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Corona-Spätfolgen Post-Covid - Wenn ME/CFS dazukommt

Es gibt Menschen, die nur leicht oder mittelschwer an Covid-19 erkrankt sind. Doch ihre Symptome sind auch Wochen und Monate nach dem Erstinfekt immer noch da, hinzu kommen eine Belastungsintoleranz und Fatigue. Sie leiden unter ME/CFS.

Von: Yvonne Maier

Stand: 25.08.2023 | Archiv

Das "Chronische Fatigue Syndrom" oder ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) betrifft in Deutschland rund 250.000 bis 300.000 Menschen. Vielen Ärzten ist die Krankheit jedoch kaum bekannt. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Betroffenen in der Coronapandemie stark zugenommen hat: "In den nächsten Jahren muss deshalb mit einer Verdopplung der Zahl der ME/CFS-Betroffenen gerechnet werden", so Carmen Scheibenbogen von der Charité in Berlin in einer Studie vom Juli 2022.

ME/CFS wird überwiegend durch Viren ausgelöst

Fatigue betrifft vor allem junge Menschen, häufig Frauen unter 40 Jahren. Sie bekommen einen Infekt, zum Beispiel eine Grippe oder das Pfeiffersche Drüsenfieber, und werden einfach nicht mehr gesund. Das trifft auch auf Covid-19-Erkrankte zu, weil die Krankheit vor allem durch Viren ausgelöst wird. Dazu zählen: das Epstein-Barr-Virus, Herpesviren, Influenza- und eben auch Coronaviren.

Chronisches Erschöpfungssyndrom nach einer COVID-19-Erkrankung

Eine Studie vom Dezember 2021 zeigt: Einer von drei Patienten litten bis zu 12 Wochen nach der Covid-19-Diagnose unter "Fatigue" und eine Person von fünf unter kognitive Einschränkungen. Eine Untersuchung der Charité Berlin ging diesem Zusammenhang nach. Die Charité gehört deutschlandweit zu zwei auf ME/CFS spezialisierte Ambulanzen, die zum Chronischen Erschöpfungssyndrom forschen und es auch behandeln. Die Studie zum chronischen Erschöpfungssyndrom nach einer COVID-19-Erkrankung wurde im August 2022 im Fachmagazin Nature veröffentlicht.

"Es hat uns nicht überrascht, weil wir schon seit Sommer 2020 erste Berichte gelesen haben, dass eine ganze Reihe von Patienten anhaltend an Fatigue leiden, aber auch an Belastungsintoleranz und kognitiven Störungen. Und das sind Symptome, die wir auch gut von ME/CFS kennen."

Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin

Viele Post-Covid-Betroffene leiden unter ME/CFS

Für ihre Studie hat das Team um Carmen Scheibenbogen 42 Teilnehmende untersucht, 29 Frauen, 13 Männer, alle litten immer noch unter Beschwerden. Bei allen lag die Erstinfektion mit dem SARS-CoV-2-Erreger sechs Monate zurück. Dann wurden die Symptome von Chronischem Fatigue Syndrom erfasst, zum Beispiel "Fatigue", Belastungsintoleranz, kognitive Symptome wie Kopfschmerzen und Muskelschmerzen. Dazu kommen verminderte Kraft, die zum Beispiel über den Händedruck erhoben wird, aber auch auffällige Blutwerte. Die meisten der Teilnehmenden waren durch Post-Covid in ihrem Alltag eingeschränkt.

Das Ergebnis der Studie: 19 der 42 Patientinnen und Patienten konnten nach dem strengen Kanadischen Konsens Kriterien-Modell mit ME/CFS diagnostiziert werden, also fast die Hälfte. Carmen Scheibenbogen nennt das dann "Chronisches Covid-19-Syndrom/CFS". Auch andere Studien deuten darauf hin, dass nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer viele der Post-Covid-Betroffenen die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllen. Daher rechnen Experten in Folge der Covid-19-Pandemie mit einem drastischen Anstieg der Zahl ME/CFS-Betroffener weltweit.

