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Die Welt der unentdeckten Lebewesen Dark Taxa: Unbekannte Mikroorganismen, Pflanzen, Insekten und Säugetiere erforschen

Wir wissen viel, aber längst nicht alles. Da draußen gibt es noch zig Lebewesen, die bisher nicht entdeckt oder nicht beschrieben worden sind. In der Wissenschaft nennt man solche Arten "Dark Taxa". Forschungsgruppen sollen sie ausfindig machen und die Wissenslücken füllen.

Von: Katrin Klaus

Stand: 23.04.2021

Die Melittobia acasta ist eine parasitoide Wespe - eine bisher kaum erforschte Art. In der Wissenschaft werden sie "Dark Taxa" genannt. Mithilfe des Projekts GBOL III sollen solche unbekannten Arten katalogisiert und mit DNA-Barcoding identifiziert werden. | Bild: GBOL III: Dark Taxa/Prof. Dr. Oliver Niehuis

Knapp zwei Millionen Lebewesen sind bislang weltweit bekannt. Dazu gehören Tiere, Pflanzen und Pilze. Allein bei uns in Deutschland sind es etwa 70.000. Das klingt erst mal nach ziemlich viel, aber Wissenschaftler gehen davon aus, dass es da draußen noch viel, viel mehr gibt. Arten, die aus den unterschiedlichsten Gründen noch nicht entdeckt oder beschrieben worden sind. Und das ist gar nicht so leicht, sie zu finden, wenn man nicht weiß, wonach man suchen soll. Viele von ihnen sind recht klein.

Dark Taxa vor allem unter den Insekten

Melittobia acasta - eine parasitoide Wespe, die kaum erforscht ist

Im ersten Moment denkt man an tropische Wälder, entfernte Inseln, Regionen, die vom Menschen bisher kaum erschlossen wurden, wo man solche Lebewesen findet. Die Arten, die noch im Dunkeln liegen und daher Dark Taxa genannt werden, gibt es aber auch bei uns in Deutschland. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Insekten. Von den etwa 44.000 Tierarten in Deutschland machen sie mit 33.000 den größten Anteil aus. Wissenschaftler schätzen, dass mehrere Tausend Arten von ihnen bisher noch nicht entdeckt und beschrieben wurden. Man geht davon aus, dass das etwa ein Viertel der heimischen Mücken und Wespen betrifft. 

Die Krefelder Studie zum Insektensterben

Allerdings ist es enorm wichtig, die Biodiversität zu verstehen, um sie schützen zu können. Die Krefelder Studie von 2017 machte die Ausmaße des Insektensterbens in Deutschland deutlich: In den vergangenen 25 Jahren wurde ein Rückgang der Fluginsekten-Biomasse von durchschnittlich 76 Prozent vermerkt. Die Vielfalt der Insekten nimmt ab. Und noch ist nicht bei allen Arten erforscht, welche Rolle sie im Ökosystem spielen. Aber sie sind wichtig und deshalb ist es wichtig, sie zu erforschen und zu beschreiben.

Woran liegt es, dass wir so wenig über die Artenvielfalt wissen?

Das hängt laut dem Biologen Thassilo Franke vom Biotopia-Naturkundemuseum Bayern vor allem mit der wissenschaftlichen Entwicklung zusammen. Erst in den vergangenen 30 Jahren fingen DNA-Sequenzierungen an. Genome konnten genauer untersucht, Arten so besser unterschieden werden.

"Früher hatte man nicht allzu viele Möglichkeiten. Da musste man sich vor allem auf morphologische, äußere oder anatomische, innere Merkmale konzentrieren."

Biologe Thassilo Franke, Biotopia-Naturkundemuseum Bayern

DNA-Analysen zeigen Vielfältigkeit der Arten

Erst jetzt fällt durch DNA-Analysen auf, dass viele Lebewesen, von denen man dachte, sie wären relativ artenarm - weil sie auf den ersten Blick gleich aussehen oder sich sehr ähnlich sehen - in Wirklichkeit doch viel artenreicher sind. Früher konnte man das gar nicht erkennen, jetzt wird so was genauer in den Laboren untersucht.

