und er wüsste einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich halte es weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung und dientest in größerer [Liebe] dem Bedürftigen." Begeisterung und starke emotionale Erlebnisse sind gut und nützlich, sie können Menschen die Tür zu einem ernsthaften spirituellen Suchen öffnen. Wer allerdings stets nur die religiöse Ekstase sucht, läuft Gefahr, das Eigentliche zu verpassen.

Entnommen aus: Tilman Haberer "Kirche am Ende. 16 Ansätze für das Christsein von morgen", Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2023