150

Pocken, Polio und Corona Impfgegner gab es zu allen Zeiten

Vorbehalte gegen Impfungen sind nichts Neues. Auch die Pockenimpfung im 18. Jahrhundert wurde nicht von allen mitgetragen. Experten sagen, dass nur eine Impfung eine Epidemie oder Pandemie eindämmen kann. Bedingung: Es müssen viele mitmachen. Was war in der Geschichte zielführender: Impfpflicht oder Freiwilligkeit?

Stand: 21.01.2021

Gegner eine Zwangsimpfung bei einer Demonstration | Bild: picture alliance

Pocken-Viren verursachen Hautbläschen, die sich Pocke oder Blatter nennen. Die Krankheit ist schon seit Jahrtausenden bekannt und gefürchtet. Sie zählt zu den gefährlichsten überhaupt, weil die Sterblichkeit hoch ist: Sie liegt bei 20 bis 30 Prozent. Der letzte Pockenfall in Deutschland trat im Jahr 1972 auf. Durch konsequentes Impfen konnte die Welt im Jahr 1980 von der Weltgesundheitsorganisation WHO als pockenfrei erklärt werden. Die Pockenimpfung ist eine der größten Erfolgsgeschichten der modernen Medizin.

Pockenimpfstoffe sind die ältesten bekannten Impfstoffe

Bis ins 18. Jahrhundert wurden Pockenimpfungen mit lebenden Pockenviren durchgeführt. Eine kleine Dosis wurde mithilfe einer Lanzette unter die Haut eingeritzt. Kinder waren dadurch ihr ganzes Leben lang vor der Erkrankung geschützt. Allerdings war diese Art der Impfung auch gefährlich. Wurden mit der Lanzette zu viele Erreger in den Körper eingebracht, konnten die Kinder schwer erkranken. Es bedurfte also viel Erfahrung, um das richtige Maß zu finden.

Harmlose Kuhpocken sorgen für Kreuzimmunität

Edward Anthony Jenner (1749 - 1823) war ein englischer Landarzt. Er entwickelte die moderne Schutzimpfung gegen Pocken. Ohne zu wissen, was Viren sind, entnahm er Erreger aus einer Kuhpockenpustel einer erkrankten Frau und verabreichte sie Kindern. Glücklicherweise überstanden seine Probanden die Prozedur gut und waren dann ein Leben lang gegen sämtliche Pocken immun.

Kuhpocken dienten einst als Grundlage für die Pockenimpfung

Edward Jenner stellte fest, dass man keine echten Pocken verimpfen muss, sondern dass harmlosere Pockenerreger wie die Kuhpocken den gleichen Dienst erweisen. Medizinisch nennt man das Kreuzimmunität, wenn der Schutz für eine Krankheit gleichzeitig einen anderen Typus abdeckt.

"Der englische Arzt Edward Jenner hat systematische Versuche gemacht. Und daraus entstand dann die Idee einer Vakzine. Vakzine ist ja abgeleitet von Vacca, also von der Kuh. Das ist tatsächlich der Begriff, den wir heute für alle Impfungen verwenden, aber der geht eben zurück auf diese Pockenimpfung mithilfe von Kuhpocken. Das war sensationell, denn damit konnte eine der wirklich schlimmsten Krankheiten verhütet werden."

Michael Stolberg, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in Würzburg

Die Pocken-Impfpflicht führt zu Protesten

Im Jahr 1807 wurde in Bayern als weltweit erstem Land eine Impfpflicht für die Pocken eingeführt. Das Deutsche Reich verhängte 1874 eine solche verbindliche Regelung. 1967 sorgte die WHO für eine weltweite Impfpflicht. Diese wurde in Westdeutschland 1976 wieder ausgesetzt als die Pocken als besiegt galten.

