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Das Familiengeheimnis Wenn Fakten verschwiegen werden

Jeder Mensch hat seine Geheimnisse. Schwierig wird es dann, wenn in Familien Tabus vorherrschen, die nicht zur Sprache kommen dürfen: etwa dem adoptierten Kind nichts über seine Herkunft zu sagen.

Von: Justina Schreiber/Veronika Bräse

Stand: 30.06.2020

In manchen Familien wiegt das Gefühl, etwas mit aller Macht unter der Decke halten zu wollen, so schwer, dass sie ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen. Bei anderen brechen Familiengeheimnisse manchmal unerwartet auf, was alle Beteiligten meist erst mal überfordert.

Geheimnisse schaffen intime Räume

Es gibt Geheimnisse, die absolut berechtigt sind: Zum Beispiel Kosenamen, die sich Liebende geben, bleiben beispielsweise Nachbarn und Kollegen meist verborgen. So entstehen intime Räume, die nach außen weitgehend abgeschlossen sind, aber die Personen, die das Geheimnis teilen, enger aneinanderbinden.

"Zwischen Partnern gibt es etwas, was Kinder nichts angeht. Die Kinder sollten nicht wissen, was die Eltern miteinander im Bett treiben."

Gisela Heidenreich, systemische Paar- und Familientherapeutin

Unausgesprochene Geheimnisse belasten das Zusammenleben

Schwierig wird es mit Geheimnissen dann, wenn Dinge aktiv verschwiegen oder sogar gelogen wird. Wenn etwas nicht zur Sprache kommt, das eigentlich im Leben der beteiligten Personen eine große Bedeutung hat: etwa, wenn ein Partner ein Doppelleben führt.

"Jedes Mal, wenn sich zum Beispiel der Mann mit seiner Freundin trifft, muss er irgendeine Ausrede zu Hause erfinden, das heißt, er muss lügen und irgendwann passt die Lüge nicht mehr. Dann ist es nahe dran, dass es alles aufkommt, weshalb die nächste Lüge erfunden wird und so weiter. Am Ende steht ein Lügengebäude. Wenn das eines Tages einreißt, dann ist es wirklich ganz furchtbar."

Gisela Heidenreich, systemische Paar- und Familientherapeutin

Moderne Beziehungen gründen auf Vertrauen

Seit sich jeder seinen Partner selbst aussuchen darf, gründen Paarbeziehungen auf Liebe, Vertrauen und Loyalität. Sie sind fragiler als die Hausgemeinschaften vergangener Zeiten, die den Gefühlen weniger Bedeutung beimaßen.

"Die Lüge wird in modernen Verhältnissen zu etwas viel Verheerenderem, die Grundlagen des Lebens viel mehr in Frage Stellendem, als es früher der Fall war."

Zitat des Soziologen Georg Simmel aus dem Jahr 1908

Beichte und Psychoanalyse schaffen Ventile

Die katholische Kirche etablierte die Beichte als Entlastung für echte, eingebildete oder eingeredete Sünden. Mit der psychoanalytischen Redekur, die Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam, schien ein weltlicher Weg gefunden, um in die geheimsten Ecken der Seele vordringen zu können.

Die Nazizeit wird zum Tabu

Die nationalsozialistische Diktatur setzte eine Zäsur, weil Geschehnisse tabuisiert wurden. In der Nachkriegszeit schwieg man weitgehend zu den Gräueltaten der NS-Diktatur.

"In der Nachkriegsgesellschaft war das ein absolutes Tabu, Schuldeingeständnisse zu machen. Man gab nicht zu, selbst russische Dörfer angezündet und verbrannte Erde hinterlassen zu haben. Das führte zu einer Verleugnungskultur."

Angela Moré, Gruppenanalytikerin und Professorin für Sozialpsychologie.