Jährlich neue Fledermaus-Arten entdeckt

Myotis nimbaensis ist eine neu entdeckte Fledermausart, die zu den Mausohren gehört

Ein gutes Beispiel dafür sind Fledermäuse. Obwohl sie weit größer als Insekten sind, werden jedes Jahr Dutzende neue Arten entdeckt und beschrieben. Etwa 1.400 sind derzeit bekannt. Das liegt daran, dass viele Arten erst durch molekulare Untersuchungen voneinander unterschieden werden konnten, denn dem äußeren Anschein nach lassen sie sich kaum unterscheiden. Bei Untersuchung der DNA fielen teils gravierende Unterschiede auf. Das kann ein Indiz für eine neue Art sein. Dann werden weitere Biomarker verglichen. Man untersucht, ob man nicht doch morphologische Unterschiede findet, erklärt Franke im Bayern-2-Podcast. Gerade bei Fledermäusen wird dann auch auf den Ruf geschaut, denn durch die Akustik kann man Unterschiede zwischen Arten gut feststellen.

Arten identifizieren, bevor sie aussterben

Schätzungsweise sterben jährlich 27.000 Arten aus. Die meisten von ihnen haben vermutlich nicht mal einen Namen oder eine Bezeichnung. Das betrifft oft die kleineren Lebewesen wie Insekten.

"Von denen wissen wir noch überhaupt nichts. Von denen wissen wir nicht, wie sie heißen, geschweige denn, wie sie leben und was für eine Rolle sie im Ökosystem spielen."

Biologe Thassilo Franke, Biotopia-Naturkundemuseum Bayern

Natur als gewaltige Maschine mit Zahnrädern

Warum ist es wichtig, diese Arten zu kennen, wenn sie vielleicht eh bald aussterben? Auf unserem Planeten sterben im Laufe der Evolution immer wieder Arten aus, das war schon immer so. Ein natürlicher Prozess. Franke vergleicht die Natur dafür mit einer komplexen Maschine - ein riesiges Getriebe mit zwölf Millionen Zahnrädern, die sich drehen. Jedes Zahnrad hat eine Funktion. Stoppt eins, stoppen die umliegenden auch. Unter Umständen hat das keine Auswirkung auf die Leistung der Maschine, es kann aber auch zum Stillstand kommen. Das kann dann große Auswirkungen auf die Ökologie und auch auf uns Menschen haben. Daher ist es wichtig, auch die kleinsten Tierchen und Lebewesen kennenzulernen und ihre Bedeutung zu verstehen.

Groß angelegtes Projekt "GBOL III: Dark Taxa"

Um dem einen Schritt näher zu kommen, wurde ein Großprojekt, unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, gestartet, um die unbekannte Biodiversität in Deutschland zu erforschen. Es heißt "GBOL III: Dark Taxa" und ist eine Fortführung von GBOL I und II. GBOL steht für "German Barcode of Life Initiative". Erstmals wurde es 2011 ins Leben gerufen, um heimische Tiere, Pflanzen und Pilze zu katalogisieren. Das kann man sich wie eine riesige Inventur vorstellen, bei der alle Arten erfasst und in Datenbanken hinterlegt werden - auch mit Teilen der DNA. GBOL III: Dark Taxa unter Leitung des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig in Bonn und mit Beteiligung des Staatlichen Museums für Naturkunde in Stuttgart, der Zoologischen Staatssammlung München, der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und des Entomologischen Vereins Krefeld, startete im Juli 2020 und ist auf 42 Monate angelegt. In diesem dritten Schritt soll sich vor allem zwei wichtigen Insektenarten gewidmet werden, bei denen noch große Lücken vorherrschen: den Mücken und Wespen.