"Im ausgehenden 19. Jahrhundert haben wir zwar einen starken Staat, aber wir haben auch eine starke Tradition des Liberalismus und das Beharren auf den Rechten des Einzelnen. Und das ist sicherlich auch ein Hintergrund, warum es dann eine massive Impf-Gegnerschaft gab. Allerdings nicht nur in Deutschland, auch in England, in Amerika, die sich sehr breit aufgestellt hat, gut organisiert war. Hunderttausende von Menschen haben da gekämpft gegen diese Impfpflicht."

Michael Stolberg, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in Würzburg

Um die Pockenimpfung ranken sich Legenden

Im Deutschen Reich entstanden damals eine Vielzahl an Impfanstalten. Sie waren meist an einen Bauernhof mit Kühen angeschlossen. Die Kuhpocken der Tiere wurden an Kinder verimpft, um sie vor der Infektionskrankheit der Pocken zu schützen.

"Gegen diese Verfahren mit den Kuhpocken gab es große Vorbehalte: Ist das nicht gefährlich und unsicher bis hin zu Verschwörungstheorien, dass sich mit diesem Pockenimpfstoff plötzlich alle Menschen in Kühe verwandeln. Solche Vorstellungen geisterten durch die Gegend und sorgten damals für intensive Diskussion."

Malte Thießen, Medizin-Historiker an der Universität Münster

Impfungen führen zu Immunität und Bewegungsfreiheit

Eine Epidemie oder Pandemie kann unter Kontrolle gebracht werden, wenn der größte Teil der Bevölkerung die Krankheit entweder durchgemacht hat oder geimpft ist. Die sogenannte Herdenimmunität tritt ab einem Mindestanteil Immunisierter von etwa 80 Prozent ein. Dann läuft die Krankheit ins Leere und verliert ihren Schrecken.

"Das Impfen ist eine Erfolgsgeschichte, weil es die einzige Möglichkeit ist, vergleichsweise preiswert und sicher eine epidemische Infektionskrankheit unter Kontrolle zu bringen. Alles andere, auch die jetzt verfolgten Eindämmungsmaßnahmen, die ja im Geist der frühen Neuzeit des 16. Jahrhunderts stehen, das Absperren und so weiter, das sind keine Maßnahmen, die wirklich durchgreifend Erfolg bringen können."

Karl-Heinz Leven, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Erlangen

Impfungen entfachen gesellschaftliche Diskussionen

Eine Impfung im Jahr 1880

Ärzte appellieren seit jeher an die Solidarität der Bürger, sich an Impfungen zu beteiligen. Wird eine Impfpflicht verhängt, entwickelten sich auch bereits im 19. Jahrhundert Debatten darüber, wer über den Körper bestimmen darf. Der Einzelne oder der Staat?

"Beim Impfen ist es wichtig zu wissen, dass es da nie nur um den Piks geht. Und es geht auch nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen, sondern es geht letztlich immer um die Grundsätze der Gesellschaft, ja sogar um Weltbilder. Das hängt damit zusammen, dass Impfungen ein Stück weit auch eine Projektionsfläche für ganz andere Ängste und Sorgen sind. Zum Beispiel die Angst vor einem totalen Gesundheitsstaat. Das ist auch schon der Klassiker im 19. Jahrhundert, dass immer wieder das Impfen als Anlass genommen wird, um über die Kompetenzen und die Grenzen des Staates zu diskutieren."

Malte Thießen, Medizin-Historiker an der Universität Münster

Eine Impfpflicht lässt sich in der Praxis kaum umsetzen

Historiker kommen überwiegend zu der Einschätzung, dass eine Impfpflicht zu starker Gegenwehr führt. Selbst Menschen, die Impfungen als Gesundheitsschutz grundsätzlich bejahen, fühlen sich von einer staatlichen Verpflichtung bedrängt. Außerdem lässt sie sich in der Praxis kaum umsetzen.

