Schüchternheit Mit gesenktem Blick durchs Leben
Schüchternheit ist keine besonders erstrebenswerte Eigenschaft. Wer schüchtern ist, wirkt gehemmt, scheu und unsicher. Viele Schüchterne haben Angst vor dem Urteil ihrer Mitmenschen. Lieber wären sie jemand anders.

Die Tiefenpsychologie von Alfred Adler verknüpft Schüchternheit mit Selbstbezogenheit und der Unfähigkeit, sich für die Bedürfnisse anderer zu öffnen. Allerdings kommt es darauf an, wer einem beim "Scheitern" zusieht: die Kollegen, der Chef, die Nachbarn oder irgendein Fremder? Die schamvollsten Situationen entstehen in Anwesenheit von Mitmenschen, mit denen man sich besonders verbunden fühlt.
"Die Schüchternheit ist ein merkwürdiger Seelenzustand, eine Dimension, die sich der Einsamkeit öffnet. Sie ist untrennbares Leiden, als habe man zwei Epidermen, und als werde die zweite innere Haut gereizt und verschließe sich dem Leben."
Pablo Neruda, chilenischer Schriftsteller
Fremdes löst bei Kindern Angst aus
Die ersten Monate im Leben eines Kindes sind noch grenzenlos: Ein Baby fühlt sich eins mit seiner Umwelt, es wird freundlich angelächelt. Ab etwa acht bis zwölf Monaten ändert sich dieser Blick: Alle außer Mama und Papa sind nun für eine Zeit lang Fremde. Und Fremdes macht mitunter Angst und kann bei Kleinkindern Schüchternheit auslösen. Im Alter von vier Jahren wird Kindern endgültig klar: Die Welt besteht aus mir und den anderen.
Erfahrungen und Erziehung prägen
Wie ein Kind sein persönliches Bild von der Welt malt, ob in Rosa- oder eher in Grautönen, das mag genetisch bedingt sein, wie manche Forscher meinen. Bewiesen ist das jedoch nicht. Tatsache ist, dass Eltern und andere Bezugspersonen einen gehörigen Einfluss auf das Selbstvertrauen ihres Kindes haben. Sie können es stärken oder schwächen. Sind die Entwicklungsbedingungen im Elternhaus ungünstig oder fehlt im Umfeld ein kontaktfreudiges Vorbild, dann wachsen schüchterne Kindern eher zu introvertierten Erwachsenen heran. Minderwertigkeitskomplexe und Geltungsbedürfnis nehmen zu.
"Ich muss sagen, dass meine konstitutionelle Schüchternheit mir keinerlei Nachteile gebracht hat. Ihr größter Segen ist, dass sie mein sparsames Umgehen mit Worten geprägt hat."
Mahatma Gandhi, indischer Freiheitskämpfer
Was schüchternen Menschen hilft
Doch die Schüchternheit kann auch positive Aspekte haben: Wer sich zurücknimmt, dem traut man Tiefe und Sensibilität im Umgang mit seinen Mitmenschen zu. Da lässt es sich verschmerzen, dass Schüchterne statistisch gesehen ein geringeres Einkommen haben und drei Jahre später heiraten als der Rest der Menschheit. Das Wichtigste ist wohl Schüchternheit als einen Teil der Persönlichkeit zu sehen und sich nicht ständig zu fragen, wo man überall stehen könnte, wenn man jemand anders wäre.