"Wir hatten befürchtet, dass SARS-CoV-2 ME/CFS auslösen kann, weil der SARS-CoV-1-Virus [von 2003, d. A.] das bei sehr vielen Patienten auch ausgelöst hat."

Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin

Post-Covid und ME/CFS: Langzeitstudie von 2023 berichtet über Verlauf

Im August 2023 veröffentlichte die Charité Berlin erstmals eine Langzeitstudie, in der Patienten mit Post Covid und ME/CFS-Symptomen über einen Zeitraum von 20 Monaten beobachtet wurden. Nicht nur eigene Zustandsberichte der Patienten, sondern auch regelmäßig erhobene Gesundheitsdaten wurden dafür berücksichtigt. Dabei zeigte sich: Während sich der Gesundheitszustand bei einem Teil der 106 Probanden mit der Zeit wieder verbesserte, blieben die Symptome und ihre Ausprägung bei einem anderen Teil unverändert. Und zwar auffällig häufig bei denjenigen, die von Beginn an die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllt hatten. Als entscheidender Biomarker für die Schwere des Verlaufs stellte sich die Kraft in den Händen heraus. Bei den Patienten mit anhaltend schlechtem Zustand war sie schon zu Beginn der Erkrankung besonders gering.

Chronisches Fatigue Syndrom: Wenig bekannt und erforscht

Das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist relativ unbekannt, vor allem, weil dazu erst seit wenigen Jahren international geforscht wird und es lange als "psychosomatisch" betrachtet wurde. ME/CFS ist eine schwerwiegende neuroimmunologische Krankheit. Es gibt bisher keine zugelassenen Medikamente, die gezielt gegen ME/CFS wirken. Es können lediglich Symptome wie Infekte, Allergien, Schmerzen und Schlafstörungen behandelt werden.

Auslöser und Symptome von ME/CFS

Eines der Leitsymptome ist eine "Belastungsintoleranz" oder "postexertional malaise". Unter körperlicher oder geistiger Belastung kommen die Symptome zurück oder werden massiv verstärkt. Es kommt zu grippeähnlichen Symptomen, Kopfschmerzen, Herzrasen, leichtem Fieber, Halsschmerzen, aber auch zu Konzentrationsschwierigkeiten, "brain fog" oder einer bleiernen Erschöpfung.

Die Krankheitsmechanismen Post-Covid und ME/CFS

Weil es viele Jahre lang international versäumt wurde, postvirale Syndrome wie ME/CFS zu beforschen, ist bis heute im Detail unklar, wie es sich entwickelt. Dasselbe trifft auch auf Post-Covid zu. Momentan gehen die Forscher von diesen Krankheitsmechanismen aus:

  • Störungen im Gefäßsystem: die Erweiterung der Gefäße ist eingeschränkt, der Blutfluss in das Gehirn ist vermindert, die Verformbarkeit roter Blutkörperchen reduziert. Die Blutplättchen sind überaktiviert und es kommt zu kleinsten Blutgerinnseln, die zu Durchblutungsstörungen der kleinen Gefäße führen.
  • Eingeschränkter Energiestoffwechsel, der die Sauerstoffversorgung reduziert.
  • Durch die Viruserkrankung entstehen spezielle Autoantikörper, die das Nervenssystem angreifen.

Post-Covid und ME/CFS: Auswirkungen auf den Körper

Der starke Energieverlust bei Post-Covid und ME/CFS hat auch Auswirkungen auf zahlreiche Systeme im Körper wie Blutdruck, Organe und das autonome Nervensystem. So können viele Betroffene ihren Blutdruck nicht mehr regulieren, wenn sie zum Beispiel vom Sitzen ins Stehen kommen.