"Eine Impfpflicht ist eine unglaubliche Ressourcenverschwendung. Das sorgt schon Ende des 19. Jahrhunderts für Kritik. Eine Impfpflicht muss ja nicht nur angeordnet werden, sondern die muss auch kontrolliert und durchgesetzt werden. Das heißt, es ist ein unglaublicher Personalaufwand zu gucken, sind jetzt alle nachgeimpft worden. Was macht man mit denen, die noch nicht geimpft worden sind? Die muss man dann mehrfach vorladen und Gerichtsprozesse führen. Und im härtesten Fall werden diese Leute dann zwangsgeimpft."

Malte Thießen, Medizin-Historiker an der Universität Münster

Im Dritten Reich gibt es keine Impfpflicht bei Diphtherie

Diphtherie ist eine Infektionskrankheit, die seit dem Altertum bekannt ist. Sie hat zwei Varianten: die Haut- und die Rachendiphtherie. Während des Zweiten Weltkriegs grassierte in Europa die letzte große Epidemie mit etwa drei Millionen Erkrankungen und Tausenden toten Kindern jedes Jahr. 1936 wurde in Deutschland ein Impfstoff gegen Diphtherie, die auch Halsbräune genannt wird, zugelassen. Die Nazis führten keine Impfpflicht ein, sondern setzten auf Werbekampagnen.

"Bei Diphtherie ist der NS-Staat pragmatisch. Sie wird als freiwillige Impfung eingeführt, weil man damals beobachtet hat, dass Werbemaßnahmen, Propaganda und Aufklärung sehr viel effektiver sind als Druck. Und das hat tatsächlich zur Folge, dass für die freiwillige Diphtherie-Schutzimpfung durchweg höhere Impfquoten festgestellt werden als für die Pockenimpfung, die zur selben Zeit immer noch als Pflicht-Maßnahme gilt."

Malte Thießen, Medizin-Historiker an der Universität Münster

Die Impfung gegen Kinderlähmung ist freiwillig

Ein aktuelles Impfbuch mit empfohlenen Impfungen

Im 20. Jahrhundert fürchteten Eltern die Kinderlähmung, weil sie zu bleibenden Lähmungen führen und die Atemmuskulatur einschränken kann. Seit den 1950-er Jahren gibt es Impfstoffe gegen Polioviren, die diese Krankheit auslösen. Die freiwillige Impfung zeigt Erfolg: In Deutschland gilt die Kinderlähmung mittlerweile als ausgerottet.

"Wir können uns das rückblickend kaum mehr vorstellen, mit welcher Angst Eltern dieser Krankheit begegnet sind, weil sie ja auch gar nicht wussten, wie ihre Kinder sich anstecken. Sie hatten Angst vor jedem Kontakt. Vor allem im Sommer haben sich die Polioviren ausgebreitet."

Michael Stolberg, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in Würzburg

Die Angst vor Impf-Nebenwirkungen tritt in den Vordergrund

Verlieren Krankheiten ihren Schrecken, weil große Teile der Bevölkerung dagegen immun sind, fragen sich viele, ob eine Impfung überhaupt noch sinnvoll ist. Die Maßnahmen werden kritischer beleuchtet als in der Hochphase des Krankheitsausbruchs.

"Impfungen sind ein Stück weit Opfer ihrer eigenen Erfolge, weil sie eben die Bedrohung ausrotten und deshalb den Nutzen von Impfungen dann plötzlich infrage stellen. Und das können wir beobachten, dass ab den 1960-er- und 1970-er-Jahren auch unter Medizinern und Ärzten, die Nebenwirkungen sonst eigentlich immer eher abtun, diese eine stärkere Rolle einnehmen."

Malte Thießen, Medizin-Historiker an der Universität Münster

Impfgegner kommen aus verschiedenen Bereichen

Seit dem Zeitalter der Aufklärung im 19. Jahrhundert lehnen sich Menschen gegen Übergriffe des Staates auf. Eine Impfpflicht wird von manchen abgelehnt. Aber auch freiwillige Schutzangebote stoßen auf Gegenwehr. Es formiert sich eine Gruppe von Impfgegnern, die aus verschiedenen Richtungen kommen: Die Lebensreformbewegung entsteht.

