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Dyskalkulie "Mathe kann ich einfach nicht!"

In jeder Schulklasse sitzt durchschnittlich ein Kind mit einer Rechenschwäche. Die betroffenen Schüler zählen häufig heimlich mit den Fingern oder verwechseln die Rechenarten. Doch das Phänomen ist noch nicht so gut erforscht wie die Lese-Rechtschreib-Schwäche.

Stand: 30.08.2019

Ein achtjähriger Junge nimmt bei den Hausaufgaben im Fach Mathematik seine Finger zur Hilfe. | Bild: picture-alliance/dpa

Noch vor Schulbeginn, spätestens aber in den ersten Schuljahren, lernen Kinder das grundlegende Prinzip, nach dem Mengen in Zahlen ausgedrückt werden. Den Alltag in Zahlen erfassen und begreifen - die meisten Kinder schaffen das problemlos. Doch von der Rechenschwäche Betroffenen fällt es schwer, das Geld für Einkäufe abzuschätzen, die Uhr zu lesen und Aussagen wie 13.30 Uhr, halb zwei und Viertel vor acht richtig einzuordnen.

Ab zehn wird's schwierig

Die Rechenschwäche ist eine Teilleistungsschwäche. Sie zeigt sich bei ansonsten normal begabten Kindern meist während der ersten Schuljahre im Matheunterricht, wo die Schüler mit unerklärlichen Schwierigkeiten kämpfen. Zwar meistern die Kinder die Zahlen eins bis zehn scheinbar noch ohne Probleme, doch den Übergang zu zweistelligen Zahlen können sie einfach nicht begreifen. In der Schule wird die Rechenschwäche häufig nicht behoben.

Ihr Kind sollte in der Grundschule Folgendes lernen:

+ Mengen unterscheiden
+ Zahlen auf dem Zahlenstrahl einordnen
+ Vorgänger- und Nachfolgerzahlen bestimmen
+ in angemessener Geschwindigkeit rechnen

Zahlen ohne Bedeutung

Nicht immer wird die Rechenschwäche schnell erkannt. Zwar gibt es typische Anzeichen, dass ein Kind etwa nur dann etwas kauft, wenn es das Geld abgezählt in die Hand bekommt. Oft werden die Probleme aber erst in der dritten Klasse deutlich, wenn Kinder bereits seit Jahren mit Zahlen operieren, ohne ihre Bedeutung begriffen zu haben. Bis dahin lernen sie Rechenregeln auswendig und zählen heimlich an den Fingern ab. Werden die Aufgaben komplexer, funktionieren diese Strategien nicht mehr, und die Noten werden schlechter. Lehrer führen die Probleme zu Unrecht auf falsches Lernen oder Faulheit zurück.

Mögliche Ursachen der Dyskalkulie

In jüngster Zeit macht die Ursachenforschung von Rechenstörungen rasante Fortschritte. Eine besondere Rolle spielen dabei die Erkenntnisse der Hirnforschung, die durch bildgebende Verfahren mittels der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) gewonnen wurden.

"Wir haben aus der Hirnforschung gelernt, dass es verschiedene Hirnareale gibt, die für verschiedene Rechen- und Zahlenverarbeitungsaufgaben zuständig sind und dass sich diese Gehirnregionen entwicklungsbedingt verändern. Es gibt eine Spezialisierung verschiedener Gehirnregionen für verschiedene Aspekte des Rechnens und der Zahlenverarbeitung", sagt Professor Daniel Ansari von der Universität Western Ontario in den USA.

Bei Kindern mit Dyskalkulie zeigt sich im Gehirn, dass verminderte oder veränderte Aktivitäten vorliegen, wenn sie rechnen. Die Forscher vermuten, dass sich das für die Zahlenverarbeitung notwendige neuronale Netzwerk weniger gut ausgebildet hat. Die Forscher unterscheiden verschiedene Formen der Dyskalkulie, die auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sind und die in der Therapie berücksichtigt werden müssen.

Die Welt der Zahlen erschließen

Rechenschwachen Schülern könnte frühzeitig geholfen werden. Das haben Psychologen der Universität Würzburg bei einer mehrjährigen Studie herausgefunden. Die Entwicklungspsychologen Kristin Krajewski und Wolfgang Schneider testeten, wie Jungen und Mädchen im letzten Kindergartenjahr mit Zahlen umgehen. Dann beobachteten sie bis zum Ende der Grundschulzeit die mathematische Entwicklung der Kinder.

Einmal rechenschwach - immer rechenschwach?

Dabei zeigte sich: Die schon im Kindergarten festgestellten Unterschiede in den mathematischen Kompetenzen blieben bis zum Ende der Grundschule erhalten. Zum entscheidenden Vorwissen zählt zum Beispiel die Fähigkeit, ein Element in eine vorgegebene Reihe einordnen zu können. Auch die Erkenntnis, dass der Menge "zehn" mal Finger, mal Äpfel und mal Klötzchen zugeordnet sein können, ist wichtig, ebenso das Zuordnen von Zahlbildern zur gesprochenen Zahl. Lässt sich so das Risiko für eine Rechenschwäche vorhersagen, können diese Kinder frühzeitig gefördert werden, indem sie beispielsweise in einer Lerntherapie ein Jahr lang ausschließlich im Zehnerbereich arbeiten.

Noch kein Notenschutz

Anders als bei der Legasthenie gibt es für die Dyskalkulie bislang noch keine Empfehlung der Kultusministerkonferenz, wie mit dem Problem in der Schule umgegangen werden soll - mit gezieltem Förderunterricht zum Beispiel oder "Notenschutz": Das hieße, bei der Bewertung der Schülerleistung Fehler durch die Rechenschwäche nicht zu berücksichtigen oder mehr Zeit zu geben, um Frustration und Schulangst zu vermeiden.

Hilfestellung für die Eltern

Zu Hause verzweifelt so manches Elternteil, wenn es seinem rechenschwachen Kind bei den Aufgaben helfen will. Die Schule bietet kaum Unterstützung, da das Problem der Dyskalkulie noch relativ unbekannt ist und die Lehrer häufig unvorbereitet sind. Auch außerhalb der Schule fehlt es an ausgebildeten Lerntherapeuten. Die mangelnde Förderung in der Schule wird daher immer öfter von privaten Instituten aufgefangen, wie es sie mittlerweile in allen größeren Städten gibt. Sie schulen die Eltern, damit diese ihre Kinder sinnvoll unterstützen können. Die Kosten können aber nicht alle Eltern aufbringen.

"Calcularis" - Software gegen Rechenschwäche

Zahlen sind für Menschen mit Dyskalkulie nichts als leere Worte. Sie können sie weder einschätzen noch vergleichen. Mithilfe der Therapie-Software "Calcularis" versuchen Grundschüler in der Schweiz ihre Defizite aufzuholen. Die Informatikerin Tanja Käser von der ETH Zürich hat die adaptive Software mitentwickelt. Adaptiv heißt in dem Fall, dass sich der Computer dem Kind anpasst. Er erkennt, wo das Kind noch Schwierigkeiten hat und was es schon begreift und kann das gezielt auslassen. Rund zwanzig Minuten üben die Schüler im Rahmen einer Studie täglich damit. Tests nach sechs Wochen an 40 Kindern zeigten, dass sich die Schüler in allen Rechenbereichen signifikant verbessern konnten.


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