ME/CFS reduziert die Lebensqualität stark

Alltägliche Verrichtungen wie Duschen, Kochen oder einer leichten Arbeit nachgehen werden für einige Betroffene unmöglich. Sie verbringen ihre Tage im Liegen, in einer reizarmen Umgebung (zum Beispiel im Dunkeln). Viele ME/CFS-Patienten sind dauerhaft ans Haus gebunden, können ihren Beruf nicht mehr ausüben oder zur Schule gehen, sie sind sozial isoliert und "verschwinden" aus der Gesellschaft. Einige Patienten sind von künstlicher Ernährung abhängig und auf Pflege angewiesen.

Kaum Experten für ME/CFS in Deutschland

Die Versorgungslage für Patientinnen und Patienten mit Chronischer Fatigue ist schlecht, im ganzen Bundesgebiet gibt es nur eine einzige Spezialambulanz für Erwachsene, an der Charité in Berlin, die Immundefektambulanz. In München führt die Technische Universität eine Ambulanz speziell für von ME/CFS-betroffene Kinder und Jugendliche. Viele Erkrankte sind auf sich allein gestellt und es ist dem Zufall überlassen, ob sie an einen Arzt geraten, der sich mit dem Krankheitsbild auskennen.

"Viele sind nicht vertraut mit der Diagnose ME/CFS. Deswegen tun sich momentan auch viele schwer, diese Patienten richtig einzuordnen."

Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin

Diagnose von ME/CFS und Long Covid

Dabei ist eine gute Diagnostik sehr wichtig. Erschöpfung allein kann zum Beispiel auch durch eine Herzmuskelentzündung verursacht werden. All das muss vor der Diagnose "Chronisches Covid-19-Syndrom/CFS" oder ME/CFS genau abgeklärt werden. Es gibt keinen Test auf ME/CFS, Ärztinnen und Ärzte können das Syndrom nur anhand von klinischen Kriterien feststellen. Dabei haben sich unter anderem die "Kanadischen Konsenskriterien" (CCC) etabliert. Die Ausheilung der Covid-19-Erkrankung kann länger dauern als man das annehmen würde, so Carmen Scheibenbogen.

"Wenn man merkt, dass man diese Belastungsintoleranz hat, dann soll man das auch berücksichtigen. Das heißt, dann soll man eben im Moment keinen Sport machen, dann soll man auch körperliche Überlastung vermeiden. Vielleicht auch nur im Homeoffice oder auch nur noch Teilzeit arbeiten. Aber bei den allermeisten kommt es nach einigen Wochen und Monaten dann auch zur Ruhe."

Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin

Falsche Behandlung von ME/CFS kann schwere Folgen haben

Das bedeutet für die Betroffenen, sie werden entweder gar nicht behandelt oder falsch, mit schwerwiegenden Folgen. Vielen zum Beispiel wird geraten, Sport zu treiben, eine Aktivität, die grundsätzlich bei vielen chronischen Krankheiten sinnvoll sein kann. Gerade die Belastungsintoleranz führt aber dazu, dass man mit kleinen Aktivitäten seine Energiereserven verbraucht und es zu einem Zusammenbruch kommt, der Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre andauern kann.

Die beiden Expertinnen Professorin Scheibenbogen von der Charité Berlin und Professorin Behrends von der TU München haben unter anderem auch das Kapitel zu ME/CFS in der aktuellen Fassung der S3-Leitlinie "Müdigkeit" der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin bearbeitet. Es enthält Empfehlungen für die Versorgung der Patienten in der allgemeinmedizinischen Praxis. Zum Beispiel sollten aktivierende Maßnahmen in der Behandlung nicht angewendet werden.

"Wir empfehlen den jungen Patientinnen und Patienten ein symptomorientiertes, multimodales, interdisziplinäres und intersektorales Behandlungskonzept. Zudem raten wir zu einem konsequentes Selbstmanagement mit Entspannungsübungen und sogenanntem 'Pacing'. Dabei geht es darum, mit den eigenen Energiereserven Schritt zu halten und so den Chrash nach Belastung zu vermeiden."