"Die Lebensreformbewegung war eine ganz breite Bewegung, die zum Teil Strömungen enthalten hat, die wir heute der Alternativmedizin zurechnen würden. Es gab Homöopathen, Vegetarier und Anhänger der Freikörperkultur. Sie vertreten das Ideal, dass die Natur ein entscheidender Wert ist: Man muss natürlich leben. Damit richteten sie sich gegen die sogenannte Schulmedizin. Das heißt, wir haben zu der Zeit Millionen von Anhängern der Naturheilkunde, auch Esoteriker und zum Teil auch Antisemiten. Sie alle nähren die Impfgegner-Bewegung."

Michael Stolberg, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in Würzburg

Impfgegner führen diverse Argumente an

Laut einer repräsentativen Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2016 lehnen heutzutage etwa drei bis fünf Prozent der deutschen Bevölkerung Impfungen ab. Die Gründe sind, je nach Weltanschauung, unterschiedlich. Oft werden Nebenwirkungen, Impfschäden oder auch Verschwörungstheorien als Gründe für die Ablehnung benannt.

"Es gibt etwa die Behauptung, dass die Impfung in Wirklichkeit gar nicht wirkt, dass möglicherweise die Krankheit nicht mal auf das angebliche Virus zurückzuführen ist. Bei der Pockenimpfung meinten manche, dass letztlich jüdische Ärzte dahinter stehen, die einfach nur ärztliche und ökonomische Interessen fördern wollen. Also eine solche Gemengelage gab es immer."

Michael Stolberg, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in Würzburg

Proteste gegen Corona-Maßnahmen

Auch in der Diskussion um Maßnahmen wie Masken oder Impfungen während der Corona-Pandemie formte sich Widerstand, der durch soziale Medien - die teilweise auch Falschinformationen verbreiten - befeuert wird. Eine soziologische Studie der Universität Basel vom 17.12.2020 befasst sich mit den Gründen für die Proteste gegen Corona-Maßnahmen.

"Die Entfremdung von der industriell geprägten und durchrationalisierten Hypermoderne zeigt sich nicht nur in der Skepsis gegenüber ihren Institutionen, wie zum Beispiel den Parteien, sondern auch bezüglich einer romantisch inspirierten Hinwendung zu ganzheitlichen, anthroposophischen Denkweisen, dem Glauben an die natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers, Forderungen nach mehr spirituellem Denken und dem Wunsch, Schulmedizin und alternative Heilmethoden gleichzustellen."

Oliver Nachtwey, Institut für Soziologie an der Universität Basel

Aufklärung, Werbung und Transparenz hilfreicher als Impfpflicht

Manche Menschen sind bei neuen Impfungen erst einmal vorsichtig und hinterfragen die Maßnahme. Ihnen helfen sachliche Informationen, um sich ein Bild zu machen. Historiker kommen zu dem Schluss, dass eine Impfpflicht eher abschreckt - Aufklärung und Transparenz hingegen Vertrauen aufbauen.

"Bei Polio war es der sensationelle Erfolg in der Bekämpfung einer gefürchteten Krankheit, der von selbst dazu geführt hat, dass die große Mehrheit der Menschen die Impfung gewollt hat. Und ich bin persönlich auch nach wie vor sehr optimistisch, dass das bei Covid-19 ähnlich sein wird, wenn keine gravierenden Nebenwirkungen auftreten. Und so sieht es im Moment ja nach millionenfacher Impfung aus. Es entsteht durch die Impfung eine neue Freiheit. Politik und Medien sollten die Erfolgsgeschichte erzählen und den Menschen klarmachen, welch positive Wirkung sie von einer wirksamen Impfung erwarten können."

Michael Stolberg, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in Würzburg

  • IQ - Aus Wissenschaft und Forschung am 23.03.2021 ab 18.05 Uhr in Bayern 2

150