Mücken und Wespen im Fokus von GBOL III

In der Vergangenheit konnten schon vielzählige Insektenarten durch Artenkenner identifiziert und in der Datenbank hinterlegt werden. Besonders gut hat das bei kleineren Gruppen wie  Wildbienen, Wanzen oder Zikaden, aber auch artenreichen Gruppen wie Käfern oder Schmetterlingen funktioniert. Aber es gibt auch sehr diverse Insektengruppen, bei denen noch große Lücken herrschen. Allen voran die Diptera, das sind Zweiflügler wie Mücken und Fliegen, und die Hymenoptera, das sind Hautflügler wie Bienen, Ameisen und Wespen. Sie stellen mit etwa 9.500 und 9.800 Arten in Deutschland fast zwei Drittel der schätzungsweise 33.000 Insektenarten. Es fehlen Experten, um sie und ihre Lebensweise zu bestimmen, ihre Bedeutung für das Ökosystem zu verstehen.

"Es gibt keine verlässlichen Namen für die Arten, es gibt kaum jemanden, der sie bestimmen kann, es gibt keine Vergleichssammlungen und keine Literatur. Und wenn es dieses vereinzelt gibt, gibt es keine Kenntnis über Grundlegendes zur Lebensweise wie Lebensraumansprüche, genutzte Wirte oder Futterpflanzen, Verbreitung und Flugzeiten über das Jahr."

Projektleiter Ralph S. Peters, Kurator Zoologisches Forschungsmuseum und Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere

Kleine Mücken, parasitoide Wespen

Mymaridae - eine parasitoide Wespe

Bei den Mücken geht es jedoch weniger um Stechmücken, die sind bereits gut beschrieben. Vielmehr soll sich GBOL III auf die Beschreibung von kleineren Zweiflüglern wie Zuckmücken, Pilzmücken, Gallmücken oder Stelzmücken fokussieren, weiß Vera Rduch, Projektkoordinatorin am Museum Koenig. Sie saugen kein Blut, stechen nicht, befinden sich aber überall. Die zweite Gruppe im Fokus sind die parasitoiden Wespen, die nichts mit den gelbschwarzen Insekten zu tun haben, die im Sommer ganz schön nervig werden können. Das sind kleine Hautflügler, die sich an oder in anderen Insekten entwickeln und diese dabei abtöten. Diese beiden Gruppen machen an bestimmten Standorten teilweise 80 Prozent der Individuen aus.

Warum Insekten so wichtig sind

Insekten spielen für die Biodiversität eine große Rolle. Mit ihren 33.000 Arten sind sie die artenreichste Gruppe unter den Tieren mit ihren etwa 70.000. Sie finden sich in fast jeder Nahrungskette, sind oft Nahrungsgrundlage. Sie bestäuben die Kultur- und Wildpflanzen, sie bereiten den Boden auf und sind natürliche Gegenspieler von Schadinsekten. Auch die unbekannten Dark Taxa. Um dem Insektensterben vorzubeugen, müssen auch die noch nicht erforschten Arten identifiziert werden.

DNA-Barcoding zur Unterscheidung von Tierarten

GBOL III hat das Ziel, genetische Informationen zu sammeln, zu hinterlegen und für jedermann zugänglich zu machen. Das passiert mit einer Art Barcode, wie man ihn von Verpackungen im Supermarkt kennt. Damit können verschiedene Produkte ganz einfach unterschieden werden. Biologen haben nach solch einem Barcode, einem Marker, unter Tieren gesucht, um sie vergleichbarer zu machen und zu unterscheiden - und haben ihn gefunden. Jede Art von Lebewesen hat ihren eigenen Barcode.

"Bei den Tieren ist dieser Barcode eine Gen-Sequenz bestehend aus 650 Basenpaaren. Das ist das CO1-Gen und das unterscheidet sich bei allen Tierarten sehr gut voneinander. Das kann man sich vorstellen wie einen Barcode mit 650 Strichen, die bei jeder Tierart anders verlaufen."