Kinder brauchen Wahrheit zur Identitätsentwicklung

Ein Kind, das vorehelich, adoptiert oder mittels Eizell- oder Samenspende zustande kam und nicht darüber aufgeklärt wird, kann manchmal dennoch Ahnungen entwickeln. Diese werden aber nicht ausgesprochen und auch von den Eltern nicht aufgegriffen. Dieser Schwebezustand macht eine Identitätsentwicklung schwer. Kinder müssen über ihre Herkunft Bescheid wissen. Die Geheimniskrämerei in Familien kann die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen und zu Störungen führen, die sich vordergründig niemand erklären kann.

"Dieses Gefühl, ich bin ein Leben lang belogen worden von eigentlich der Bezugsperson, die mir am nächsten ist, das ist wirklich kaum auszuhalten."

Gisela Heidenreich, systemische Paar- und Familientherapeutin

Soziologen unterscheiden drei Arten von Familiengeheimnissen:

  1. Individuelle Familiengeheimnisse, bei denen eine Person anderen etwas vorenthält.
  2. Interne Geheimnisse, bei denen einige vor anderen etwas zurückhalten.
  3. Geteilte Familiengeheimnisse, bei denen die gesamte Familie etwas vor der Außenwelt verbirgt.

Vieles wird non-verbal zwischen Menschen kommuniziert

Eine Familienaufstellung kann helfen, das Gewirr von Lüge und Wahrheit aufzudecken.

Psychologen sprechen von "transgenerationalen Übertragungsprozessen". Damit ist gemeint, dass Eltern ihren Kindern unterschwellig Botschaften vermitteln, ohne das bewusst wahrzunehmen. Ein Familiengeheimnis kann dazu führen, dass Kinder schwierig werden, dass sie eine Depression entwickeln oder schulische Probleme haben.   

"Das ist etwas, was Kinder mitbekommen: Da kann ich nicht rankommen, da begreif ich etwas von meinen Bezugspersonen nicht, und wenn ich nachfrage, reagieren sie angespannt, abwehrend und entziehen sich."

Angela Moré, Gruppenanalytikerin und Professorin für Sozialpsychologie.

Wer etwas verbirgt, will auch sich selbst schützen

Die meisten Leute meinen es angeblich nur gut, wenn sie vor der Familie belastende Tatsachen verbergen. Aber wer sprichwörtlich Leichen im Keller hat und vielleicht sogar eine unaufgedeckte Straftat vollzogen hat, versucht vor allem sich selbst vor Erinnerungen, vor dem Wahrhabenwollen, vor der Verantwortung, vor moralischen, sozialen und juristischen Konsequenzen zu schützen.

"Dahinter steckt die Angst ertappt zu werden, angezeigt zu werden oder dass die eigenen Kinder mitbekommen, du bist nicht nur ein guter Mensch gewesen, sondern du hast auch Schlimmes getan."

Angela Moré, Gruppenanalytikerin und Professorin für Sozialpsychologie.

Familiengeheimnisse können über Generationen bestehen bleiben

Bestehen enge emotionale Beziehungen zwischen den beteiligten Personen, entsteht sogar bei Opfern manchmal der Wunsch, die eigene Verwandtschaft zu idealisieren und von Schuld reinzuwaschen. Dann zahlen alle in das System Familiengeheimnis ein und setzen es manchmal sogar über Generationen hinweg fort.

"Lügen kostet Energie. Man muss immer aufpassen, dass man sich nicht verrät. So besteht immer eine gewisse Anspannung und Sorge, der andere könnte etwas bemerkt haben. Diese Phantasien und Ängste spürt das Gegenüber und nimmt es auf."

Angela Moré, Gruppenanalytikerin und Professorin für Sozialpsychologie.

Wenn Gras über die Sache gewachsen ist, fällt es manchmal leichter, über Vergangenes zu sprechen. Um ein Familiengeheimnis nicht ins Grab mitzunehmen, raten Psychologen, das Gespräch zu suchen, auch wenn die Hürde unüberwindbar zu sein scheint.


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