Professorin Uta Behrends, TU München

Immerhin ist in der Gesellschaft mittlerweile ein Bewusstsein für diese spezielle Langzeitfolge von Covid-19 entstanden. Betroffene sind im Internet erstaunlich gut vernetzt und binden auch zunehmend die ME/CFS-Community mit ein, die schon seit Jahrzehnten um Anerkennung und adäquate Behandlung kämpft. Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) hat im Februar 2021 damit begonnen, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu ME/CFS zu erheben.

Erforschung von ME/CFS in Deutschland

Auf Druck von Patientenorganisationen und einer erfolgreichen Petition hat die Ampelregierung das Thema ME/CFS mit in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen, das erste Mal in der Geschichte Deutschlands. Es soll für die Versorgung der Langzeitfolgen von Covid-19 sowie für ME/CFS ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen geschaffen werden.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert aktuell ein interdisziplinäres Team unter der Leitung der Charité Berlin mit rund zwei Millionen Euro, das die Ursachen und Krankheitsmechanismen von ME/CFS erforschen soll. Außerdem hat das BMBF der Charité Berlin rückwirkend zum 1. Oktober 2022 rund zehn Millionen Euro für die Therapieforschung im Rahmen einer Nationalen Klinischen Studiengruppe zur Verfügung gestellt, um klinische Studien mit Arzneimitteln zur Behandlung von PCS und ME/CFS durchzuführen. Die Forschungen haben bereits begonnen. Darüber hinaus werden ein ME/CFS-Register und eine Biobank aufgebaut, geleitet von der TU München. An der Uni Erlangen soll in weiteren Studien erforscht werden, ob das experimentelle Medikament BC 007 bei Post Covid und ME/CFS helfen kann.

Post-Vakzin-Syndrom: ME/CFS ähnliche Symptome nach Impfung

Rätsel gibt den Forschenden auch das sogenannte Post-Vakzin-Syndrom (Post-Vac-Syndrom) auf. Es ist schon länger bekannt, dass durch Impfungen, zum Beispiel die Grippeimpfung, in seltenen Fällen lang anhaltenden Beschwerden auftreten können, dessen Symptome ME/CFS sehr ähneln oder die wir heute auch als Long Covid-Symptome kennen. Das Post-Vac-Syndrom kann in seltenen Fällen auch nach einer Covid-19 Impfung auftreten. Die Bundesregierung spricht von 943 Verdachtsfällen zum Post-Vac-Syndrom nach einer Covid-19-Impfung, die bis zum 31. Oktober 2022 registriert wurden. Im Vergleich dazu wurden bis zum 8. April 2023 in Deutschland 192,2 Mio. Impfdosen eines Covid-19-Impfstoffes verabreicht, rund 63, 6 Mio. Menschen damit immunisiert.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bewertet regelmäßig Verdachtsfälle zu Nebenwirkungen bei Covid-19-Impstoffen in seinen Sicherheitsberichten. Hier könnt ihr auch Nebenwirkungen nach einer Covid-19-Impfung melden. Das Post-Vac-Syndrom sowie die Ursache für die Entstehung des Erkrankungsbildes ist bisher kaum erforscht und es gibt bisher auch noch keine offizielle Definition – und keine Einigkeit, was darunter genau zu verstehen ist. Das macht die Erfassung kompliziert. Weitere Untersuchungen und Studien sind nötig. Als Anlaufstelle für Patienten mit Verdacht auf das Post-Vac-Syndrom gibt es die Spezialambulanz am Universitätsklinikum Marburg. In Bayern ist eine Post-Vac-Hotline eingerichtet worden. Sie richtet sich an Menschen, die nach einer Corona-Impfung mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen haben und soll Betroffenen Informationen liefern.

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