Biologe Thassilo Franke, Biotopia-Naturkundemuseum Bayern

CO1-Gen als Barcode zur Unterscheidung von Arten

In Phase I und II von GBOL wurde eine riesige Datenbank als Referenzbibliothek angelegt. Man hat Tiere, die man bereits kannte, hinterlegt und DNA-Sequenzierungen vorgenommen, um das CO1-Gen (Cytochrom c Oxidase 1) ausfindig zu machen. Dafür wurden auch ältere Proben aus wissenschaftlichen Sammlungen herangezogen. Mehr als die Hälfte der Insektenarten in Deutschland - etwa 19.000 - sind dort bereits hinterlegt und für alle zugänglich. In Phase III stehen nun die (tierischen) Dark Taxa im Mittelpunkt, denn das CO1-Gen ist vor allem ein Unterscheidungskriterium, das bei Tieren sehr gut funktioniert. Es kann genutzt werden, um neue Arten zu erkennen. Bei Pilzen beispielsweise funktioniert CO1 nicht, da müssen andere Marker gefunden werden.

Neue Artenkenner und Experten ausbilden

Ein weiteres Ziel von GBOL III ist die Ausbildung junger Wissenschaftler und Doktoranden, die ihre Ergebnisse in wissenschaftlichen Arbeiten der Öffentlichkeit präsentieren. Sie werden damit zu Spezialisten für diese Arten, als Ansprechpartner und Artenkenner für die dann ehemaligen Dark Taxa. Denn es war bisher ein großes Problem, dass es für viele Arten keine Experten gab. Man spricht dann von einer "Erosion der Artenkenntnis".

"Artenkenner haben sich vor allem auf weniger artenreiche und leichter zu studierende Insekten konzentriert. Die artenreichen, taxonomisch oft schwierigen Insektengruppen wurden bisher weitgehend außer Acht gelassen."

Stefan Schmidt, Koordinator der DNA-Barcoding-Projekte an der Zoologischen Staatssammlung München

Wirtschaftlicher Nutzen der Dark Taxa

Der Schwammspinner (Lymantria dispar) - ein nicht gern gesehener Gast

Ein weiterer Vorteil der integrativen Taxonomie, diese Dark Taxa zu erforschen, liegt auch in der wirtschaftlichen Nutzung. Biologe Franke nennt da als Beispiel den Schwammspinner, einen Schmetterling. Er ist im Obstbau und in der Forstwirtschaft für großen Schaden verantwortlich, denn seine Raupen sind sehr gefräßig und hinterlassen kahle Äste und abgefressene Wipfel. Zusätzlich dienen die Raupen als Wirte für Schlupfwespen - eine der großen Gruppen unter den Dark Taxa.

Mit Barcoding zur biologischen Schädlingsbekämpfung

Diese Schlupfwespen werden eingesammelt und per DNA-Barcoding eingelesen, nachdem die Schwammspinner-Raupen mit Insektiziden bekämpft wurden. Dadurch können die Larven dieser parasitären Wespen untersucht und identifiziert werden. Wenn sich dann wiederum in Malaise-Fallen (das sind Zeltfallen zum Fangen von fliegenden Insekten) genau diese parasitoiden Wespen häufen, kann man davon ausgehen, dass es in der Nähe einen Schwammspinner-Befall gibt und es kann besser dagegen vorgegangen werden. Oder noch besser: Die parasitoiden Wespen sind so spezifisch, dass sie als biologische Schädlingsbekämpfung gegen den Schwammspinner eingesetzt werden können, um auf chemische Wirkstoffe zu verzichten.

Dark Taxa für menschliche Gesundheit wertvoll

Eine Anopheles-Mücke, die Malaria übertragen kann

Die Anwendungsfelder der Dark Taxa sind vielseitig und vielfältig. Zwar sind beispielsweise die heimischen Mücken gut beschrieben, aber bei Malaria-Mücken werden immer wieder neue Arten entdeckt. Unter der Gattung Anopheles verbergen sich sehr viele Arten, die man früher übersehen hatte. Die lassen sich per DNA-Barcoding nun viel besser aufspüren und dadurch auch bekämpfen. Denn so kann herausgefunden werden, welche Arten als Überträger von Malaria infrage kommen. Das wiederum kommt der Gesundheit des Menschen zugute.


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